Hier das Handeln, Denken und Fühlen im Glauben an Gott - dort die Kräfte, Zwänge und Ängste, die im Alltag auf uns einwirken. Jeder, der sich selbst als gläubigen Menschen versteht, kennt die sich wiederholende Erfahrung, dass er zu wenig liebevoll, zu wenig dankbar, zu wenig vertrauensvoll, zu wenig hingebungsvoll - also zu wenig christlich - lebt.

Wir wollen unser Leben christlich gestalten, bleiben aber immer wieder hinter unserer Absicht zurück. Manchmal widerstrebt der Glaube dem Alltag, die Kräfte und Zwänge des Lebens reduzieren uns immer wieder sehr stark auf uns selbst. Wir "verkrümmen uns in uns selbst hinein" - wie Martin Luther es ausgedrückt hat.

Wir sind oft unzufrieden, oft egoistisch, oft gleichgültig, oft selbstgerecht und oft unbarmherzig. Aber das ist nicht etwa deswegen so, weil wir irgendwie unverbesserlich schlecht oder böse wären. Sondern weil wir - ob wir wollen oder nicht - in unserer menschlichen Begrenztheit beherrscht werden von einer lebensraubenden Knechtschaft, unter der wir stehen: Es ist die grundsätzliche Sorge, zu kurz zu kommen, oder die Angst, etwas zu verpassen. Die Knechtschaft unter der Sorge, das Gefangensein in den Grenzen und Zwängen unseres Daseins wird von Jesus in der Bergpredigt thematisiert.

Anfechtungen und Versuchungen

Das Freiwerden von diesem sorgenvollen Kreisen um sich selbst ist der Ansatzpunkt dafür, dass sich der Glaube segensreich in unserem Leben entfaltet: "Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt? Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das andere alles zufallen."

Unsere Sorgen und Ängste, unser Getriebensein von Stress und unerfüllten Wünschen und gescheiterten Anstrengungen, unser Kranksein und Altwerden - all diese "Verkrümmungen" des Lebens widerstehen den guten Verheißungen des Glaubens wie Freude, Friede, Freiheit und Gelassenheit. Die Bibel nennt diese Kräfte und Zwänge, die uns von Gott wegtreiben und weglocken, "Anfechtungen" oder "Versuchungen".

Der Dichter Jochen Klepper hat in einem Gedicht die Situation des Angefochtenseins treffend ausgedrückt:

 

Ohne Gott bin ich ein Fisch am Strand,
ohne Gott ein Tropfen in der Glut,
ohne Gott bin ich ein Gras im Sand
und ein Vogel, dessen Schwinge ruht.
Wenn mich Gott bei meinem Namen ruft,
bin ich Wasser, Feuer, Erde, Luft.

Jochen Klepper

Entscheidend ist das "Ich bin von Gott gerufen". Das macht den Glauben aus: wie ich mich selbst verstehe - und wie ich mein Leben führe.

Meine Lebensgründung ist die Basis dafür, wie sich der Glaube auf mein Leben auswirkt. Dieses Gerufensein durch Gott gibt meinem Dasein ein Fundament und ein bestimmtes Selbstverständnis. Es ist etwa ausgedrückt in dem Vers: "Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte!" Gott beruft mich zum Leben als sein geliebtes Kind. Gottes Liebe ist eine schon immer auf mich wartende Liebe. So, wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn der Vater auf den geliebten Sohn wartet.

Im Glauben ruft mich Gott heraus aus meinem Besetztsein von Selbstzweifeln, Selbstverachtung und Unzufriedenheit. Das ist die Frohe Botschaft, das Evangelium: Ich habe die Würde, Kind Gottes zu sein.

Annehmen und Ernstnehmen

Diese Lebensgrundlegung durch Gottes Liebe ist sein großes Geschenk. Gottes Liebe macht mich bedeutend, macht mich wertvoll, macht mich wichtig, macht mich schön in Gottes Augen.

Ich brauche mich nicht selber krampfhaft bedeutend zu machen - und ich darf und soll mich nicht verachten, egal, wie viel Schatten und Fehler ich auch in meinem Leben entdecke. Das Annehmen und Ernstnehmen dieser Würde ist die Voraussetzung dafür, dass mein Leben im Glauben Auswirkungen hat auf meine Lebensführung.

Dass es im Glauben etwas zu lernen gibt in Bezug auf die Lebensführung, wird daran deutlich, dass Jesus im Neuen Testament seine Jünger und Jüngerinnen in die Nachfolge ruft. Dieser Ruf in die Nachfolge Jesu wird im Neuen Testament ausdrücklich als Weg beschrieben, als Prozess, als Entfaltungs- und Wachstumsweg. Glaube ist etwas anderes als die Anerkennung von bestimmten religiösen Ansichten. Glaube im neutestamentlichen Verständnis ist ein Weg der Verwandlung, den Gott mit mir gehen möchte.

Der Raum, der Gott eingeräumt wird, ist Entfaltungsraum für das, was mit der Nachfolge Jesu verbunden ist: Liebesfähigkeit, Freiheit, Freude, Dankbarkeit, Geduld, Hoffnung, Achtsamkeit, Mut - und als Wurzel von all dem: das immer wieder neue Hören auf Gottes Ruf. Nicht dass wir theologisch oder moralisch wissen, was richtig und falsch, fromm oder unfromm ist, ist der Kern des Glaubens, sondern dass wir uns im vertrauenden Mitgehen mit Gott gestalten und formen und verwandeln lassen.

