Wie sieht es eigentlich mit der Kinderarmut in Deutschland aus? Wir haben einen Experten befragt.

Michael Klundt ist Professor für Kinderpolitik im Fachbereich Angewandte Humanwissenschaften an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Kinderarmut und Kinderreichtum, aber auch Kinder-, Jugend-, Familien- und Sozialpolitik. Im Interview erläutert er Ursachen, Bedingungsfaktoren, Folgen und Hoffnungen in Bezug auf Kinderarmut in Deutschland.

"Die tieferliegende Ursachen von Armut liegen in strukturellen Problemen"

Herr Klundt, knapp 2,1 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren waren in Deutschland im Jahr 2023 armutsgefährdet. Was ist denn die Hauptursache für Kinderarmut in Deutschland?

Michael Klundt: Wenn man viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu befragt, hört man oft, dass die Hauptursachen für Kinderarmut bei Faktoren wie alleinerziehenden Eltern, fehlender Erwerbszugang, ein Migrationshintergrund oder einer großen Zahl an Geschwistern liegen. Ich sehe diese jedoch eher als Risiken oder sogar als Anlässe, denn sie sind nicht die eigentlichen Ursachen von Kinderarmut. Es ist wichtig zu betonen, dass man auch von den oben genannten Faktoren betroffen sein kann, ohne zwangsläufig in Armut zu leben. 

Der eigentliche Punkt ist, dass es tieferliegende Ursachen von Armut gibt, die in strukturellen Problemen liegen – insbesondere im Familien- und Sozialsystem sowie im Steuersystem. Es geht um Arbeitsmarktpolitik, das Existenzminimum, Familienleistungen und prekäre Arbeit im Niedriglohnsektor. Diese zugrunde liegenden Faktoren werden oft übersehen, wenn man die Ursachen von Kinderarmut lediglich auf individuelle Merkmale reduziert.

Was heißt denn Kinderarmut eigentlich konkret? Was ist damit gemeint?

Zunächst einmal muss man den Begriff "Kinderarmut" konkretisieren. Wir sprechen nicht von Kinderarmut im Mittelalter, kurz vor der Französischen Revolution oder nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern von Kinderarmut im Deutschland des Jahres 2024 – einem der reichsten Staaten der Welt. In diesem Kontext muss man auch die Kinderarmut entsprechend einordnen. Was früher vielleicht noch Luxus war – ein Kühlschrank, Stifte oder ein Smartphone – sind heute für die meisten selbstverständlich und gehören zur Grundausstattung. Diese Dinge sind Teil des Existenzminimums, wie wir es heute verstehen.

Daher müssen wir uns zunächst anschauen, wie die Benachteiligung konkret aussieht. Beispielsweise im Hinblick auf das Einkommen – insbesondere im Vergleich zum mittleren Einkommen eines Landes. In der Forschung wird dies oft als "60 Prozent des Median-Einkommens" bezeichnet. Das bedeutet, dass ein Haushalt als arm gilt, wenn sein Einkommen unterhalb dieses Schwellenwerts liegt. Gleichzeitig ist es wichtig, bei der Analyse von Kinderarmut auch die sozialen Netzwerke, Bildungsbeteiligung, Gesundheitsversorgung und Wohnsituation zu berücksichtigen – also Faktoren wie Freizeitmöglichkeiten und kulturelle Aktivitäten.

"Auch wenn Kinder dieselbe Leistung erbringen, wird ihre weiterführende Schulbildung oft von der sozialen Herkunft beeinflusst"

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Unsere Bildungsstudien zeigen, dass Kinder, die unter sehr unterschiedlichen Bedingungen aufwachsen – eines aus einem benachteiligten Haushalt und das andere aus einem, das umfassende Fördermöglichkeiten bietet – trotz gleicher Leistungen in der Grundschule in der Regel nach ihrer sozialen Herkunft bewertet werden. Auch wenn sie dieselbe Leistung erbringen, wird ihre weiterführende Schulbildung oft von der sozialen Herkunft beeinflusst.

