Von Koffern und Mandelzweigen
"Ein Leben lang Koffer": Das, liebe Leserinnen und Leser, steht über den Erinnerungen der Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff, die vor fünf Jahren gestorben ist. Eine Schriftstellerin, die kein Blatt vor den Mund nahm bei dem, was sie schrieb: Vom Leben in seinen Widersprüchen. Vom Lieben und vom Leiden daran. Und vor allem: von der Sehnsucht nach Heimat, die ihre eigene Geschichte prägte.
Angelika Schrobsdorff wird 1927 als Tochter einer Jüdin und eines Christen geboren. Sie wächst in Berlin auf und flieht in der NS-Zeit mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Bulgarien; die geliebte Großmutter stirbt in Theresienstadt. Ihr Leben lang ist sie auf der Suche nach einem Ort, zu dem sie gehört – und überhaupt danach, wohin sie gehört: zu welchem Glauben, zu welchen Menschen. Ein Leben lang Koffer, in ganz verschiedener Hinsicht.
Es gibt Jahre, in denen Angelika Schrobsdorff meint, diese Koffer beiseite stellen zu können: ausgepackt, eingeräumt. Das sind die Jahre, in denen sie in Jerusalem lebt, das ihr zur Heimat auf Zeit wird. In den 60iger Jahren kommt sie das erste Mal in die Stadt, dann immer wieder, und schließlich verlegt sie ihren Wohnsitz dorthin. Es ist eine merkwürdige Anziehung, die Jerusalem auf sie ausübt – das liegt nicht an der Sonne, nicht an der Schönheit der Stadt. Nein, dass sie sich sicherer, wohler fühlt in Jerusalem als anderswo, so sagt sie einmal, liegt an den Menschen dort. Mit ihnen verbindet sie etwas, das stärker ist als die Liebe: Es ist die gemeinsame Vergangenheit, das gemeinsame Schicksal.
Es gibt einen Ort, an dem sie das besonders spürt: die Klagemauer. Schon der Weg dorthin, durch die Jerusalemer Altstadt, hin zum Tempelberg tröstet sie, so beschreibt sie es in einem Roman. Dann sitzt sie da, mit Blick auf den letzten Rest des vor knapp zweitausend Jahren zerstörten jüdischen Tempels. Sie wartet, bis die Touristen zum Abendessen aufbrechen, die Fotografen ihre Apparate verstauen und die Sonne sich anschickt, hinter dem Hügel zu versinken.
"Wenn der Platz in malvenfarbenem Dämmer liegt, ein paar Gläubige, winzig vor der mächtigen Mauer, im rhythmischen Auf und Nieder ihrer Oberkörper die Gebete sagen und plötzlich eine klagende, fordernde, beschwörende Stimme die Stille zerschneidet, dann leuchtet blitzartig die Tragödie eines großen Volkes auf: ,Gott, der du uns verstoßen und zerstreut hast und zornig warst, tröste uns wieder; der du die Erde erschüttert und zerrissen hast, heile ihre Risse; denn sie wankt." (1)
Es ist ein Ort, an dem jüdische Geschichte sich verdichtet wie kaum anderswo, und die Steine zu sprechen scheinen. Kein Wunder, denn in diese Mauer, so beschreibt es ein Lied, murmelt die ganze Welt ihre Gebete. Die alte Westwand des Tempels hat Ohren, um zu hören. Augen, um zu sehen. Und ein Herz, das versteht.
Ein Lied, das vom Frieden singt
Es sind nicht nur Klagen, die die Mauer hört und sieht, Tag für Tag. Viele Juden kommen auch mit anderen Anliegen hierher: Sie kommen um zu danken und zu bitten, um ihre aufgeschriebenen Gebete in die Mauerritzen zu stecken. Nichts soll vergessen sein.
Die alte Westwand des Tempels ist ein heiliger Ort, eine der wichtigsten Stätten des Judentums, Sinnbild für Gottes Treue zu seinem Volk – eine Treue, die Bestand hat, allen Zerstörungen zum Trotz. Die Ruine auf dem Tempelberg steht auf ihre ganz eigene Weise für die Geschichte und die Tragödie eines besonderen Volkes. Und für die Sehnsucht nach einem Ort, der Geborgenheit verspricht.
