Wenn viel los ist, in mir drin oder um mich herum, dann suche ich mir einen Ort, wo es ruhig ist. Manchmal ist das eine Kirche. In Nürnberg gehe ich gern nach St. Lorenz. Die große Kathedrale am Beginn der Fußgängerzone. Ich drücke die schwere Seitentür auf und betrete den Kirchenraum. Als die Tür hinter mir zufällt, höre ich die Stimmen der Leute draußen und die Straßenmusik nur noch gedämpft. Ich gehe vorbei an dem Verkaufsstand, mit den Postkarten und Kunstkatalogen. Die junge Frau an der Kasse und ich nicken uns freundlich zu. Im Mittelgang der Kirche bleibe ich kurz stehen. Die Säulen aus grau-beigem Sandstein ziehen wie immer meinen Blick nach oben. Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue. So hoch, so weit, dieser Raum. Ich gehe noch ein Stückchen vor und dann in eine Seitenkapelle. Setze mich auf einen der Stühle, die dort stehen.

Hier sitze ich gern. Vor einem Flügelaltar, bemalt in leuchtendem Rot, Gold, Grün. Warme, kräftige Farben. Der Altar ist in mehrere, einzelne Bilder unterteilt. Auf jedem der Bilder sehe ich eine Frau, die ein blaues Kleid trägt und ein weißes Tuch auf dem Kopf hat. Marta.

Auf dem ersten Bild, links oben, da steht Marta vor ihrer weit geöffneten Haustür. Von der anderen Seite kommt Jesus auf sie zu. Die beiden geben sich die Hände und Jesus hebt seine linke Hand, so als wollte er Marta gleich umarmen. Ich finde, die beiden sehen so aus, als würden sie sich über ihre Begegnung freuen.

Weiter drüben auf dem Altar ein anderes Bild. Da hat Marta zwei Kochlöffel in der Hand, im Herd lodert ein Feuer. Ich habe den Eindruck, im Inneren von Marta lodert es auch. Jedenfalls zeichnen sich auf ihrer Stirn deutliche Zornesfalten ab und sie schaut ärgerlich auf Maria und Jesus. Die beiden sitzen vorne im Bild, miteinander in ein Gespräch vertieft.

Die Geschichte zu den beiden Bildern erzählt der Evangelist Lukas:

Als sie aber weiterzogen, kam Jesus in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf. Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: "Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!"  Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: "Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden."

Zwei Dimensionen von Frömmigkeit

Marta und Maria, zwei Frauen, die ganz unterschiedlich reagieren, als Jesus zu Besuch kommt. Die eine bereitet in der Küche etwas für ihn vor, die andere setzt sich zu ihm und hört ihm zu. Der Kirchenvater Origenes und nach ihm noch viele andere, haben in Marta und Maria zwei Dimensionen der christlichen Frömmigkeit gesehen. Zwei Möglichkeiten, wie Menschen ihren Glauben ausdrücken. Die eine Glaubensdimension ist die, wenn ich etwas für andere Menschen tue, mich um sie kümmere und in diesem Miteinander manchmal Gottes Liebe spüre. Die andere Glaubensdimension ist die, wenn ich bete oder geistliche Musik höre oder in der Bibel lese.

Marta und Maria werden oft als ein Leitbild für den Glauben gesehen, der nicht einseitig ethisch oder einseitig innerlich orientiert ist, sondern beide Dimensionen verbindet. Vita aktiva und vita contemplativa. Den Glauben leben, indem ich etwas aktiv tue, gerade auch für andere und indem ich ganz innerlich bin, mir selber und Gott nahe komme.

Ich kann dieser Deutung viel abgewinnen. Ich finde beides im Glauben und im Leben wichtig. Etwas verkürzt gesagt: Wenn ich mich nur engagiere, dauernd damit beschäftigt bin, etwas zu schaffen, dann kann ich dabei den Zugang zu meinen inneren Quellen verlieren. Den Kontakt zu mir, zu Gott.  Wenn ich nur bete, meditiere, meine Frömmigkeit innerlich lebe, dann droht der Blick auf die Welt, der Bezug zu den Menschen um mich herum verloren zu gehen. Nächstenliebe und das Hören auf das Wort. Gerade die Verbindung von beidem macht den Glauben stark.

