"Es geht darum, die Wunden in dieser Gesellschaft offen zu halten"

Die Corona-Maßnahmen sind fast alle aufgehoben. Es gibt aber nach wie vor "Querdenker"-Veranstaltungen. Wie begründen die das?

Matthias Pöhlmann: Corona ist nicht mehr das Hauptthema, aber es sind neue Themen hinzugekommen. Das ist der Ukraine-Krieg, die Energiekrise, Inflation und allgemein soziale Ängste, die im Hintergrund stehen. Sie greifen alle Themen, die die Menschen beschäftigen, alle Ängste und Befürchtungen auf. Es geht darum, die Wunden in dieser Gesellschaft offen zu halten, um Menschen für das eigene Anliegen anzusprechen. Das starke Misstrauen gegenüber der Regierung, gegenüber den Repräsentantinnen und Repräsentanten, soll entsprechend forciert werden.

Wen zieht das denn an?

Zum einen Verschwörungsgläubige, die sagen, dahinter läuft eine eigene Agenda ab. Ganz großes Stichwort ist der "Great Reset". Zum anderen gibt es ganz normale Menschen, die nicht so einen ideologischen Überbau haben, die aber die einzige Möglichkeit, ihren Unmut zu äußern, darin sehen, sich da an solchen Demonstrationen zu beteiligen. Oftmals wissen sie gar nicht, mit wem sie da zusammenlaufen oder sie wollen es nicht sehen. Das ist auch ein Problem.

"Daniele Ganser, der immer als Historiker und Friedensforscher vorgestellt wird, ist  eine wichtige Galionsfigur verschwörungsideologischer und rechtsesoterischer Akteure."

Trägt der Ukraine-Krieg viel dazu bei, auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft anzusprechen?

So ist es. Viele Menschen haben Angst, ob sich dieser Krieg ausweitet. Wir haben ja im Moment eine Diskussion darüber, welcher Weg eigentlich zielführender ist: Mehr Waffenlieferungen oder eher die pazifistische Deutung? Und vor diesem Hintergrund gibt es natürlich Demonstrationen, die sagen: Schluss! Was hat der Krieg mit uns zu tun? Wir möchten jetzt Frieden haben. Die immensen Opfer, die die Ukrainer und Ukrainerinnen erleiden müssen, blenden sie aus. Und es gibt auch einzelne Akteure, die das befeuern. Daniele Ganser etwa, der immer als Historiker und Friedensforscher vorgestellt wird, der eine wichtige Galionsfigur verschwörungsideologischer und rechtsesoterischer Akteure ist.

Ganser wirkt auf den ersten Blick seriöser als viele andere, ist das sein Erfolgsgeheimnis?

Er ist für viele der Gewährsmann, der eine alternative Deutung vornimmt, der angeblich hinter die Kulissen geblickt hat und das durchschaut. Da wird natürlich viel auf ihn projiziert, diese tiefe Friedenssehnsucht. Diese ist ja auch verständlich – man darf aber die ukrainischen Opfer nicht aus dem Blick verlieren.

Zur Person: Matthias Pöhlmann

Matthias Pöhlmann, Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sowie Lehrbeauftragter für Religionswissenschaft und Religionsgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Publikation: Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen, Freiburg/Br. 2021.

Weitere Infos hierzu im Internet: www.rechte-esoterik.de.

Abgesehen von Ganser – sehen wir auf den jetzigen Demos die gleichen Akteure wie zu Corona-Zeiten?

Die Promis der Querdenkerszene sind teilweise verschwunden und ins Ausland abgewandert, wenn ich da an Bodo Schiffmann denke, der ist in Tansania. Oliver Janich war auf den Philippinen. Er wurde ja kurzzeitig auch verhaftet, ist jetzt nach meinen Informationen aber wieder frei. Michael Ballweg sitzt in Deutschland noch in Untersuchungshaft, und dann gibt es natürlich noch Atilla Hildmann in der Türkei. Andere Akteure tauchen plötzlich wieder in neuen Zusammenhängen auf, also zum Beispiel Markus Haintz, dieser Rechtsanwalt, der auch auf Querdenker-Bühnen war. Er hatte sich mit Ballweg überworfen. Jetzt filmt er als angeblicher Journalist von diesen Demos.