Der Sonntag heute trägt Bilder und Gedanken wie diese in unsere Kirchen und Köpfe: Seit dem 16. Jahrhundert erinnert er als "Israelsonntag" an die Zerstörungen der Jerusalemer Tempel, die so viel mehr waren, als die Steine, aus denen sie gebaut wurden. Berührende Texte erzählen davon: Wie die Israeliten nach der Zerstörung des ersten Tempels im Exil lebten, und sie saßen an den Flüssen Babels und weinten, wenn sie an Zion, an den Tempelberg dachten. Dann die Freudengesänge der Rückkehrer und der Stolz über den zweiten Tempel. Auch Jesus saß hier, um zu beten, zu hören, zu diskutieren. Und dann wurde im Jahr 70 nach Christus auch dieser Tempel zerstört, diesmal von römischen Legionen. Und nun zeugt nur noch diese eine Mauer, die den Tempel einst nach Westen hin umgab, von dem Haus, in dem Gott seinen Namen wohnen ließ, wie es in der Bibel heißt.
Was der Tempel den Menschen damals bedeutete! Es muss wie ein Heimkommen gewesen sein, ihn zu betreten. Ich erahne es, wenn ich Psalmen höre, die ihn besingen. Psalm 122 etwa: Ein Pilger hat sich auf den Weg gemacht, und als er Jerusalem erreicht, den Tempel im Blick, da läuft ihm das Herz über vor Glück.
Ich freute mich über die, die mir sagten:
Lasset uns ziehen zum Hause des HERRN!
Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem.
Jerusalem ist gebaut als eine Stadt,
in der man zusammenkommen soll,
wohin die Stämme hinaufziehen,
die Stämme des HERRN,
wie es geboten ist dem Volke Israel,
zu preisen den Namen des HERRN.
Denn dort stehen die Throne zum Gericht,
die Throne des Hauses David.
Wünschet Jerusalem Glück!
Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!
Es möge Friede sein in deinen Mauern
und Glück in deinen Palästen!
Um meiner Brüder und Freunde willen
will ich dir Frieden wünschen.
Um des Hauses des HERRN willen, unseres Gottes,
will ich dein Bestes suchen. (2)
Es sind vor allem die letzten Verse des Psalms, die mich berühren, die Zeilen, in denen der Dichter Frieden erbittet für die Stadt des Tempels. Im Hebräischen ist es ein zärtliches Spiel mit Worten, denn in jedem Schalom, in jedem dieser Friedenswünsche schwingt ja der Name Jerusalem – Jeruschalajim – mit: Es möge Friede sein in deinen Mauern. Um meiner Geschwister und Freunde willen, will ich dir Frieden wünschen.
Das Lied des Pilgers, Jahrtausende alt, weckt in mir eine Sehnsucht, die weit über Jerusalem hinausreicht, weit über die Grenzen der Religionen. Bis hin zu mir, in meine Gegenwart: Eine Sehnsucht nach einem Ort, an dem Frieden herrscht, ein für alle Mal – ein Ort, der die Menschen aufnimmt mit offenen Armen.
Von Ausgrenzung und Verfolgung. Und vom Miteinander.
Ich war noch nie in Jerusalem. Ich kenne die Klagemauer nur von Bildern und aus Filmen. Mich berühren Berichte wie die von Angelika Schrobsdorff, und ich weiß zugleich, dass ich ihre Empfindungen nie ganz werde nachvollziehen können, weil ich nicht erlebt habe, was sie erleben musste: Ausgrenzung. Heimatlosigkeit. Die Ermordung von Familienangehörigen. Es ist nicht meine Geschichte, die sich hier an der Klagemauer verdichtet. Und natürlich ist sie es doch. Denn die Reste des Tempels sind auch Teil meines Glaubens. Und zugleich ist im Namen meiner Religion so vieles geschehen, was untrennbar verbunden ist mit dem, was Menschen aus der ganzen Welt an die Klagemauer bringen. Angelika Schrobsdorff beschreibt als die Tragödie ihres Volkes; später übrigens wird die Schriftstellerin auch Jerusalem wieder verlassen, weil sie den Nahostkonflikt nicht erträgt.