Aber Jesus scheint das anders zu sehen. Er sagt zu Marta: "Maria hat das gute Teil erwählt, das soll nicht von ihr genommen werden." Gut ist also: Sich dem Herrn zu Füßen setzen und seiner Rede zuhören. Manche Bibelwissenschaftler lesen im griechischen Urtext sogar: "Maria hat das bessere Teil erwählt." Also doch kein "sowohl als auch", sondern ein "entweder oder" und dazu noch mit einer klaren Wertung? Auf Jesus hören und Bibel lesen ist besser als sich um andere zu kümmern?

Das wurde oft so interpretiert. Gerade wenn es um die ging, die in der evangelischen Kirche ihren Glauben zum Beruf gemacht haben: Da waren Pfarrer, die die Bibel auslegen und predigen und da waren Diakone, die Armen helfen und Kranke pflegen. Die Pfarrer haben sich auf den Evangelisten Lukas berufen und behauptet, sie hätten "das bessere Teil erwählt". Sie wären wichtiger als die Diakone. Die einen haben ihr Selbstbild aufpoliert auf Kosten der anderen. Wie bitter.

Umso mehr freut es mich, dass sich das in der Kirche gerade ändert: An der Evangelischen Hochschule in Nürnberg organisieren meine Kollegen und ich gemeinsame Veranstaltungen für angehende Diakone und zukünftige Pfarrerinnen. Wir tauschen uns aus, in Seminaren und Begegnungstagen: Was ist Dir an Deinem Beruf wichtig? Was macht Dir in Deinem Studium Spaß? Und wir entdecken wie in einer Kirchengemeinde Pfarrerin und Diakon Hand in Hand arbeiten. Wie gut ist es, wenn jeder genau das macht, was er am besten kann: Am Ende so eines Begegnungstags fasst eine Studentin zusammen: "Bald leiten wir gemeinsam eine Kirchengemeinde." Ja, so soll es sein! Ich bin überzeugt, dass wir beides brauchen, das Hören und das Handeln. In der Kirche und der Diakonie sowieso, aber auch jede und jeder im eigenen Glauben: Den Einklang mit sich und Gott suchen und raus in die Welt gehen und sich engagieren.

Eins aber ist not

Hören wie Maria, handeln wie Marta. Bibelwissenschaftlerinnen haben gezeigt: Jesus kritisiert gar nicht grundsätzlich, dass Marta sich kümmert. Er kritisiert, dass sie zulässt, dass ihr das Kümmern über den Kopf wächst und eine Eigendynamik entfaltet:

"Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe." Sie denkt für die anderen mit. Geht es allen gut? Von ihrer Freundin hat sie schon auffällig lange nichts mehr gehört. Sie macht sich Sorgen. Sie greift nach dem Handy. Bleibt in der Nachrichten-App hängen. Immer noch keine Entscheidung für die neue Regierung. Ach, der Wocheneinkauf. Die Milch fürs Müsli ist ausgegangen. Schnell noch den Einkaufszettel in den Notizen fertig tippen. Da piept die Waschmaschine. Ja, stimmt, der Jüngste braucht morgen sein Fußballtrikot. Mit dem Wäschekorb unter dem Arm geht sie durch den Flur. Gut, dass sie den Stapel Unterlagen dort auf der Ablage sieht, die soll sie für den Kollegen lesen. Mal sehen, wann sie das unterkriegt. Und bei ihrer Freundin hat sie sich immer noch nicht gemeldet. Puh.

