Deutschunterricht in der achten Klasse an der Merian-Realschule in Ladenburg bei Heidelberg. Auf einem Tisch mitten im Raum steht ein etwa 30 Zentimeter großes, weißes Gerät. Zwei Augen blinken auf. Über Lautsprecher ist die Stimme von Julia zu hören. Die Schülerin liest einen Text zur "Sehnsucht nach Glück" vor. Wegen einer Krankheit kann die 14-Jährige längere Zeit nicht zur Schule gehen. Seit April verbindet der Avatar sie mit der Schule.
Über den Roboter sind ihre "Augen und Ohren im Klassenzimmer", sagt Schulleiter Stefan Baust. Das Hilfsmittel, das aussieht wie eine zu groß geratene Spielfigur, ist ausgestattet mit einer Kamera und einem Mikrofon. "Das ist etwas sehr Simples auf einem datenschutzkonformen Weg", erklärt Baust.
Herstellung in Norwegen
Das Gerät der norwegischen Herstellerfirma No Isolation ermöglicht langzeiterkrankten Kindern soziale Teilhabe.
"Es geht weniger um Austausch von Lerninhalten, sondern darum, den sozialen Kontakt nicht zu verlieren",
erklärt der Leiter des Medienzentrums Heidelberg, Robert Bittner. Das Zentrum stellt auf Wunsch der Eltern der Schülerin den Avatar zur Verfügung.
Julia erhält Hausunterricht am Krankenbett. Wenn sie möchte, kann sie sich außerdem für das Sozialleben von ihrem Tablet zum Unterricht dazuschalten. Weiß, grün, blau oder rot - die Farbe eines Leuchtkörpers signalisiert den Mitschülern, ob sie etwas sagen möchte, stumm geschaltet ist oder nicht gestört werden will.
Ein Gefühl von Zugehörigkeit
Sie schätzt die Zugehörigkeit zur Klassengemeinschaft.
"Hobbys und Freunde machen mich glücklich", sagt sie. Über den Avatar bekommt sie mit, worüber ihre Freundinnen und Freunde reden. Denn auch auf dem Schulhof und bei Ausflügen ist Julia dabei: Dann hängt der Avatar in dem orange-grauen Rucksack auf dem Rücken eines Mitschülers.
Ihre Freundin Laureen freut es, "dass sie dabei ist, auch bei den Pausengesprächen". Raphael betont, dass er mit Julia via Roboter lachen kann. "Sie kann mit dem Avatar auch Mimik zeigen, meistens ist sie glücklich", sagt der Mitschüler.
Anfangs sei es gewöhnungsbedürftig gewesen, nur die Stimme zu hören und nicht Julias Gesicht zu sehen, fügt er hinzu. Inzwischen hätten sich die Klasse und die Lehrer "total daran gewöhnt", berichtet die Klassenlehrerin Katja Gounon. Die Klasse sei ruhiger geworden, seit Julia als Avatar im Klassenzimmer steht, sagt sie.
Langfristige Lösung nach der Pandemie
Die Datenübertragung ohne Archivierung zwischen Schule und Elternhaus ist von Herstellerseite eingestellt. Nach dem Unterricht wird der Roboter ausgeschaltet und im Lehrerzimmer verwahrt.
"Von der Mutter habe ich erfahren, dass Julia jetzt einen Tagesrhythmus hat. Sie hat nun keine Sorge mehr, ob Julia den Anschluss an die Klasse noch bekommt", berichtet die Lehrerin. Die Pädagogin erinnert an die Folgen von Schulabstinenz. "Dass Schüler anschließend langfristig keinen Zugang mehr zu Schule bekommen, wissen wir seit Corona", führt Gounon aus.
Der Avatar freilich ist kein Gerät für eine Pandemie. Für seinen Einsatz braucht es die Präsenz im Klassenzimmer. Der Förderverein für krebskranke Kinder in Köln gehörte nach eigenen Angaben zu den ersten Organisationen in Deutschland, die sich für den Einsatz von Avataren in der Schule starkmachten.
Bereits Ende 2019 wurde der erste Avatar angeschafft. Inzwischen ist das rund 4.000 Euro teure Gerät in mehreren Bundesländern im Einsatz. Die Geräte würden gut angenommen, weiß der Leiter des Medienzentrums Heidelberg.
"Wenn der Avatar nur eine Stunde eingesetzt wird, verliert das Kind nicht den Kontakt",
sagt Bittner. Manchmal nimmt Julia von morgens bis mittags am Geschehen in der Schule teil.
Kommentare
Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.
Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.
Anmelden