Stellen wir uns kurz Folgendes vor: Menschen aus unterschiedlichsten Ländern und Kulturen, mit den unterschiedlichsten Meinungen kommen zusammen – und verstehen sich. Aber nicht, weil sie plötzlich alle einer Meinung wären. Sondern weil jede*r in seiner eigenen Sprache spricht – und dennoch alle begreifen, was gesagt wird. Klingt verrückt, oder? Willkommen bei Pfingsten.

Pfingsten: Das Gegenteil von Twitter

Pfingsten ist gewissermaßen das theologische Gegenmodell zu unserer (weitgehend digitalen) Debattenkultur. Während sich auf Plattformen wie X (ehemals Twitter), Facebook, und zunehmend auch auf Instagram täglich Menschen absichtlich missverstehen, verunglimpfen und in ihren jeweiligen Echokammern um Likes kämpfen, berichtet die Apostelgeschichte von einem Wunder: Menschen reden – und werden verstanden. Trotz unterschiedlicher Sprachen, trotz unterschiedlicher Ansichten, trotz aller Differenzen.

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Alle hören in ihrer eigenen Sprache – und dennoch entsteht Gemeinschaft. Kein Shitstorm, kein ad hominem, keine passiv-aggressive Emoji-Reaktion. Erstaunlich. 

Ein Fest des Zuhörens – keine Selbstverständlichkeit

Man könnte fast meinen, der Heilige Geist sei ein Fan differenzierter Debattenkultur. Während wir oft schon antworten, bevor wir überhaupt zugehört haben, steht am Anfang von Pfingsten das Verstehen – nicht das Rechthaben.

Kein Wunder also, dass Pfingsten als Geburtstag der Kirche gilt. Denn Kirche, so die manchmal geradezu kühne These, sollte ein Ort sein, an dem Verständigung möglich ist. Ein Raum, in dem nicht alle gleich ticken müssen, aber trotzdem miteinander reden. Und sich verstehen. 

Und ja, das ist manchmal mühsam. Verständigung braucht Zeit, Mut und Geduld.

Von Babylon nach Berlin

Pfingsten ist nicht nur eine schöne Geschichte, sondern eine Gegenbewegung zu allem, was uns auseinandertreibt. In der Bibel steht die Pfingsterzählung bewusst gegenüber dem Turmbau zu Babel.

  • Damals: Menschen, die sich selbst überheben – und am Ende kein Wort mehr miteinander wechseln können.
  • Heute: Menschen, die zwar in Talkshows übereinander sprechen und einander ins Wort fallen, aber nie zuhören.
  • Pfingsten: Ein Fest, das davon erzählt, dass Verständigung möglich ist, ohne Unterschiede zu leugnen oder gar Gleichförmigkeit zu fordern.

Denn das ist das wirklich Revolutionäre: Die Sprachen bleiben. Die Unterschiede auch. Niemand muss sich verbiegen oder sich anpassen. Und doch – oder gerade deshalb – entsteht etwas Neues.

Pfingsten 2025: Braucht der Heilige Geist ein Update?

Natürlich steht die Frage im Raum, ob diese Geschichte aus dem ersten Jahrhundert irgendetwas mit unserer Gegenwart zu tun hat. Wurde der Heilige Geist nicht längst vom Algorithmus abgelöst? Ist "Verständigung" nicht einfach nur ein weiteres nettes Wort, das auf Kirchentagen und in Sonntagsreden bis zur Ermüdung aufgegriffen wird, aber im Alltag versandet?

Aber vielleicht liegt genau hier die Herausforderung: Dass wir nicht aufgeben, trotz aller Unterschiede mit- und vor allem zueinander zu sprechen. Und zuzuhören. Nicht immer gleich zu urteilen, sondern erst mal verstehen zu wollen. Nota bene: Verstehen heißt nicht zustimmen. 

In diesem Sinn ist Pfingsten kein Anlass für einen nostalgischen Rückblick – sondern eine Einladung, dem Lärm der Welt, der droht, alle zu ermüden, hin und wieder ganz bewusst ein offenes Ohr und einen wachen Blick entgegenzusetzen.

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