"Die moderne Esoterik  hat ein ganz spezielles Sensorium für Krisenlagen entwickelt  , gesellschaftlich wie individuell."

Diese Leute scheinen sich immer ganz gut an die jeweilige Themenlage anzupassen.

In der Tat. Ich sage immer, dass gerade die moderne Esoterik ein ganz spezielles Sensorium für Krisenlagen entwickelt hat, gesellschaftlich wie individuell. Sie ist sehr marktkonform ausgerichtet, das heißt bedürfnisorientiert. Ich beschäftige mich hauptberuflich seit 1999 damit, und es ist ihr immer gelungen, relevante gesellschaftsrelevante Themen zu besetzen: Beim Thema Heilung, beim Thema Ernährung, vielleicht erinnern sie sich: Lichtnahrung, Prana. Dann tauchte um die Jahrtausendwende plötzlich ein neues Zauberwort auf: Indigo-Kinder –  Kinder mit einer indigoblauen Aura, von der fachärztlichen Seite wurde ADHS diagnostiziert. Nach esoterischer Deutung waren es in Wahrheit Künder eines neuen Zeitalters. Das zieht sich bis heute durch bei etlichen Esoterikern und Verschwörungstheorien, dass man die politische Perspektive entwickelt hat und versucht, die aktuellen Geschehnisse durch die esoterische Brille zu deuten, kombiniert mit Verschwörungstheorien.

Wie hängen denn Esoterik und Verschwörungstheorien genau zusammen?

Das ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass die ein Zwillingspaar bilden. Esoterik spielt in unserer Gesellschaft eine große Rose Rolle. Es ist ein Wirtschaftsfaktor, sie ist ein Alltagsphänomen. Der Schritt zu Verschwörungstheorien ist nicht weit, weil man eben davon ausgeht, irgendwie hängt mit allem zusammen. Es gibt keinen Zufall, alles wird erklärbar, was sich hier ereignet. Auch der elitäre Anspruch des Wissens, eines Über-Wissens, das sich gegen die Rationalität der Wissenschaften wendet und nur sehr sensiblen Menschen offensteht, verbindet beide.

"Krisenzeiten sind immer der ideale Nährboden für das Entstehen von Verschwörungstheorien."

Wo sehen Sie bei all dem, was sich da zusammenbraut, die größte Gefahr für unsere Gesellschaft?

In der Politikverdrossenheit und dem Misstrauen. Im Zusammenhang mit den Querdenker-Demos haben die Wissenschaftler von einer bunten Misstrauensgemeinschaft gesprochen. Wir wissen nicht, welche Krisensituationen noch auf uns zukommen. Aber Krisenzeiten sind immer der ideale Nährboden für das Entstehen von Verschwörungstheorien und für die Pflege von bestimmten Feindbildern. Das ist ja das Grundproblem von Verschwörungstheorien, dass sie Opfer fordern, weil sie stets einen Sündenbock konstruieren.

Täuscht der Eindruck, dass Verschwörungserzählungen in den letzten Jahren massiv zugenommen haben?

Etliche Forscher sagen, nein, sie haben während der Corona-Pandemie zahlenmäßig nicht zugenommen, aber sie waren medial stärker präsent und haben eine viel stärkere existenzielle Wucht entwickelt. Wenn ich vor zehn Jahren Vorträge über Verschwörungstheorien gehalten habe, war das Staunen und das Schmunzeln im Publikum sehr groß. Aber während der Pandemie und danach gab's immer wieder jemand, der dann aufstand und sagte, ich habe dieses Problem im eigenen Verwandten- oder Familienkreis, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.

