Immer wieder gibt es Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache, dass sie Flüchtlinge bei sogenannten Pushbacks illegal zurückdrängt. Der Journalist und Wissenschaftler Phevos Simeonidis recherchiert unter anderem für die Forensic-Architecture-Agentur der Londoner Goldsmiths Universität zu Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen. Im Gespräch mit dem Sonntagsblatt erklärt der 28-Jährige, wie Griechenland seine Asylpolitik während der Corona-Pandemie verschärft hat.
"Wenn Flüchtlinge ein Problem wären, gäbe es eine Lösung."
Immer noch kommen jeden Tag Asylsuchende in Griechenland an. Wie lange hält die Flüchtlingskrise schon an?
Phevos Simeonidis: Wir kennen in Griechenland Fluchtgeschichten schon seit Jahrzehnten. Seit vielen Jahren kommen Menschen auf der Suche nach Asyl oder einem besseren Leben hier an. 2015 erreichte die Entwicklung ihren Höhepunkt, die mit dem EU-Türkei-Pakt aber einen abrupten Abfall erfuhr. Aber die Flüchtlingskrise ist eigentlich keine Krise von Flüchtlingen. Es ist eher eine Krise durch einen Mangel an fehlender sozialer Unterstützung. Wenn Flüchtlinge ein Problem wären, gäbe es eine Lösung. Aber sie selbst sind kein Problem, also gibt es dafür auch keine Lösung.
Wie ist die Entwicklung heute?
Simeonidis: Im Vergleich zum Zeitraum bis März 2016 gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die Grenzen sind inzwischen geschlossen. Bis dahin unterstützte Griechenland Menschen zumindest in gewisser Weise bei der Weiterreise durch das Land. Heute besteht eine systematische Strategie darin, die Flüchtlinge durch Pushbacks, also illegale Rückführungen, zurück in die Türkei zu bringen.
"Pushbacks an den EU-Außengrenzen haben System."
Gibt es Beweise für diese Strategie?
Simeonidis: Anhand unserer Recherchen können wir sagen, dass Pushbacks an den EU-Außengrenzen System haben. Meine Kollegen und ich haben in einer Online-Datenbank mehr als 1.000 Pushbacks entlang der griechischen Inseln zusammengetragen - und das ist nur die Zahl für die Zeit seit 2020 und nur in der Ägäis. Verantwortlich dafür ist die Küstenwache. Oft wird sie dabei direkt oder indirekt von der europäischen Grenzschutzagentur Frontex unterstützt.
Wie ist es zu dieser Verschärfung gekommen?
Simeonidis: Die aktuelle griechische Regierung hat das Thema der Migration und vermeintlichen Grenzsicherung ganz oben auf ihre Agenda gesetzt. Die Nea-Dimokratia-Partei und Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis machen schon seit Jahren Stimmung gegen die Zuwanderung. Unterstützung dafür erhalten sie gleichermaßen von Konservativen und Rechtspopulisten. Was das bedeutet, ließ sich insbesondere während der Corona-Lockdowns im Land sehen. Damals wurden die Flüchtlingsunterkünfte regelrecht zu Gefängnissen für die Menschen.
"Mit Corona wurde es leichter, die Bewegungsfreiheit einzuschränken."
Was heißt das?
Simeonidis: Bis zum Beginn der Pandemie war es für Griechenland schwierig, die Unterkünfte eindeutig abzuriegeln. Das liegt vor allem daran, dass sie von der EU finanziert werden und die keine Gefängnisse bezahlt. Menschen mussten also freien Zugang zu den Einrichtungen haben und diese eigenständig verlassen dürfen. Mit Corona wurde es leichter, diese Bewegungsfreiheit einzuschränken. Auf Grundlage von Infektionsschutzmaßnahmen eröffneten sich neue Möglichkeiten.
Was hat sich durch die Pandemie noch verändert?
Simeonidis: Aus Interviews mit Asylsuchenden und Hilfsorganisationen wissen wir, dass Griechenland das Prozedere für Asylanträge für einen langen Zeitraum komplett eingestellt hat und die Menschen keine Möglichkeit hatten, ihr Recht zu bekommen. Zudem verschlechterte sich die humanitäre Lage für die Bewohner von Camps auf den Inseln stark, weil sie weniger Unterstützung erhielten. Auch hier wurden verschiedene Infektionsschutzmaßnahmen als Ausrede genutzt.
"Die Grenzen werden immer stärker militarisiert."
Sie beschäftigen sich in ihren aktuellen Recherchen mit verschiedenen Menschenrechtsverletzungen an der Grenze zur Türkei und im Mittelmeer. Womit werden sie dabei konfrontiert?
Simeonidis: Zunächst müssen wir feststellen, dass die Grenzen immer stärker militarisiert werden. Zudem dehnt Griechenland geltendes EU-Recht für die Kontrolle seines Migrationsapparats immer weiter aus. Dabei versteht sich das Land als eine Art Testzentrum, in dem neue und nicht immer ganz legale Technik ausprobiert wird. Drohnen, optische und biometrische Überwachungssysteme, aber auch neuartige Ausrüstung wie Kameras oder Sicherungssysteme kommen zum Einsatz. Wie diese Rechtsauffassung aussieht, zeigt sich auch an den neuen Camps auf Chios, Lesbos, Samos, Kos sowie in der Evros-Region. Diese werden von der EU offiziell als Empfangs- und Identifikationseinrichtungen bezeichnet. Die Übertragung ins Griechische lautet aber "Geschlossene, kontrollierte Strukturen" - also so etwas wie Gefängnisse.
Und außerdem betonen Sie in diesem Zusammenhang auch immer wieder Pushbacks…
Simeonidis: Alle wissen, dass diese Pushbacks stattfinden - und zwar systematisch und täglich. Ebenso steht fest, dass Frontex - also eine EU-Einrichtung - daran beteiligt ist. Trotzdem wird das Thema in Griechenland von der Regierung immer wieder als Fake News dargestellt. Wissenschaftler, Aktivisten und Journalisten werden für Aussagen dazu kritisiert und nicht selten kriminalisiert. Oft heißt es in diesem Zusammenhang, dass wir russische oder türkische Agenten seien. Außerdem werden wir in den sozialen Medien und der Öffentlichkeit angefeindet.
Was bedeutet das für Sie und Ihre Kollegen?
Simeonidis: Viele der Dokumente, mit denen wir arbeiten, sind öffentlich zugänglich. Dennoch wissen wir alle, dass wir von öffentlichen und auch nicht staatlichen Organisationen beobachtet werden, dass man uns kriminalisiert und versucht, unsere Arbeit zu erschweren. Zugleich wird es in Griechenland immer herausfordernder, sich für Menschen auf der Flucht und gegen illegale Interventionen einzusetzen.
"Um das System der Pushbacks in Griechenland beenden zu können, müssen diese für die Verantwortlichen teuer werden - politisch und finanziell."
Anfang Juli hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland zu einer Geldstrafe verurteilt, weil bei einem Einsatz der Küstenwache elf Menschen ums Leben kamen. Laut den Überlebenden kenterte das Boot, als die griechische Küstenwache es auf dem Meer abdrängte. Welche Auswirkungen hat diese Entscheidung auf die griechische Pushback-Strategie?
Simeonidis: Die 330.000 Euro Strafe sind für einen Präzedenzfall zu wenig. Dennoch ist die Entscheidung wichtig und richtig. Um das System der Pushbacks in Griechenland aber beenden zu können, müssen diese für die Verantwortlichen teuer werden - politisch und finanziell.