Hexen kennen die meisten aus Märchen – als alte, düstere Gestalten. Doch auf Instagram und TikTok bezeichnen sich immer mehr junge Frauen selbst als Hexen, bieten Rituale an und verkaufen magische Produkte. Auf Plattformen wie Etsy werden Liebeszauber für mehrere hundert Euro gehandelt, also handgemachte und individualisierte Sets, die Käufer:innen helfen sollen, Liebeswünsche zu manifestieren und emotionale Bindungen zu stärken. Manche Angebote kosten sogar bis zu 5000 Euro.
Was steckt hinter diesem Boom? Und wo wird es problematisch – auch für Menschen, die selbst gar nicht an Magie glauben? Matthias Pöhlmann ist Beauftragter für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Neureligionen, Okkultismus und esoterischen Trends. Im Gespräch ordnet er das Phänomen ein.
Sonntagsblatt: Warum interessieren sich gerade junge Menschen heute so für Hexerei und Magie?
Pöhlmann: Das Thema der neuen Hexen gibt es schon länger. Ich beobachte, dass die Themen oft die gleichen geblieben sind, aber die Kanäle, über die dieses Gedankengut verbreitet wird, sich verändert haben.
Gerade im deutschsprachigen Raum war dieses Thema in den 1970er, 1980er Jahren präsent – vor allem bei der radikalen Frauenbewegung, die die Hexe als Identifikationsfigur entdeckt hat, als Protest gegen eine als patriarchalisch empfundene Gesellschaft.
Dann, im Zuge der Harry-Potter-Welle, tauchten verstärkt Bücher auf, die mit dem Anspruch auftraten: Harry Potter, das ist alles Unterhaltung, das ist alles Fantasie – wir zeigen euch jetzt, wie es wirklich funktioniert. Flankierend gab es Serien wie "Charmed" oder "Zauberhafte Hexen", die damals auf ProSieben liefen. Und wie das der Zufall will, gab es dann auch eine ProSieben-Edition mit einschlägigen magischen Tipps.
Ich habe das Phänomen als "Girly-Hexentum" bezeichnet, unter dem Stichwort "Pentagramme in Pink" – also das Poppige, das Unterhaltsame. Auch die Disney-Zeitschrift "W.I.T.C.H." griff dieses Thema auf – fünf starke Mädchen: magisch, mystisch, mädchenstark. Da wurde sogar ein Wicca-Altar verlost. Die Wicca-Bewegung, das ist das organisierte Neuhexentum, das in den 1950er Jahren in Großbritannien aufkam.
Wie hat sich das Hexenbild mit der Zeit gewandelt?
Das Hexenbild hat sich Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts radikal gewandelt. Wir alle kennen die Hexe aus dem Märchen: alt, düster, hässlich. Die Hexen von heute sind jung, adrett und funky. Man konnte das schon bei Serien wie "Charmed" oder "Zauberhafte Hexen" beobachten – sehr attraktive Frauen, die Magie betreiben und sich trotzdem für Jungs interessieren.
Damit wird eine bestimmte Altersgruppe erreicht: teilweise Mädchen im Alter von 13 bis 15. Das ist entwicklungspsychologisch interessant – ein Übergangszeitraum aus der Welt des Kindseins in die Erwachsenenwelt. Ich habe den Eindruck, dass manche versuchen, das magische Denken oder Empfinden, was vielleicht unwiederbringlich verloren gegangen ist, hinüberzuretten.
Religionssoziologen sagen: War früher Pippi Langstrumpf die Identifikationsfigur für Mädchen, so ist es heute eher Bibi Blocksberg oder neue Kulthexen. Dann gibt es das Phänomen des "Witchfluencing" – TikTok-Hexen oder Witches auf Instagram, die Coaching-Angebote machen und Devotionalien vertreiben.
Was macht Hexerei für junge Menschen so attraktiv?
Das ist ein gesamtgesellschaftlicher Trend. Man kann auf der einen Seite die Pluralisierung der religiös-weltanschaulichen Angebote beobachten – übrigens seit vielen Jahrzehnten. Und auf der anderen Seite das Thema Individualisierung. Beim organisierten Hexentum ging man früher in einen Coven, einen Hexenzirkel, wo man gemeinschaftlich Rituale feierte und initiiert wurde. Heutzutage gibt es die Möglichkeit, sich selbst zu initiieren – man braucht gar keine Gemeinschaft mehr.
Hinzukommt dieser tiefe Wunsch, praktische Lösungsmöglichkeiten für unterschiedliche Problemlagen zu bekommen: Liebeskummer, Misserfolg in der Schule oder bei der Ausbildung. Man meint, dass man mit Magie diese Probleme lösen kann. Selbstermächtigung spielt eine große Rolle angesichts alltäglicher Ohnmachtserfahrungen. Andere nutzen die Verfahren nach dem Motto: Mach mit Magie mehr aus deinem Typ.
Ist das, was auf Etsy verkauft wird, ernst gemeint oder Entertainment?
Da muss man genauer hinschauen. Es ist zunächst eine Kommerzialisierung, ein einträgliches Geschäft vor dem Hintergrund des großen Esoterik-Booms in unserer Gesellschaft. Einerseits haben wir eine Esoterikfaszination, andererseits Säkularisierung – Religion spielt überhaupt keine Rolle mehr, Kirche ist völlig out. Das Format ist bewusst zugeschnitten: Hexen wie du, normale Menschen, die Tipps geben. Das ist typisch fürs Influencing in sozialen Medien – Ratgeber, Verkauf, Coaching. Bei Etsy gibt es vermutlich Discounter und solche, die richtig zulangen.