Mahatma Gandhi wurde einmal von christlichen Missionaren gefragt, was sie tun müssten, damit die Hindus die Bergpredigt, das Sinnbild für den christlichen Glauben, annehmen. Seine Antwort lautete: "Denken Sie an das Geheimnis der Rose. Alle mögen sie, weil sie duftet. Also duften Sie, meine Herren!"

Der Duft des Glaubens

Der Duft des christlichen Glaubens ist vor allem dort verlockend, wo er ein verheißungsvoller Duft ist, ein Frühlingsduft. Was ist verheißungsvoll an unserem Glauben? - Es sind ganz elementare Dinge, die unserer Gesellschaft oft mangeln und die gerade deshalb unser besonderer Beitrag als Christen sind: dass ich mit meiner Begrenztheit und Schuld ehrlich umzugehen lerne in einer Zeit, in der Vertuschung und Schuldzuweisung an andere weithin der normale Umgang miteinander ist.

Dass wir als Christen aus unserer Zeit und aus unseren Möglichkeiten nicht das Letzte herauspressen müssen, weil für uns das irdische Leben nicht die letzte Gelegenheit ist, sondern weil wir auf eine gnädige Heilung und Vollendung hoffen dürfen um Jesu willen. Das wäre eigentlich eine ganz besondere Freiheit in einer Gesellschaft, die durch und durch geprägt ist von der ständigen Angst, etwas zu verpassen.

Dass wir unser Leben, unsere Habseligkeiten und die Menschen, die uns begleiten, nicht als unser Recht oder als unser Eigentum behandeln, sondern diese Schöpfung und unsere Lebenszeit und Lebensbegleiter als Geschenke Gottes behandeln - in einer Welt, in der Dankbarkeit eigentlich kaum etwas gilt, sondern vor allem das Recht des Stärkeren.

Oder schlicht und einfach weil ich nicht allein bin, wenn ich mich allein fühle. Dieses Gehaltensein, dieser heilende und beruhigende Duft der Geborgenheit im Glauben ist etwas Besonderes in einer Gesellschaft, die zunehmend unter Vereinzelung leidet. Unser Vertrauen des Hineingehens in dieses herausfordernd schöne und schwere Leben wird von Gott gestützt. Das ist die Verheißung unseres Glaubens! Auch wenn uns diese Verheißungen des Glaubens im Alltag traurigerweise oft und leicht entgleiten. Im Stress und in der Oberflächlichkeit des Alltags, in unserer eigenen Begrenztheit, Gedankenlosigkeit, Ängstlichkeit und Ruhelosigkeit entgleitet uns immer wieder die Glaubensgewissheit, die uns eigentlich überzeugt hat.

Feste Formen und Rituale

Deswegen haben feste Formen und Rituale ihren Sinn: Es ist wichtig, sich im Alltag unterbrechen zu lassen und immer wieder neu auf Gottes Verheißungen und Weisungen zu hören. Das wird durch das 4. Gebot ausgedrückt: "Du sollst den Sabbattag heiligen." Der Glaube braucht die regelmäßige Durchbrechung des Gewöhnlichen. Immer wieder wird in den Evangelien beschrieben, dass Jesus sich regelmäßig allein in die Stille zurückzieht, um sich ganz Gott zuzuwenden und zu beten, dass er sich sogar regelrecht den Erwartungen der anderen entzieht, um in der Stille bei Gott zu sein. Gerade das Unterbrechen des Alltags macht unseren Glauben tauglich für den Alltag.

Gottesdienst und Gebet, Stille, Bibellese, Gespräch über den Glauben - all das in einer gewissen Regelmäßigkeit -, das sind die manchmal gar nicht unbedingt immer spannenden und begeisternden Übungen der Lebensführung im Glauben. Sie sind für die Verankerung des Glaubens im Alltag jedoch unerlässlich. Fulbert Steffensky hat diese Grundformen des Hörens im christlichen Glauben einmal treffend "Schwarzbrotspiritualität" genannt. Also das Einfache, das aber unbedingt nötig ist.

Diese geistlichen Unterbrechungsformen des Alltags sind kein Rückzug aus dem Alltag, sondern - recht verstanden - Gelegenheiten des Wachstums im Glauben, Möglichkeiten für Gott, mich zu verwandeln - vor allem dadurch, dass er redet und ich höre.

Neben der "Schwarzbrotspiritualität" in der Lebensführung des Glaubens gibt es einen Aspekt christlicher Lebensführung, den ich "Entdeckungsspiritualität" nennen möchte.

Entdeckungsspiritualität

Gemeint ist das erwartungsvolle Hineingehen in den Alltag - und nicht bloß ein skeptischer, erwartungsloser oder sogar verachtender Blick auf die Welt. In der christlichen Glaubensgeschichte gab es immer wieder Tendenzen, die Alltagswelt abzuwerten und die eigene Christlichkeit dadurch steigern zu wollen, dass man möglichst wenig Berührung mit der Welt hat. In Jesus kann das kein Vorbild finden! Er hatte keinerlei Berührungsängste in Bezug auf die Welt um ihn herum. Gott zeigt sich im Alltag, in einer besonderen Begegnung, in einem plötzlichen Moment gelungener Nähe, in einer Schönheit des Lebens, in einer besonderen Aufgabe.

Diese "Entdeckungsspiritualität" ist der Mut, sich auf das Leben einzulassen, es zu wagen, zu suchen und auszuprobieren - und gerade aus dem Vertrauen des Glaubens heraus darauf gespannt zu sein, ob da nicht inmitten der Unscheinbarkeit des Alltags plötzlich Zeichen Gottes aufglänzen.