Man kann diese Problematik noch weiter konkretisieren, indem man etwa die Entwicklungsdefizite im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie untersucht. In Bereichen wie Sprachentwicklung, kognitive Fähigkeiten, soziale Kompetenzen sowie fein- und grobmotorische Fähigkeiten haben alle Kinder erhebliche Rückschritte gemacht. Kinder in Armut haben jedoch noch stärkere Einschränkungen erlitten. Diese Defizite spiegeln sich auch in Bildungsstudien wider, wie etwa in den IQB-Studien für Grundschüler oder der PISA-Studie. Leider wird bei diesen Untersuchungen oft nicht genug hinterfragt, woher diese Unterschiede tatsächlich kommen.

Wie genau beeinflusst Armut den Alltag und das soziale Umfeld von Kindern?

Erheblich. Wenn ein Kind zu Hause eine starke Förderung erfährt, kann es sein, dass es weniger auf externe soziale Netzwerke angewiesen ist. Fehlt diese Förderung jedoch, sind genau diese Netzwerke besonders wichtig – vor allem für benachteiligte Kinder. In solchen Fällen spielen die Förderung in der Kita, in der Schule, im Sportverein, in der Kirche oder in Musikgruppen eine entscheidende Rolle.

"Wenn Fördermaßnahmen fehlen, werden bestehende Benachteiligungen verstärkt"

Inwiefern?

Für Kinder aus sozial schwächeren Verhältnissen sind diese sozialen Netzwerke oft kleiner, aber sie bieten eine wichtige Unterstützung. Wenn diese Ressourcen, die grundsätzlich in jedem Kind vorhanden sind, durch gezielte Maßnahmen, etwa in der Jugendarbeit, Jugendhilfe, Jugendclubs oder auch in Schulen und Kitas, gefördert werden, können auch benachteiligte Kinder ihre Potenziale besser ausschöpfen. Wenn diese Fördermaßnahmen jedoch fehlen, werden die bestehenden Benachteiligungen verstärkt, was die Bildungsungleichheit und soziale Ungleichheit weiter vertieft.

Wie wirkt sich Armut auf die psychische Gesundheit von Kindern aus und was hat das zur Folge?

Wie bereits angedeutet, sind psychosoziale Faktoren, insbesondere im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, besonders deutlich sichtbar geworden. Viele Kinder haben eine Verschlechterung ihrer gesundheitsbezogenen Lebensqualität erfahren, die sich in steigenden Angstsymptomen, einer verringerten Lebensqualität und vermehrten psychischen Auffälligkeiten äußerte. Wenn man sich die verschiedenen Forschungsstudien ansieht, einschließlich der Berichte der Bundesministerien für Gesundheit und für Familie sowie des Expertenrats der Bundesregierung, zeigt sich deutlich, dass vor allem Kinder, die von Armut betroffen sind, noch stärker und intensiver unter diesen Auswirkungen leiden.

Warum ist das so? 

Das lässt sich relativ einfach erklären: Kinder aus armutsbetroffenen Haushalten hatten nicht die gleichen Möglichkeiten wie Kinder aus wohlhabenderen Familien, die erfahrenen Einschränkungen zu kompensieren. Während viele wohlhabende Kinder Zugang zu zusätzlicher privater Förderung oder Aktivitäten wie Sport und Spiel im heimischen Umfeld hatten, die geistige und körperliche Anreize boten, erlebten arme Kinder diese Zeit eher als Isolation und Einschränkung. Alle Kinder trugen psychosoziale Folgen davon, aber besonders die Kinder in Armut litten in vielfacher Hinsicht stärker. Die Bundesfamilienministerin stellte im letzten Jahr fest, dass mehr als 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen noch immer unter den Folgen der Pandemie litten.

Woran leiden sie konkret?

Berichte der Krankenkassen zeigen, dass bei Mädchen vermehrt Essstörungen, Depressionen und Angststörungen diagnostiziert wurden, während bei Jungen häufig Adipositas festgestellt wurde. Diese Entwicklungen traten umso stärker auf, je niedriger der sozioökonomische Status war, was wiederum bedeutet, dass Kinder aus ärmeren Familien besonders stark betroffen waren. Je höher der soziale Status, desto geringer waren diese Probleme.