Interessant ist das Menschenbild, das dahintersteckt. Es hat etwas ganz Manipulatives. Manipulation heißt übersetzt: in der Hand haben. Wenn man mit Magie versucht, einen anderen Menschen zu beeinflussen oder seinen Willen zu bestimmen – ob es gelingt, ist eine andere Frage, das glaube ich nicht –, aber allein diese Vorstellung ist ethisch höchst fragwürdig.
Welche Gefahren sehen Sie?
Die Gefahr, dass man in magische Sonderwelten gerät und meint, real existierende Probleme mithilfe magischer Sprüche oder Handlungen zu lösen. Damit werden Probleme nicht angegangen, sondern verdrängt. Es ist ein breites Spektrum – zwischen Hexen-Entertainment und dem Risiko, sich in Sonderwelten zu verlieren oder in Abhängigkeit zu geraten. Diese Anbieter haben keine entsprechende Qualifikation. Wenn psychisch Belastete oder junge Leute, die noch Orientierung suchen, darauf anspringen, besteht diese Gefahr.
Da braucht es Wege der Entzauberung. Es geht hier um eine Art Verzauberung durch solche Anbieterinnen und Anbieter.
Haben Sie konkrete Fälle erlebt?
Es sind eher schrittweise Annäherungen, Abhängigkeit von solchen Anbietern. In der Wicca-Bewegung heißt es: Alles, was du tust, positiv wie negativ, kommt dreifach auf dich zurück. Man muss damit rechnen, wenn man etwas Schlechtes getan oder jemanden attackiert hat, dass das auf einen selbst zurückkommt.
Wenn man sich in diesem magischen Denken bewegt, führen diese Denkmuster in ein geschlossenes Weltbild. Junge Menschen sind auf der Suche nach Identität, wo sie ihren Platz im Leben finden. Ich glaube, damit werden sie nicht selbstermächtigt, sondern im Grunde genommen magisch gedeckelt. Die Gefahr besteht, dass man in Kategorien denkt, die nicht gut sind.
Wo verläuft die Grenze zur Sekte?
Ich würde das in den Bereich der Konsumesoterik einordnen. Da sind oft esoterische Weltbilder zu finden, Magie spielt eine Rolle. Stichwort Naturspiritualität – es wird gesagt, das Christentum oder die jüdisch-christliche Tradition habe massiv zur Zerstörung der Erde beigetragen. Man müsse wieder im Einklang mit der Natur leben, zurück zur Natur. Deswegen werden manche Rituale in der Natur ausgeübt.
Bei den neuen Hexen ist es aber eher sehr kommerzialisiert – Kaufen und Verkaufen bei Etsy.
Welche anderen spirituellen Trends beobachten Sie auf Social Media?
Ein großer Trend ist das Manifestieren – eine uralte magische Vorstellung, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Die Ideen sind alt, aber die Verpackung ist immer wieder neu. Manifestieren geht davon aus, dass man mithilfe der Gedankenkraft Realität erzeugen könne.
Man könnte fast sagen, die Social Media sind selbst die magischen Kanäle. Marshall McLuhan, ein Medientheoretiker, sprach schon in den Sechziger-, Siebzigerjahren von magischen Kanälen. Die Hexen sehen sich als magische Kanäle, die in den Social-Media-Kanälen Energie weitergeben möchten. Der Energiebegriff spielt eine große Rolle – esoterisch aufgeladen. Die gehen davon aus, Energie ist überall und man könne sie anzapfen.
Was raten Sie jemandem, der unsicher ist, wie weit er gehen sollte?
Ich würde als Erstes fragen, was er sich davon erhofft. Verbieten ist immer schwierig. Die Frage ist: Wie tragfähig oder nachhaltig ist das Angebot? Das bewegt sich oft zwischen Augenzwinkern, Entertainment, Spiel – aber es kann auch härter werden, wenn man in einen magischen Zirkel des Denkens gerät. Ich würde ins Gespräch kommen: Welche Angebote werden gemacht? Wie schätzt du das ein? Was erhoffst du dir davon? Bei Liebeskummer oder schlechten Mathenoten wäre Nachhilfe besser – das ist nachhaltiger, tragfähiger.
Jeder hat ein Recht auf den eigenen Aberglauben, solange er nicht andere gefährdet oder schadet. Wichtig ist, aufzupassen bei Manipulation und Abhängigkeit – sich selbst gegenüber oder wenn man versucht, andere zu manipulieren. Beim Liebeszauber ist das keine gute Ausgangsbasis. Dann lieber Mut zusammennehmen, ansprechen, und wenn es nicht klappt, weiterziehen.
Ist das ein kurzlebiges Phänomen oder kultureller Wandel?
Es ist ein Symptom der Veränderung in der religiös-weltanschaulichen Gegenwartskultur: Individualisierung, Esoterik als Alltagsphänomen, Säkularisierung. Menschen kommen nicht mehr mit Religion in Berührung, stellen sich aber trotzdem die Frage: Was gibt meinem Leben Sinn? Wo bekomme ich Orientierung?
Ich beobachte, dass diese Trends in Wellenbewegungen kommen. In den 1980er Jahren spielte die "Bravo" eine große Rolle mit einer Serie über Jugendokkultismus – Gläserrücken, das Ouija-Board. Da gab es Fälle, wo Jugendliche in Angst und Schrecken versetzt wurden, weil sie in einer Art Gegenwelt waren und Angstzustände bekamen.
1990 kamen die neuen Funky-Hexen. Dann war es ruhiger, und jetzt mit den digitalen Medien gibt es die Möglichkeit, das noch weiter zu verbreiten und stärker zu kommerzialisieren. Es ist wie in der Esoterik: Es gibt Anbieter, Nutzerinnen und entsprechende Methoden – dieses digital inszenierte neue Hexentum ist eine Variante unter vielen.