Heute ist für mich ein besonderer Tag. Heute vor 28 Jahren bin ich konfirmiert worden. Wenn ich in meinem Fotoalbum blättere, werden die Erinnerungen wach: Die ganze Familie ist zusammen gekommen. Mittags im Gasthof gab es Filet, und ich musste eine Rede halten. Nachmittags dann Kaffee und Kuchen im Garten meiner Eltern, unter der Pergola, an der der Blauregen blühte. Meine Oma hatte Buttercremetorte gemacht, die es nur zu höchsten Anlässen gab.
Und die Kirche - bis auf den letzten Platz voll war es. Alle standen auf und blickten auf uns, als wir einzogen. „Großer Gott wir loben dich“ wurde gesungen. Es war als ob die Wände wackeln. Und dann war da dieser eine Moment: Ich knie nieder, in meinem Kopf gehen viele Gedanken durcheinander, mein Konfirmationspfarrer legt uns die Hände auf und sagt:
„Gott Vater Sohn und Heiliger Geist gebe dir seine Gnade. Schutz und Schirm vor allem Argen. Stärke und Hilfe zu allem Guten, dass du bewahrt werdest zum ewigen Leben“
Man soll dann Amen sagen, hat man uns bei der Probe gesagt. Ob ich da Amen gesagt habe – keine Ahnung. So eine Wucht war das für mich, diese Konfirmation, dieser Segen. Mir ganz persönlich zugesprochen. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist…. Große Worte…Schutz, Schirm und Hilfe, das habe ich verstanden, das leuchtet ein. Aber dieses andere…. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist. Das klang fast wie eine Zauberformel, verschlüsselt, geheimnisvoll.
Viele Jahre später, als ich zum Dienst als Pfarrer ordiniert wurde, bekam ich wieder einen persönlicher Segen. Ausgerechnet ich sollte Pfarrer werden (lachend). Oft hat mich das umgetrieben. Je näher der Tag kam, umso mehr Zweifel hatte ich an mir, an meinem Beruf und auch an meiner Kirche. Die Worte „Ich bin bereit“ gingen mir kaum über die Lippen. Geholfen hat mir neben manchen Gesprächen mit Freunden vor allem, dieser eine Moment. Fünf Menschen stehen um mich herum, legen mir die Hand auf und sprechen mir ein Wort aus der Bibel zu. Und die Bischöfin spricht abschließend den Segen. Dieser Moment hat mich bestärkt und beruhigt. Es war wie ein großes „Ja“. Ja! Geh diesen Weg. Es wird ein guter Weg, wie auch immer.
Und seither erlebe ich als Pfarrer viele Gelegenheiten, wie Menschen beim Segen ergriffen sein können. Bei Taufen, bei Trauungen und Partnerschaftssegnungen. Oder einmal im Jahr beim Gottesdienst im Seniorenheim mit Segnung und Salbung. Musik spielt. Ich gehe durch die Reihen. Mit duftendem Rosenöl zeichne ich Menschen das Kreuz auf die Stirn und in die Handflächen. Ich frage sie nach ihrem Vornamen. Und dann gibt es für jeden einzelnen ein Segenswort. Intim und zärtlich ist das. Beim ersten Mal auch ungewohnt. So viel Nähe. Berührung… Manche im Seniorenheim werden höchstens von Pflegern und der Ärztin angefasst. Und so erlebe ich die Menschen beim Segen im doppelten Sinn berührt. Bei manchen staune ich. Eine demente Bewohnerin schaut mich ganz wach an, und es ist klar: Sie weiß auf ihre Weise jetzt genau, was hier gerade geschieht. Ein anderer hat eine fortschreitende Krebserkrankung. Ob es das letzte Mal ist, dass er gesegnet wird?
Viele haben Tränen in den Augen. Manche versuchen die Rührung wegzudrücken, indem sie die Augen schließen oder ein bestimmtes Gesicht aufsetzen. Er ist intensiv und intim, dieser Moment des Segens.
Genauso ist auch ein Musikstück von Felix Mendelssohn-Bartholdy. „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen“…
Nach dem Sinn des Lebens fragen
Warum ist das so bewegend? Was geschieht denn beim Segen, dass diese Geste so bewegt?
Es sind sicher die sensiblen Momente, wenn ich vor einer neuen Lebensphase stehe. In so einem Übergang tauchen Fragen auf. Wer bin ich? Woher komme ich? Und wohin gehe ich? Was tue ich eigentlich und soll ich noch tun in der Zeit, die vor mir liegt?