"Marta, Marta, du hast viel Sorgen und Mühe." Für Jesus ist nicht das Kümmern an sich ein Problem; das Problem ist, dass Marta sich selber in den Kummer kümmert. Im Dauerkümmern um die anderen verliert sie den Kontakt zu sich selber. Sie fühlt sich getrieben und von außen bestimmt. "Marta, Marta. Eins aber ist not. Kehr zurück zu Dir. Deswegen bin ich da."

Im Hamsterrad

"Eins aber ist not." Jesus fordert mich auf, langsamer zu machen, aus meinem inneren Hamsterrad auszusteigen. Aber – will ich das eigentlich? So ein Hamsterrad hat ja auch etwas Gutes. Es dreht sich absolut zuverlässig: Der nächste Schritt, der nächste Termin, die nächste Aufgabe, die ergeben sich von ganz allein. Und ich finde es befriedigend, auf meiner ToDo-Liste Haken zu setzen. Check, wieder was erledigt! Es läuft. Ich laufe. Merke, dass ich in Bewegung bin und was schaffe und das tut mir gut.

Aber das kenne ich auch: Dass ich müde bin vom vielen Laufen. Kaum Luft zum Atmen bekomme zwischen dem einen Termin und der nächsten Aufgabe. "Eins aber ist not." Stopp. Mal angenommen das Hamsterrad hält an. Dann würde vielleicht für einen Moment Ruhe in mir einkehren. Das wünsche ich mir eigentlich. Und zugleich schrecke ich davor zurück: Dazu müsste ich meine Routinen unterbrechen. In Kauf nehmen, dass der Laden heute womöglich nicht so läuft, wie ich ihn sonst organisiere. Stillstand zulassen. Aushalten, dass vielleicht erstmal Leere in mir entsteht. Gar nicht so einfach. Wer weiß, was in dieser Leere in mir aufsteigt. Ob ich überhaupt wieder in die Gänge komme. Und was, wenn die Leere bleibt?

Meine erste Begegnung mit der Leere habe ich vor vielen Jahren bei Schweigeexerzitien gemacht. Die Anleiterin hat uns den Ablauf der Meditationen erklärt und dann hat sie gesagt: "Schreibt mal auf, was ihr im Schweigen erwartet." Als wäre ich Maria habe ich mich hingesetzt, in mich hineingehorcht und dann geschrieben: "Ich freue mich darauf, dass ich leer werde und Gott begegne." Und Ja, es haben Begegnungen stattgefunden. Mit meiner Ungeduld, mit dem Husten des Nachbarn, mit dem Schmerz in meinen Kniegelenken. Und mit Gedanken. Ich bin sehr, sehr vielen Gedanken begegnet. Oder sie mir. Ich weiß noch, ich bin damals nicht wirklich leer geworden. Nicht so richtig Maria…Es war eher so, dass ich mein innerliches Dauerlaufen, mein Getriebensein kennengelernt habe. Die Marta in mir.

Rollenbilder damals und heute

Auf dem Marta-Altar in der Lorenzkirche sehe ich noch ein anderes Bild. Da stehen ein paar Männer und Frauen um ein offenes Grab herum. Marta ist auch dabei. In dem Grab sitzt ein Mann im weißen Leintuch. Kein Leichnam, der im Grab liegt. Nein, wirklich, der Mann sitzt im Grab, mit offenen Augen. Ich kenne die Geschichte aus dem Johannesevangelium: Jesus hat Lazarus, den toten Bruder von Marta und Maria, zum Leben erweckt. Lazarus ist wieder lebendig geworden.   

Mein Blick wandert über den Altar: Hier Lazarus im Grab, drüben Marta in der Küche. Ich schaue zwischen beiden hin und her und versuche eine Gedankenexperiment. Mal angenommen, in dem Küchenbild würde Lazarus auftauchen und Martas Stelle einnehmen. Die Geschichte, die Lukas erzählt, würde dann so klingen:

"Jesus kam in ein Dorf. Da war ein Mann namens Lazarus. Der nahm ihn auf. Und er hatte eine Schwester, die hieß Maria, die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu. Lazarus aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen."