Was schlagen Sie für den Umgang mit Verschwörungsgläubigen vor?

Was das Problem ist, dass wir noch kein Format gefunden haben, wie man mit diesen Menschen sprechen kann. Runde Tische haben zu keinem positiven Ergebnis geführt. Meistens funktioniert es nur im persönlichen Gespräch, wenn keine Öffentlichkeit da ist, und wenn man nicht versucht, Verschwörungstheorien zu widerlegen, sondern eher nach dem dahinterliegenden Motiv fragt: Welches Lebensthema spielt da eventuell eine Rolle? Eine Frau, die lange in selbst einer verschwörungsideologischen Gruppe gewesen ist, hat mir mal geraten, positive lokale Projekte anzustoßen und Verschwörungsgläubige so sinnvoll einzubinden. Man muss natürlich vorab genau abklären, dass man nicht wieder über Chemtrails oder eine andere Verschwörungstheorie diskutiert, sondern sagt, wir wollen etwas Positives bewirken. Ihr wollt doch eigentlich auch eine gute, funktionierende Gesellschaft haben.

"Wir leben auf einem Großmarkt der Wahrheiten."

Verschwörungstheorien haben also nicht unbedingt zugenommen – aber kann man sagen, dass sie weiter in den Mainstream hineinreichen?

Offensichtlich ja, und das hängt, denke ich, auch mit der Pandemie zusammen, weil diese zu einem absoluten Kontrollverlust geführt hat. Etliche Menschen hatten dann plötzlich Zeit. Man saß zu Hause, und viele erzählen mir, dass sie angefangen haben, zu recherchieren, und meistens natürlich auf den falschen Kanälen. Wir leben auf einem Großmarkt der Wahrheiten, das heißt, da kann jeder viel behaupten und findet seine Zuhörerinnen und Zuhörer. In der Vergangenheit war es so, dass man im Umfeld oder in dörflichen Strukturen schon wusste, da gibt's einen am Stammtisch, der redet ein bisschen komisch daher. Aber jetzt haben wir eine Vielfalt an sozialen Medien, wo man das in die Welt hinausposaunen kann. Die Komplexität dieser Welt ist für manche Menschen eine unheimliche Zumutung, und da entsteht manchmal diese Sehnsucht nach einfachen Antworten, das wirkt dann sehr attraktiv. Aber die Welt ist kompliziert, und man muss sie in ihrer ganzen Ambivalenz aushalten können. Man muss eine gewisse Ambiguitätstoleranz, wie es so schön heißt, entwickeln.

Besteht eigentlich die Gefahr, dass durch Aufklärung über obskure Bewegungen diese überhaupt bekannt werden?

Ja, das wurde auch schon von Kommunikationswissenschaften kritisiert, dass die Verschwörungstheorien durch intensive Berichterstattung zu viel Aufmerksamkeit bekommen haben und damit möglicherweise für manche auch attraktiv erscheinen können. Ich denke, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Man muss eben auch beschreiben, was ist. Man muss aufklären und vor allem auch schauen, wohin Verschwörungstheorien führen können. Wir wissen ja, dass es auch Mordfälle gegeben hat, motiviert durch Verschwörungsglauben. Wenn man überall die Feinde wittert, dann führt das dazu, dass die Hemmschwelle sinkt, dass man Gewalt irgendwann als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele betrachtet.

"Natürlich darf Wissenschaft nie absolut gesetzt werden, es braucht immer eine gute Balance."

Verschwörungsmythen haben oft beinahe religiöse Züge. Ist das auch eine besondere Herausforderung für die Landeskirche?