Solche Fragen bedenkt und bespricht man nicht dauernd und auch nicht mit jedem. Aber sie sind da und bewegen, oft tief im Inneren. Wenn ein Kind geboren wird. Wenn man in eine neue Phase des Erwachsen- oder Älterwerdens geht. Wenn jemand krank wird. Wenn der Vater stirbt. Oder auch wenn auf einmal klar ist: „Das ist meine große Liebe, mit der ich zusammen gehöre“. Ja, und da ist man dünnhäutig. Irgendwo in unserem Inneren flüstern sie, lauter und hörbarer als sonst - diese Fragen: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was tue ich eigentlich und was soll ich noch tun?
Diese Fragen sind kurz gesagt: die Frage nach dem Sinn unseres Lebens.
In der bloßen Frage danach steckt etwas Unheimliches, etwas Gefährliches: Der Sinn meines Lebens ist nicht einfach klar so und so. Der Sinn meines Lebens ist mir nicht zugänglich oder greifbar wie der Keks in der Keksdose. Es könnte auch sein, dass ich den Sinn meines Lebens verfehle. Dass ich am Sinn meines Lebens vorbei lebe. Oder schon vorbei gelebt habe – und es gibt kein Zurück mehr.
Worin besteht der Sinn meines Lebens?
Ein Philosoph und Theologe des letzten Jahrhunderts, Paul Tillich, bezeichnete diese Frage als die „religiöse Dimension“ des Menschen. Tillich schreibt
Religiös sein bedeutet, leidenschaftlich nach dem Sinn unseres Lebens zu fragen und für Antworten offen zu sein, auch wenn sie uns tief erschüttern. (Tillich, Die verlorene Dimension, 8)
In jedem Menschen ist diese religiöse Dimension. Sie hat mit Leidenschaft zu tun. Sie lässt uns nach dem Sinn unseres Lebens fragen. Sie ist für Antworten offen. Und sie kann uns tief erschüttern, unruhig machen, umtreiben.
Wenn jemand persönlich gesegnet wird, ist diese religiöse Dimension berührt. Da habe ich es mit dem Woher und Wohin meines Lebens, mit dem Sinn meines Daseins zu tun. Da ist es, als ob ich da ganz nah am Geheimnis meines Lebens bin. Als ob ich es berühre. Oder eher berührt werde? Es bleibt Geheimnis. Heilig. Groß. Die Tiefe. Grund. Und Abgrund. Oder, mit dem ganz großen Wort der Tradition gesagt ……GOTT
Wenn ich gesegnet werde, kann ich berührt werden, vom Heiligen. Vom Geheimnis des Lebens. Gott und ich. Ich und Gott.
Das Kreuz – eine umstrittenes Segenszeichen
In einem sehr alten Lied aus der Bibel heißt es:
„Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen im Himmel durch Christus“ (Eph 1, 3)
Mit allem geistlichen Segen… Dass ich vom Geheimnis des Lebens berührt, ergriffen werde, kann in der Natur geschehen, besonders jetzt im Mai, wenn alles blüht und duftet. Oder in den Bergen oder am Meer. Es kann mich ergreifen in der Kirche, in einem Gottesdienst. Oder wenn ich Musik höre. Es kann mich ergreifen in der Ekstase einer Liebesnacht. Oder wenn mir plötzlich Trost und Mut zuwächst, Schweres und Unabänderliches anzunehmen.
Die christliche Tradition kennt auch eine Vielzahl von Symbolen und Ritualen, von Zeichen und Gesten für den Segen. Eine der ältesten Gesten ist das Kreuzzeichen. Zunächst erinnert es an den Tod Jesu, an seine Hinrichtung als politisch Gefangener der Römer. Christen haben darin immer noch mehr gesehen. Seine ausgebreiteten Arme sind Zeichen für Vergebung, fürdie göttliche Liebe, die alle umarmen und niemanden ausschließen möchte.
Das Kreuz ist somit ein Segenszeichen.
Das Dorf meiner Kindertage, in dem ich konfirmiert wurde, liegt in Oberbayern. Und es war ausgerechnet in einem der Nachbarorte, in dem der Kruzifixstreit in den 90er Jahren begann. Darf und muss in jedem Klassenzimmer ein Kreuz hängen? Kann man das den Kindern zumuten? Und was ist bitteschön mit den Kindern, die Muslime sind oder keiner Religion angehören? Fragen, die seit damals heftig diskutiert werden, die Gerichte beschäftigt haben und bis heute polarisieren.