Ein Mann, der sich um den Haushalt kümmert, während nebenan ein angesehener Gast sitzt und mit der Schwester spricht. Ich gebe es zu, ich habe Schwierigkeiten damit, mir Lazarus in Martas Rolle vorzustellen. Nicht nur zu biblischen Zeiten.

Das passt nicht zusammen mit den Rollenbildern, die mich von klein auf geprägt haben. Entstanden sind diese Rollenbilder im 19. Jahrhundert. Mit der Industrialisierung haben sich verschiedene Sphären von Arbeit entwickelt, die auf Männer und Frauen aufgeteilt wurden: Die Männer sind zum Geldverdienen in die Fabrik und haben so für den Unterhalt der Familie gesorgt. Die Frauen sind daheim geblieben und haben sich um Haus, Hof und Kinder gekümmert. Erwerbsarbeit im öffentlichen Raum ist Männersache, Hausarbeit im Privaten ist was für Frauen.

"Naja, das ja eine halbe Ewigkeit her!", könnte man denken. Und auf eine Weise stimmt das auch. Es hat sich seither viel getan. Mutige Frauen haben sich – schon im 19. Jahrhundert und danach immer wieder – für gleiche Rechte für beide Geschlechter eingesetzt. Die historisch gewachsenen Rollenbilder sind heute nicht mehr so eindeutig auf Männer und Frauen verteilt. Und doch: Die Care-Arbeit, unbezahlte Sorge-Arbeit, die heute in Deutschland geleistet wird, wird zu 80% von Frauen geleistet. Sie sind es, die mit den Kindern Hausaufgaben machen und das Geburtstagsgeschenk für den Freund der Familie organisieren. Sie sind es, die den alten gewordenen Vater zum Arzt fahren und den Hund der Nachbarin Gassi führen, wenn die krank ist. Diese Frauen leisten Enormes. Sie tragen viel Verantwortung und bekommen dafür immer noch wenig Anerkennung. Zu wenig. Darauf wurde gestern am Equal Care Day aufmerksam gemacht. Bei den deutschlandweiten Aktionen wurde dafür geworben, dass Care-Arbeit fair verteilt und honoriert werden muss.

Marta als deutsche Hausfrau

Wenn ich mit diesen Rollenbildern vor Augen auf die Marta in der Küche schaue, dann sehe ich in ihr die Hausfrau, die daheim für alle und alles sorgt. Die Familienmanagerin. Sie ist die Kümmerin. Sie schafft viel und währenddessen denkt sie schon an das, was als nächstes passieren muss: Den Eintopf abschmecken, gleich noch den Tisch decken. Dann können alle zusammen essen.

Marta macht und tut und denkt voraus und ihr wird heiß. Nicht nur vom Feuer im Herd. Sie ist ganz allein in der Küche und kümmert sich, dass gleich alle zusammensitzen und essen können. Die anderen beiden sitzen im Wohnzimmer. Die da drüben müssen doch merken, wie sie sich abrackert. Was machen die überhaupt? Nichts. Rumsitzen. Reden. Mit jedem Handgriff wird Marta wütender: "Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!"

Equal Care Day damals, gegen die Wut, gegen die Einsamkeit, gegen die Erschöpfung, für Gerechtigkeit zwischen den Schwestern.

Equal Care Day heute, gegen die trügerische Selbstverständlichkeit, dass Frauen Sorgearbeit leisten, für Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern.

Wir warten immer noch auf mehr Gerechtigkeit. Eine gerechte Welt. Waiting on the world to change! Gesellschaftliche Veränderungen sind immer noch nötig…

Marta, die Drachenbezwingerin

Neben den biblischen Geschichten von Marta werden noch andere erzählt, liebe Leserinnen und Leser. Ich mag besonders eine alte französische Legende. Sie erzählt, dass Marta und ihre Geschwister ins Rhônetal gezogen sind. Dort treibt Tarasque sein Unwesen, ein wilder, Menschen fressender Drache.

