Er war damals ein Kind, doch die Erinnerungen gehen Manfred Schirmacher nicht aus dem Kopf: "Ich weiß noch, wie hinter uns eine Bombe fiel und ein Wagen mit Pferden und Menschen im Eis versank", erinnert sich der heute 88-Jährige. Damals, im Februar 1945, ist er sieben Jahre alt und mit seiner Familie zu Fuß auf der Flucht über das zugefrorene Haff bei Königsberg in Ostpreußen. Tage vorher haben sie ihr Dorf Postnicken verlassen.
Die vorrückende sowjetische Armee hat die Landwege abgeschnitten und der Junge, seine Mutter und der zwölfjährige Bruder sind wie Hunderttausende andere unterwegs, mit Pferd und Wagen, zu Fuß, mitgenommen auf Lkw, im Güterzug, auf Schiffen über die Ostsee gen Westen. Der Krieg tobt überall: Es wird geschossen, Tiefflieger rasen über die Trecks, immer wieder schlagen Bomben ein.
Der Familie gelingt es, einen Platz auf dem Walfangschiff "Walter Rau" zu bekommen. Als Kind, erinnert sich Schirmacher, "war es für mich ein wunderbares Erlebnis, die vielen Schiffe im Geleitzug zu sehen." Doch schnell folgt auf das gute Gefühl die Angst. Die Schiffe werden von einem U-Boot angegriffen, können aber entkommen. Andere Schiffe wie die "Wilhelm Gustloff" werden getroffen und sinken; Tausende Flüchtlinge sterben.
Kriegsende und Kapitulation 1945
Die "Walter Rau" legt schließlich in Kopenhagen an, das bis zur Kapitulation von NS-Deutschland am 8. Mai 1945 noch von der deutschen Wehrmacht besetzt ist. "Am 28. März durften wir an Land gehen", erinnert sich Schirmacher mit belegter Stimme, "vom Roten Kreuz erhielt ich gekochtes Ei extra, weil ich meinen achten Geburtstag hatte."
Wie Schirmacher und seiner Familie ergeht es vor 80 Jahren Millionen Menschen: Sie fliehen aus West- und Ostpreußen, Pommern oder Schlesien vor dem Krieg, den das nationalsozialistische Deutschland begonnen hat. Mitglieder der Roten Armee, befreite Polen oder Tschechoslowaken nehmen auch Rache für die Zeit der Okkupation und Hitlers brutalen Vernichtungsfeldzug. Viele Deutsche im Osten sterben durch Bomben, Hunger, Kälte und Krankheiten. Es kommt zu Morden, Erschießungen und Vergewaltigungen.
Über die Zahl der Opfer unter den deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen gibt es unterschiedliche Angaben: "Wir gehen von mehr als 600.000 bis eine Million Menschen aus, die nachweislich durch Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen sind", sagt Gundula Bavendamm, Direktorin des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Mehr als 1,5 Millionen Schicksale gelten als ungeklärt, sodass in anderen Quellen häufig von zwei Millionen Opfern die Rede ist.
Potsdamer Konferenz 1945
Wenige Monate nach Kriegsende, im August 1945, beschließen die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz die "geordnete Überführung deutscher Bevölkerungsteile" aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn. Durch Flucht und Vertreibung verlieren insgesamt mehr als 14 Millionen Deutsche aus den Ostgebieten und von Deutschen besiedelten Regionen im Sudetenland, Rumänien oder Ungarn ihre Heimat. 12,5 Millionen erreichen als Flüchtlinge und Vertriebene die Gebiete westlich der Oder.
"Davon kamen rund zwei Drittel der Vertriebenen in die westlichen Besatzungszonen", erläutert Bavendamm. Ein Drittel gelangte in die sowjetische besetzte Zone und damit später in die ehemalige DDR. Aber die Aufnahme durch ihre Landsleute war keineswegs freundlich. "1945 gab es weder in Ost noch in West eine 'Willkommenskultur'", erläutert die Historikerin. Die Nachkriegsgesellschaft war im Überlebenskampf, die Städte waren zerstört. "Und obwohl Deutsche zu Deutschen kamen, gab es etwa wegen unterschiedlicher Dialekte und Bräuche Fremdheitserfahrungen", beschreibt Bavendamm die Lage.
Doch während in der DDR die Vertriebenen als "Umsiedler" bezeichnet wurden und in der Diktatur über das Leid und Erlebte schweigen mussten, gab es in der Bundesrepublik sogenannte Landsmannschaften der Vertriebenen, und die Politik sorgte mit dem Lastenausgleich für Entschädigungen. "Und die Vertriebenen, die wieder bei null anfangen mussten, trugen in Ost und West mit ihrem Fleiß zum Wirtschaftsaufschwung bei", sagt Bavendamm.
Manfred Schirmacher lebte noch drei Jahre in Dänemark in Lagern, die nach Kriegsende von der dänischen Regierung übernommen worden waren. Erst 1948 durfte die Familie nach Neustadt in Schleswig-Holstein ausreisen, wo der Vater inzwischen Arbeit gefunden hatte.
Er machte eine Ausbildung zum Landmaschinen-Schlosser, später wurde Manfred Schirmacher Ingenieur und arbeitete schließlich 40 Jahre lang bei einem Pharmaunternehmen in Bergkamen. Auch seine Frau Helga war als Kind auf der Flucht, aus dem heutigen Polen: "Ich bin mit meiner Mutter und drei Geschwistern im Januar 1945 aus Nakel in Westpreußen geflohen", erzählt die 87-Jährige. Eine Station der Flucht bleibt ihr im Kopf. In Küstrin war die Familie in einem Luftschutzkeller untergebracht, draußen wurde noch gekämpft. In einer Feuerpause sah das Mädchen durch die geöffnete Kellertür, wie ein "brennender Russe" die Treppe herunterrollte, so beschreibt sie es. "Von diesem Anblick träume ich manchmal noch heute", erzählt sie.
Die Schirmachers engagierten sich in Landsmannschaften und der evangelischen Kirche - sie in der Frauenhilfe, er im Kirchenchor. Mehrfach sind sie in ihre alte Heimat gereist. Ihre beiden Söhne haben sich mit der Beschreibung von Fluchtrouten am Bundeswettbewerb "Deutsche Geschichte" beteiligt. Und sie organisierten Hilfstransporte in die Heimatregionen der Eltern im heutigen Polen und Russland.
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