"Diese Entwicklungen sollten uns sehr zu denken geben"

Das klingt drastisch. Ist wenigstens Besserung in Sicht?

Besonders besorgniserregend ist, dass die neuesten Jugendstudien keine Entspannung zeigen. Im Gegenteil, sie belegen eine Zunahme von Stress, Erschöpfung, Selbstzweifeln, Hilflosigkeit und sogar Suizidgedanken unter Jugendlichen im Alter von 14 bis 29 Jahren seit 2022, wie die Studie "Jugend in Deutschland 2024" zeigt. Diese Entwicklungen sollten uns sehr zu denken geben. Alle Studien verdeutlichen, dass Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Verhältnissen nach wie vor am stärksten von diesen Belastungen betroffen sind, was langfristig gravierende Konsequenzen für ihr Wohlbefinden hat.

Was muss getan werden, um Kinderarmut vorzubeugen und Kinder und ihre Familien auch im Hinblick auf psychische Gesundheit zu unterstützen?

Die Frage, was getan werden muss, um Kinderarmut zu verringern und wie Kinder sowie ihre Familien, insbesondere im Hinblick auf psychische Gesundheit, besser unterstützt werden können, ist von großer Bedeutung. Hierfür ist ein umfassendes Konzept nötig, das verschiedene Maßnahmen miteinander kombiniert. 

Ein wichtiger Schritt ist, die Kinderrechte stärker in den Fokus zu rücken, insbesondere das Recht auf Schutz, Förderung und Beteiligung. Diese Rechte wurden in den letzten Jahren stark eingeschränkt und sollten nun wieder gestärkt werden. Ein Ansatz könnte beispielsweise ein Kindergipfel sein, der dazu beiträgt, die Wahrnehmung von Kindern und Jugendlichen zu erhöhen und ihre eigenen Vorschläge in die politische Diskussion einzubeziehen.

Und womit müsste man anfangen?

Zudem müssen Maßnahmen zur sozialen Absicherung verbessert werden. Dazu gehört, dass wichtige Leistungen wie kulturelle Angebote oder das Mittagessen in Kitas und Schulen kostenlos oder zumindest gebührenfrei angeboten werden. Auch die Lernmittelfreiheit sollte weiterhin gewährleistet sein. Familien, die besonders unter den Folgen der letzten Jahre gelitten haben, müssen gezielt unterstützt und die soziale Infrastruktur, etwa durch Jugendhilfe oder offene Angebote, gestärkt werden – vor allem in den Wohngebieten. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Notwendigkeit eines gerechteren Systems von Familienleistungen. Trotz des Bürgergeldes muss das System der Grundsicherung bedarfsorientiert angepasst werden, um eine gerechtere Verteilung zu gewährleisten. Der Kinderzuschlag und das Bildungs- und Teilhabepaket sind derzeit noch unzureichend und müssen verbessert werden.

Ein zentraler Vorschlag ist die Einführung einer Kindergrundsicherung, die in Verbindung mit notwendigen Infrastrukturmaßnahmen umgesetzt werden sollte. Der Bundeskanzler hatte dies bereits im vergangenen Jahr versprochen, doch mit dem Ende der aktuellen Regierung bleibt fraglich, ob diese Zusage noch realisiert wird. Es ist klar, dass zur Bekämpfung von Kinderarmut mehrere Faktoren berücksichtigt, werden müssen: armutsfeste Mindestlöhne, Stärkung der Infrastruktur, bessere Förderung von Familien und Kindern, kostenfreies Mittagessen, Lehrmittelfreiheit sowie die Reduktion von Bürokratie. 

Wichtig ist auch, dass Maßnahmen zur Armutsbekämpfung nicht nur die sozialen Leistungen betreffen, sondern auch den Umgang mit dem enorm gewachsenen Reichtum in der Gesellschaft. 

"Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss auch die Frage der Verteilung des Wohlstands aufwerfen"

Was meinen Sie damit konkret?