Ich sehe ihn vor mir auf dem Altarbild. Da steht der Drache, grasgrün, mit riesigen Klauen und Zähnen, gespreizten Flügeln. Er verschlingt gerade einen Mann. Dessen Beine baumeln dem Drachen aus dem weit aufgerissenen Maul. Richtig gruselig.  

Neben dem Drachen steht Marta in ihrem blauen Gewand. Den Kopf hoch erhoben, schaut sie über das Ungeheuer hinweg. In ihrer linken Hand hält Marta ein großes Kreuz. Was sie in ihrer Rechten hält, ist schwer zu erkennen. Ich muss genau hinsehen, so unscheinbar ist diese Leine. Aber, ja, das ist eine Leine wie so ein Kälberstrick oder wie ein Springseil. Das eine Ende hält Marta fest und am anderen Ende: Da ist der Drachen angebunden. Marta hat ihn besiegt. Das Ungeheuer ist gezähmt.

Wie Marta das gelungen ist, den Teil der Geschichte, zeigt das Altarbild nicht. Der Legende nach ist sie zu dem Fluss gegangen, in dem der Drache gelebt hat. Am Ufer des Flusses fängt sie an zu singen. Als der Drache den Gesang hört, steigt er aus dem Wasser und lauscht Martas Liedern. Sie singt so lange und so schön – da schläft der Drache ein. Marta geht zu ihm hin und legt ihm die Kordel an. Aufatmen. Frieden.

Ich sehe diesen menschenfressenden Drachen und ich sehe all das, was auch Martas Leben immer wieder auffrisst: Viel Sorgen und Mühe. Dasein für andere und sich dabei selber verlieren. Ein Kummer-Kümmern. Und zugleich sehe ich auf dem Marta-Altar die Frau, die sich dem Drachen gestellt hat. Marta zeigt mir: Den Drachen zähmen – das geht. Ich bin nicht nur von meinen Aufgaben gesteuert, nicht nur willenlos getrieben. Ich kann mein Leben gestalten und ich tue es! An Marta sehe ich aber auch: Sie hat den Drachen nicht getötet, er ist nicht einfach verschwunden. Sie weiß genau, dass Wut, Einsamkeit und Erschöpfung wieder drohen, wenn sie sich zu viel Sorgen und Mühe macht. Der Drache hat noch Kraft.

Ich stelle mir vor, dass Marta ihn aufmerksam beobachtet, wenn er sich regt und die Zähne fletscht. Dass sie spürt, wie er immer mal an der Leine zieht. Ich kenne das auch, dass ich merke, wie ich wieder getrieben bin. Ich will mich nicht noch mehr am Riemen reißen und noch effektiver werden müssen – aber einfach draufhauen bringt auch nix. Ich möchte viel lieber singen, so wie Marta es getan hat: Vielleicht hat sie für den Drachen ein Schlaflied gesungen, ein anderes Mal vielleicht einen Protestsong. Es ist aber gar nicht so wichtig, welche Melodie es ist. Wichtig für Marta ist, dass sie singt. Sie spürt, wie aus ihrem Inneren Töne aufsteigen, wie sie mit dem Atmen den Körper verlassen. Sie hört ihre Stimme. Sie schließt das Mailprogramm, lässt die Bügelwäsche Bügelwäsche sein und die Rechnungen Rechnungen. Marta singt und kommt zu sich, zu Gott. Sie öffnet sich für das, was not ist. Gerade hier, gerade jetzt. Und das wird nicht von ihr genommen werden.

Marta, Marta! Was für eine mutige Frau! Ich nicke ihr auf dem Altar zu und stehe auf. Im Mittelschiff der Lorenzkirche hebe ich den Kopf, schaue noch einmal in den hohen weiten Raum. Dann gehe ich zurück, Richtung Ausgang. Als ich draußen bin, fange ich leise an zu singen.

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.

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