Wenn der 49-jährige Michael spricht, wirkt er abgeklärt – und müde. Seit 35 Jahren lebt er auf der Straße. Er hat Gewalt erfahren, wurde als Jugendlicher von den Eltern verstoßen, rutschte in die Drogenszene. "Ich möchte gern in vernünftige Verhältnisse zurück. Ich schaff das auch körperlich nicht mehr. Bin ja auch nicht mehr der Jüngste", sagt er. Trotzdem hat er die Hoffnung nicht aufgegeben.

Michael ist einer von vielen, deren Schicksal im Dokumentarfilm "Obdachlos in Bayreuth" erzählt wird. Die drei Filmemacher Andreas Harbach (Kamera), Günter Saalfrank und Gunter Becker (beide Text) haben Betroffene über Monate hinweg begleitet – mit großer Nähe und respektvoller Distanz zugleich. Am Dienstag, den 3. Juni 2025, wird der Film im Rahmen der sübkültür im Bayreuther Kulturhaus "Neuneinhalb" gezeigt. Im Anschluss diskutieren Fachleute, darunter Nancy Kamprad vom Sozialdienst der Stadt Bayreuth und Volker Sommerfeld von der Stadtmission, über Ursachen, Herausforderungen und Perspektiven der Obdachlosigkeit.

Ein unsichtbares Problem

"Ist das nicht Hamburg? Oder Berlin?", fragt ein Schüler erstaunt, als auf dem Laptop Bilder obdachloser Menschen zu sehen sind. Die Klasse des Gymnasiums Christian-Ernestium schaut sich Ausschnitte aus dem Film "Obdachlos in Bayreuth" an – und ist überrascht. Die Antwort auf die Frage ist ernüchternd: Es ist Bayreuth. Auch wenn hier das Straßenbild nicht durch Obdachlose geprägt ist wie in Großstädten, leben auch in der fränkischen Universitätsstadt viele Menschen ohne eigenes Dach über dem Kopf. Sie schlafen auf Parkbänken, in Tiefgaragen, Hauseingängen oder – wenn es gut läuft – im städtischen Übergangsheim Haus Cosima.

"Seit 2017 ist ein stetiger Anstieg der Obdachlosigkeit zu verzeichnen", sagt Nancy Kamprad. Aktuell seien die 16 Plätze der Einrichtung chronisch überbelegt. "Wir haben schon Belegungen weit über der eigentlichen Maximalgrenze."

Menschen mit Geschichte

Was die Dokumentation so eindringlich macht: Es wird nicht über Obdachlose gesprochen, sondern mit ihnen. Michael, Silvia, Roland – sie alle erzählen selbst. Roland mittlerweile 71 Jahre alt, war einst Krankenpfleger, Heizungsbauer, dann setzten ihm Depressionen zu. "Die Suizidgedanken wurden immer schlimmer. Ich habe die Wohnung gekündigt und bin einfach gegangen." Zwei Jahre lebte er in einem Gartenhaus, egal ob Sommer oder Winter.

Was ihm geholfen hat, war die Stadtmission – und der Glaube:

"Ich war sehr gerne in den Bibelstunden, den Gottesdiensten. Die haben mich getragen. Ich habe Gott eines Nachts gebeten, mich aus dem Sumpf zu reißen. Und er hat es getan."

Silvia wiederum verlor durch Krankheit ihren Job. Dann die Wohnung. Drei Monate die mittlerweile 48-jährige verbrachte sie im Haus Cosima – "die schwerste Zeit meines Lebens", sagt sie. Inzwischen hat sie eine Wohnung gefunden. "Ich sage immer: Man darf fallen, das darf jeder. Aber man muss auch wieder aufstehen."

Jede Schicht kann betroffen sein

Dass Wohnungslosigkeit keine Randerscheinung bestimmter Milieus ist, macht Karin Kretschmann von der Diakonie deutlich. "Wir hatten schon Rechtsanwälte, Köche, junge Menschen ohne Ausbildung und sogar einen Universitätsprofessor. Obdachlosigkeit betrifft alle gesellschaftlichen Schichten."

Nicht alle nehmen Hilfe in Anspruch. Manche meiden das Haus Cosima bewusst. "Die fehlende Privatsphäre, ein Zimmer mit fremden Menschen, ein gemeinsames Bad – das ist eine große Hürde", sagt Kretschmann. Einige bevorzugen es daher, im Freien zu schlafen – trotz Kälte, trotz Gewalt. Michael sagt: "Man hat Angst. Oft ist es gewalttätig ausgegangen. Es ist gefährlich da draußen."

Hilfe, die ankommt

Ein Ort der Wärme und Würde ist die Stadtmission Bayreuth. Hier gibt es Essen, Kleidung, Gespräche. Viele Helfer engagieren sich ehrenamtlich, einige waren selbst obdachlos. "Es geht auch darum, wieder gebraucht zu werden", so Volker Sommerfeld, der Leiter der Bayreuther Stadtmisson. "Es gibt ja nichts Schlimmeres, als wenn dich niemand mehr braucht."

Sommerfeld engagiert sich über den Verein Christen schaffen Wohnraum, der drohende Zwangsräumungen verhindern will.

"Wenn Miet- oder Stromschulden nicht mehr tragbar sind, übernehmen wir sie zinsfrei. Viele konnten dadurch ihre Wohnung behalten."

Perspektiven schaffen

Die städtische Wohnungsbaugesellschaft GEWOG reagiert auf den steigenden Bedarf. Geschäftsführer Jürgen Kastner erläutert: "2025 werden zwölf neue Zimmer als Zwischenlösung bereitgestellt – in Gebäuden, die bald generalsaniert werden."

Es braucht solche Projekte – und mehr davon. Denn wie Kastner betont: "Damals waren es 15 Menschen, heute sind es fast 60, die wir unterbringen. Tendenz steigend."

Der Film "Obdachlos in Bayreuth" zeigt: Es gibt kein Schema für Armut. Kein festes Bild, wer betroffen ist. Aber es gibt Menschen, die sich kümmern. Und es gibt Wege zurück. Wie bei Viktor, der mit 18 auf der Straße stand und heute eine Familie hat. "Wir haben Stunden damit verbracht, seine Briefe zu sortieren", erzählt Sozialarbeiterin Kretschmann. "Er hat eine Ausbildung gemacht, eine Wohnung gefunden – und wir haben immer noch Kontakt."

Der Film, der hinschauen lässt

"Es war für mich eine Entdeckungsreise", sagt Filmemacher Günter Saalfrank. "Ich wollte nicht schnell berichten oder dramatisieren, sondern Menschen mit Respekt begegnen." Entstanden sei ein Film für Gruppen, Schulen, soziale Berufe. Ein Film, der nicht fertig erzählt, sondern zum Weiterdenken anregt.

Denn Obdachlosigkeit in Bayreuth – das ist nicht "nur" ein Problem. Es sind Menschen. Geschichten. Und manchmal auch: Neuanfänge.

Filmvorführung und Diskussion:
"Obdachlos in Bayreuth"
Dienstag, 3. Juni 2025, 20 Uhr
Kunst- und Kulturhaus Neuneinhalb, Gerberplatz Bayreuth
Eintritt frei – mit anschließender Podiumsdiskussion

 

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