Wer Kinderarmut bekämpfen will, muss auch die Frage der Verteilung des Wohlstands aufwerfen und einen Teil des gestiegenen Reichtums umverteilen. Dazu könnten Mechanismen wie die Vermögensteuer und Erbschaftssteuern beitragen, die stärker auf die wohlhabendsten Teile der Gesellschaft ausgerichtet werden sollten, damit diese sich stärker am Gemeinwohl beteiligen können und die Gesellschaft nicht weiter gespalten wird.

Lagois-Fotowettbewerb 2025: Was macht uns reich?

Weltweit nimmt die ungleiche Vermögensverteilung zu. Die oberen zehn Prozent der Bevölkerung besitzen etwa 85 Prozent des Vermögens - Tendenz steigend. Die Ärmeren hingegen besitzen zusammen nur etwa ein Prozent des Vermögens. Auch in Deutschland werden die Reichsten immer reicher - hier wuchs das Gesamtvermögen der fünf reichsten Deutschen 2024 auf rund 155 Milliarden US-Dollar an. Wie können wir die Kluft zwischen Arm und Reich überwinden? Was bedeutet denn Reichtum überhaupt für uns Menschen?

Der Lagois-Fotowettbewerb 2025 widmet sich dem Thema Reichtum und der Frage, wie wir gesellschaftliche Teilhabe und Verteilungsgerechtigkeit erreichen können. Gesucht werden Fotoreportagen und Porträts von Menschen, die sich dafür einsetzen, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu verringern. Gesucht werden aber auch Arbeiten, die sich damit beschäftigen, was Reichtum noch bedeuten kann - auf persönlicher, kultureller oder gesellschaftlicher Ebene. Wie sind Wohlstand und Glück, Überfluss und Gier mit Reichtum verbunden? Welche anderen, neuen Form von Reichtum sollten wir in den Blick nehmen?

Alle Infos zum Wettbewerb unter diesem Link.

Unser Dossier mit Artikeln, Interviews, Hintergrundinformationen zum Thema Armut & Reichtum unter diesem Link.

Teilnahme

Der Wettbewerb verleiht drei Preise: einen Fotopreis für Erwachsene & Profis, einen Fotopreis für Jugendliche und ein Fotografie Stipendium. Alle Einreichungen werden gesammelt über den unten stehenden Link abgegeben. 

Fotoprojekt hier einreichen und am Wettbewerb teilnehmen

Einsendeschluss Fotografie Stipendium: 15. Februar 2025

Einsendeschluss Fotopreise: 15. April 2025

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heibeer am So, 08.12.2024 - 13:06 Link

Es ist schön, dass auf diesem Gebiet endlich einmal geforscht wird, nur wird diesem Problem keine Abhilfe geschaffen. Selbst habe ich das am eigenen Leib erfahren. Aufgewachsen in einem heute genannten sozialen Brennpunkt in Bremerhaven. Den Weg aufs Gymnasium habe ich durch gute Lehrer auf der Grundschule geschafft in den 1970 Jahren. Danach ging der Kampf erst richtig los. Von kleinbürgerlichen Mitschüler ausgegrenzt und gemobbt, von Gymnasiallehrern wurde mir klargemacht, dass so jemand wie ich nicht aufs Gymnasium gehört usw. . Ein harter Kampf, die gymnasiale Oberstufe machte es mir dann leichter, zufälligerweise wurde ich einer progressiven, linken Schule zugeteilt, mit guten engagierten Lehrern. Abitur geschafft, trotz aller möglichen Hindernisse. Später im Studium holten mich die Defizite aufgrund meiner Herkunft wieder ein. Dieser Habitus an der Uni war mir fremd.
Der Minderwertigkeitskomplex hält bis heute an, obwohl ich meinen Weg bestmöglich gegangen bin.
Heute macht mich die derzeitige Situation einfach nur traurig. Ich sehe in der Gesellschaft und in der Politik keinen Willen, Kindern aus sozial schwachen Familien hier eine schöne und gute Zukunft zu ermöglichen, obwohl wir in einem der reichsten Länder der Welt wohnen. Das wird sich wohl nie ändern.