Ich habe einige Jahre lang am "Projekt Synagogen-Gedenkband Bayern" mitgearbeitet, ein christlich-jüdisches Projekt, das ein gebürtiger Nürnberger Jude initiiert hat. Er hat 1938 nach der Reichspogromnacht Deutschland verlassen und lebte dann in Jerusalem. Es ging bei unserem Projekt darum, die Synagogen und das jüdische Leben in Bayern zu dokumentieren; in diesem Jahr wurde der letzte dieser Synagogen-Gedenkbände herausgegeben. Wir sind in Dörfern und Städten auf Spurensuche gegangen, waren in Archiven, bei Zeitzeugen, standen im Austausch mit Forschern. Was ich dabei erlebt habe, hat mich meine Heimat und auch meinen Glauben mit anderen Augen sehen lassen.
Ich gehe durch meine Heimatstadt Bayreuth, und wenn ich durch das Gassenviertel am Markt laufe, weiß ich, dass hier einmal die Mitglieder der mittelalterlichen jüdischen Gemeinde lebten, deren Leben durch Vertreibungen geprägt war. Ich stehe vor dem Neuen Schloss und denke daran, wie die Juden von Schutz und Willkür der Herrschenden abhingen. Ich laufe über den Marktplatz, und vor meinem inneren Auge erscheint ein Foto aus dem Jahr 1933, auf dem Uniformierte ein Schild hochhalten: Deutsche kauft nicht beim Juden. Ich betrete das Markgräfliche Opernhaus und weiß, dass die dahinter liegende Synagoge in der Reichspogromnacht auch deshalb nicht angezündet wurde, weil sie direkt an das Theater angrenzt. Ich betrete meine Kirche und weiß, welche Mitschuld das Christentum trägt an der Verfolgung und Ermordung von Juden.
Für mich waren es oft die nur scheinbar kleinen Begebenheiten, die mir bewusst gemacht haben, was Juden hier verloren, was sie erlitten haben. Ich denke an ein Gespräch mit einer Jüdin aus dem Allgäu, 1921 geboren: Sie hatte als junges Mädchen erlebt, wie ihr andere ihre Heimat streitig machen wollten:
"Was mir heute noch weh tut, das war ein Erlebnis in meiner Klasse im Lyzeum, wo ich dachte, wir sind alle eins, wir gehören alle zusammen. Da gab es Poesiealben früher, und die höhere Form davon in der Oberschule war das klassische Vergissmeinnicht: Das waren kleine Büchlein – wie ein Gebetsbuch, mit Goldschnitt -, und da steht jeden Tag ein Gedicht von einem Klassiker, und man lässt seine Freundinnen, wenn sie Geburtstag haben, ihren Namen reinschreiben. Und dahaben mir zwei Mädchen in das Büchlein reingekritzelt: "Hau ab nach Palästina, da gehörst du hin`. Da bin ich aus allen Wolken gefallen." (3)
Ihre Heimat war doch hier. Und nirgendwo anders. Erzählungen wie diese haben bei mir Spuren hinterlassen, rufen mich in die Verantwortung: Niemand soll auf eine solche Weise eine Trennlinie ziehen dürfen – die einen gehören dazu, und die anderen nicht –, und schon gar nicht im Namen des Christentums. Auch deshalb ist es wichtig, offenzulegen, was geschehen ist in der jahrhundertelangen Geschichte der Ausgrenzung, der Verfolgung und Ermordung von Juden hier in unserem Land. Auch, wenn es schmerzt.
Und dann auch immer wieder davon zu erzählen, wie anders es gehen kann, wenn man miteinander lebt. Denn auch dafür gibt es Beispiele - heute, aber auch in vergangen Jahrhunderten: Da nutzen die Coburger Juden ab 1873 die Kapelle St. Nikolaus als ihre Synagoge. In Cham besuchen in den 1920er Jahren bei besonderen Anlässen viele Christen die jüdischen Gottesdienste, um den Gesang und die Ansprache des Religionslehrers und Vorsängers zu hören. In Bamberg lädt die jüdische Gemeinde 1931 immer wieder Schüler zur Besichtigung der Synagoge und zu Konzerten des Synagogenchores ein. Es bereichert und lässt auch die eigene Religion neu entdecken, wenn man das, was einem fremd ist, kennenlernt. Und dabei auch merkt, dass es nicht nur das gibt, was uns voneinander unterscheidet, sondern eben auch so vieles, was Christen und Juden verbindet, wovon beider Glaube erzählt: Etwa, wenn er verspricht, dass keine Klage ungehört verhallt – ob an der alten Westwand des Tempels gemurmelt, in einer Kirche oder in einem Zimmer, irgendwo. Wenn die Bibel davon erzählt, dass kein Mensch verloren geht; auch der, der immer wieder seine Koffer packen muss, wird irgendwann eine letzte Geborgenheit finden. Wenn uns Worte geschenkt werden wie diese: Um meiner Geschwister und Freunde willen will ich dir Frieden wünschen. Und andere Verse und Lieder, die von Hoffnung singen.