Unsere Gesellschaft ist in diesem Bereich in den letzten Jahrzehnten sensibler geworden. Religiöse Symbole können irritieren und Streit auslösen. Was für den einen ein Segenszeichen göttlicher Liebe ist, erinnert die andere an schlimme Kapitel der Kirchengeschichte. Im Namen und im Zeichen des Kreuzes ist Unrecht und Schlimmes geschehen.
Vor einem Monat wurde beschlossen, dass künftig in bayerischen Landesbehörden das Kreuz hängen soll. Das Kreuz als Symbol bayerisch-christlicher Identität. In den Diskussionen darum hat sich eins wieder gezeigt: Zeichen und Symbole sind mehrdeutig. Die vielen möglichen Deutungen und Bedeutungen gingen in den Diskussionen oft durcheinander.
Was bedeutet das Kreuz wem?
Und wer hat das Recht, das Kreuz zu erklären?
Die Kirche? Und wenn ja, welche Kirche und wer genau in der Kirche?
Oder erklärt uns das Kreuz besser eine Partei oder der bayerische Ministerpräsident?
Ich meine: Das Kreuz ist zunächst und zuerst ein religiöses Symbol. Und es ist eine wichtige Errungenschaft der Neuzeit, dass Religion und Politik nicht völlig zu trennen aber deutlich zu unterscheiden sind. Christlich gesehen ist das Kreuz ein Segenszeichen.
Kann es darüber hinaus auch für unsere Kultur stehen? Für eine „christliche Kultur“? Für das so genannte „christliche Abendland“?
Da sage ich: Vorsicht. Die christlich-abendländische Kultur war keineswegs nur ein Segen. Manche Freiheit, die heute für uns in Kirche und Staat völlig selbstverständlich ist, musste gegen die Kirchen und gegen die vermeintlich christliche Kultur durchgesetzt werden. Ich denke an die Gleichstellung von Frau und Mann. Die Kirchen waren ebenso wie viele kirchennahe Politiker nicht unbedingt die Vorreiter von solchen Ideen. Der Bau so mancher evangelischen Kirche in Oberbayern oder katholischen Kirche in Berlin oder Hamburg ist im Namen der jeweiligen Mehrheitsreligion behindert worden. Und das ist noch gar nicht lange her. Das Christentum in unserem Land war keineswegs nur ruhmreich. Es hat ausgegrenzt und sich oft nur langsam und zäh weiterentwickelt.
Vor zwei Wochen fand in München ein besonderes Chorfestival statt. „Various Voices“. 93 Chöre aus 19 Ländern, tausende Chorsängerinnen und Chorsänger, alle lesbisch, bi, schwul oder transgender, sangen auf den Straßen und in den großen Konzertsälen Münchens. Auf dem Odeonsplatz fand ein großes Open-Air-Konzert am Samstagabend statt: für alle zum Mitsingen. Es war wunderschön, bewegend und ein Symbol für die Offenheit unserer Gesellschaft heute. Ich denke, das wäre vor 50, 60 Jahren nicht denkbar gewesen.
Ein Segen, diese Offenheit. Es ist eine Offenheit im Geist der offenen Arme, die niemanden ausschließen wollen. Eine Offenheit, die sich oft gegen die Kirchen und kirchennahe Parteien durchsetzen musste.
Das Kreuz – ein Globetrotter
Das Kreuz ist ein Globetrotter. International, Kulturen verbindend. Der Mann aus Nazareth breitet die Arme aus, für alle Menschen und Regionen. Niemand soll vereinnahmt werden, der es nicht will. Und niemand soll ausgegrenzt werden im Zeichen des Kreuzes. Das Christentum ist selbst eine zugereiste Religion. Aus dem Alten Israel über Syrien, Griechenland und Italien kam es zu uns. Die Ursprünge meiner eigenen evangelischen Konfession kommen nicht seit jeher aus Bayern, sondern aus Sachsen, aus Wittenberg.