Absolut. Ich sage von mir, ich bin ein gläubiger Realist, und es ist wichtig, die Maxime des Apostels Paulus mit einzubeziehen: "Prüfet alles und behaltet das Gute." Das heißt, wir dürfen den Verstand einsetzen als gute Gabe Gottes, und ich denke, wir sind auch der Aufklärung verpflichtet. Natürlich darf Wissenschaft nie absolut gesetzt werden, es braucht immer eine gute Balance.

Was heißt das konkret?

In dem Moment, wenn Wissenschaft alle Lebensbereiche erklären will, ist es übergriffig, genauso, wie wenn Religion sich anmaßen würde, alle naturwissenschaftlichen Dinge erklären zu wollen. Da wäre man schnell beim Kreationismus. Ich denke auch, dass es wichtig ist, dass wir einen guten Umgang mit evidenzbasierter Medizin pflegen. Es geht sehr schnell, dass auf die sogenannte Schulmedizin geschimpft wird – ein unmöglicher Begriff, der im Nationalsozialismus verwendet wurde, um eben die nach Meinung der Nazis von den Juden dominierten Medizin in ihrem Anspruch zurückzudrängen.

"Verschwörungstheorien sind ein negativer Glaube."

Ist Verschwörungsglaube wie eine neue Religion?

Dagegen würde ich einwenden, dass Verschwörungstheorien die Theodizee-Frage, also warum lässt Gott Leid zu, säkularisieren. Sie kommen letztendlich ohne Gott aus. Verschwörungstheorien sind ein negativer Glaube, und der christliche Glaube ist etwas Positives. Der lebt ganz stark vom Vertrauen. Glaube heißt Vertrauen setzen in einen Gott, der den Menschen in seiner Begrenztheit und in seiner Liebenswürdigkeit annimmt. Und das ist der große Unterschied gegenüber Verschwörungstheorien.

Wie sollte ich mit Freunden oder Verwandten umgehen, die anfangen, an Verschwörungstheorien zu glauben?

Ich rate immer: Versuchen Sie, Kontakt zu halten, so weit wie möglich. Aber versuchen Sie, sich auch mal eine Auszeit zu gönnen, drei oder vier Wochen, schauen Sie mal, wo sie wieder Kraftquellen herbekommen. Manche sind ganz erleichtert, dass sie das dürfen. Sagen Sie das auch dem Gegenüber, dass Sie jetzt einfach mal eine Auszeit brauchen, und achten sie auch darauf, dass sie den Humor nicht verlieren. Das heißt nicht, den anderen lächerlich zu machen und zu diskreditieren. Markieren Sie eine rote Linie, wenn antisemitisches oder menschenverachtendes Gedankengut geäußert wird. Jedes Schweigen hierzu würde als Zustimmung gedeutet. Versuche, Verschwörungstheorien widerlegen zu wollen, helfen nicht weiter. Sinnvoller scheint es, beim Gegenüber nach dem jeweils dahinter liegenden Motiv zu fragen. Ein möglicher Weg wäre: Ich möchte Dir Deine Meinung nicht wegnehmen, aber mich interessiert, warum Dir das so wichtig ist. Kein Mensch sollte verloren gegeben werden.

Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen

Matthias Pöhlmann

Sie sind auf den "Querdenken"-Demonstrationen zu finden und überfluten mit ihren Botschaften die sozialen Netzwerke. Sie haben ihre eigenen Kirchen, ihre eigenen Bauernhöfe und ihre eigene "Germanische Neue Medizin". Von der Anastasia-Bewegung bis zu QAnon: Rechte Esoteriker gewinnen immer mehr Zulauf. Nicht nur in Deutschland. Der Weltanschauungsexperte Matthias Pöhlmann, exzellenter Kenner der Szene, nennt die historischen Wurzeln und zeigt: Was auf den ersten Blick als harmlose Spinnerei erscheint, birgt immensen gesellschaftlichen Sprengstoff.

Verlag: Herder

Seitenzahl: 303

ISBN: 978-3451390678

Jetzt bestellen über den sozialen Buchhandel: Buch 7

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