Die Blüten am Mandelzweig
Der Dichter Schalom Ben-Chorin vermacht uns dieses Lied. Auch sein Leben war vom Verlust der Heimat geprägt: 1913 wird er als Fritz Rosenthal in München geboren und zu Beginn der NS-Herrschaft mehrfach verhaftet. 1935 flieht er nach Jerusalem und lebt dort bis zu seinem Tod 1999. Den Namen Schalom Ben-Chorin gibt er sich selbst: Frieden, Sohn der Freiheit, heißt er übersetzt. Ein Name, wie eine Überschrift über seinem Leben und Wirken.
Seine Geburtsstadt München beschäftigt Schalom Ben-Chorin sein Leben lang: Isar und Jordan, so beschreibt er es einmal, münden in sein Herz. Der Schmerz über die verlorene Heimat führt bei ihm aber nicht zur Verbitterung, im Gegenteil: Er wird zum Brückenbauer. Die Verständigung zwischen Juden und Christen ist sein Lebensthema, er engagiert sich für die Überwindung von Antisemitismus und Antijudaismus.
Nicht lange vor seinem Tod überlegt Schalom Ben-Chorin einmal, was von ihm, dem großen Religionsphilosophen und Schriftsteller, bleiben werde – das Lied vom Mandelbaum wird wohl dabei sein, prophezeit er. Und so kommt es dann auch.
Freunde, dass der Mandelzweig wieder blüht und treibt, ist das nicht ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt? Dass das Leben nicht verging, so viel Blut auch schreit, achtet dieses nicht gering in der trübsten Zeit. Tausende zerstampft der Krieg, eine Welt vergeht. Doch des Lebens Blütensieg leicht im Winde weht. Freunde, dass der Mandelzweig sich in Blüten wiegt, bleibe uns ein Fingerzeig, wie das Leben siegt. (4)
Es ist im Jahr 1942, als Schalom Ben-Chorin diese Verse schreibt. Er weiß, was in Europa mit den Juden geschieht, er kennt die Schrecken des Krieges, das Leid, die Toten. Und dann blickt er auf den Mandelbaum hinter seinem Haus: Der Mandelbaum, der schon vor dem Frühling blüht, dann, wenn alles um ihn herum noch kahl ist und kalt. Später einmal wurde dieser Mandelbaum umgehauen, Platten wurden in den Hof gelegt. Aber, so erzählt Schalom Ben-Chorin, die Wurzeln des Baumes haben es geschafft, sich wieder einen Weg durch die Steine zu bahnen. Was für ein Zeichen. So hat er auch seine Verse überschrieben: Das Zeichen.
Wer hinauf nach Jerusalem fährt, sieht sie die Wege säumen: die weißen und rosafarbenen Blüten der Mandelbäume. Ein sanftes Blütenmeer, voller Verheißungen und Leichtigkeit.
Ich schließe die Augen. Gott sei Dank, ich sehe sie auch in meinem Leben, die zarten Blüten des Mandelbaums, auch in Zeiten, in denen es um sie herum kahl ist: Da sind Begegnungen zwischen den Religionen und gemeinsame Projekte. Das ist die lebendige jüdische Gemeinde heute in meiner Heimatstadt. Da ist Vertrauen, das wächst. Und Koffer, die ausgepackt bleiben.
(1) Angelika Schrobsdorff: Die kurze Stunde zwischen Tag und Nacht, 7. Aufl., München 2004, S. 44
(2) Luther Übersetzung (1984), Psalm 122
(3) Mehr als Steine (I), Synagogen-Gedenkband Bayern, Lindenberg 2007, S. 490
(4) Zit. nach EG 659