Das Kreuz ist ein Globetrotter. Ich erlebe das jedes Jahr auch beim Corso Leopold, einem großen Straßenfest auf der Münchner Leopoldstr. Unter anderem gibt es dort seit einigen Jahren einen Kreis der Religionen. Evangelische, katholische und orthodoxe Christen, Muslime, Juden, Bahai… Alle nebeneinander. Sie haben Stände, informieren und bieten den Festivalbesuchern etwas an: Zum Beispiel ein Bibel- und Koranquiz. Lesungen. Musik von einem Posaunenchor. Tanzgruppen. Ein Programm für Kinder. Eine Rappergruppe. „Kreuzrapper“ nennen sie sich mit Augenzwinkern, benannt nach der Kreuzkirche, von der sie herkommen. Wichtig ist vor allem das Zeichen: Wir sind da. Wir gehören dazu, zu dieser Stadt und zu diesem Stadtteil. Wir sind alle dem Ideal der Humanität und dem Frieden verpflichtet. Schaut doch einfach mal, was es hier für euch gibt. Für euer Fragen nach dem Sinn des Lebens. Vielfältig – wie Menschen – ist der Kreis der Religionen. Und entsprechend ist das Logo gestaltet. Mehrere Halbmonde, Kreuze, Davidssterne und andere Symbole, im Hintergrund ein Zelt. Natürlich ist das Kreuz dabei, als ein wichtiges Symbol. Eines neben anderen.
Es erinnert an Jesus und an den Segen, der Jesus für die ganze Menschheit ist. Das schließt andere Religionen nicht aus. Dass es andere Religionen gibt, gerade das kann meinen eigenen christlichen Glauben bereichern und vertiefen. Dann frage ich mich nämlich:
Warum bin ich evangelisch und nicht römisch-katholisch oder orthodox?
Warum eigentlich Christin und nicht Muslima?
Ich bin mir meines Glaubens gewiss mit Kreuz und ohne Kreuz. Einen kreativen und flexiblen Umgang mit dem Kreuz lerne ich bei Martin Luther. Der hat vorgeschlagen, sich morgens und abends zu bekreuzigen.
Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes...
Des Abends, wenn du zu Bett gehst, kannst du dich segnen mit Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen: Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen
Kannst, schreibt Luther. Nicht: Du musst, du sollst. Du kannst. Das heißt für mich: Du kannst es auch unterlassen, wenn jemand da ist, der sich massiv daran stört.
Manchmal bekreuzige ich mich auch. Für mich ist das mehr Vergewisserung, als wenn ein Raum mit christlichen Symbolen geschmückt ist. Es geht ja letztlich weniger darum, dass Kreuze an Wänden hängen oder dass Menschen sich bekreuzigen. Es geht doch darum, dass Menschen sich gesegnet wissen und ihr Leben an dem Mann am Kreuz ausrichten und so das Kreuz und den Segen mit Leben füllen.
Gesegnet bin ich nie allein
Heute feiert die Kirche Trinitatis, die Trinität.
In ihrer Geschichte hat die Trinität für heftige Kontroversen gesorgt. Sie hat Kirchen und Politiker gespalten, unvergleichlich heftiger als die Kreuzdebatten dieser Tage.
Heute ist es ruhig geworden um die Trinität. Für die einen zu schwer zu denken. Für andere einfach belanglos, ein Relikt aus alten Zeiten. Vergessen wäre die Trinität, würde sie nicht zur Segensformel gehören, wie etwa beim Konfirmationssegen: Gott Vater Sohn und Heiliger Geist…..
Wer sich mit dem Kreuzzeichen segnet, verbindet sich mit der Geschichte Jesu, mehr noch: Mit der ganzen Geschichte Gottes. Vater – Sohn – Heiliger Geist – drei Namen für den einen Gott. Das Geheimnis der Trinität. Drei Weisen, Gesichter Gottes, Seinsweisen. Drei in eins. Wow. Wie unglaublich groß….
Das lässt mich staunen und verschlägt mir die Sprache, macht mich still und ehrfürchtig, fast wie damals als Konfirmand, als über meinem Leben gesagt wurde: Gott Vater Sohn und Heiliger Geist.
Gott kann sich auf vielfältige Weise erschließen und mein Leben berühren. Über mein Leben nachdenken, heißt für mich auch: Staunen. Segen entdecken. Berührungen entdecken. Da und dort und immer wieder bin ich spürbar berührt worden vom Geheimnis des Lebens. Und gewiss auch oft, wenn ich nichts gespürt habe davon.
Der Segen mit dem Kreuzzeichen macht mir Jesus Christus bewusst. Unsere Tradition nennt ihn: Sohn Gottes. Und ich? Was bedeutet er mir? Hat er mit dem Woher und Wohin, mit dem Sinn meines Lebens zu tun? Darum ringe ich immer wieder und erfahre dabei: In ihm bin ich gesegnet, berührt vom Heiligen, vom Geheimnis des Lebens. So kann ich werden, was ich bin: Gesegnet. Und gesegnet bin ich nie allein.