Sonntagsspaziergang

Als Kind habe ich ihn geliebt – den Sonntagsspaziergang. Nach dem Mittagessen haben wir Kinder gespült und abgetrocknet, die Eltern haben Mittagsschlaf gehalten, und am Nachmittag sind dann alle zusammen raus gegangen. Weil wir mussten. Aber wir Geschwister haben dann auf dem Weg gespielt, Sachen gesammelt, Witze erzählt oder gesungen. Ich bin gerne an der Hand meines Vaters gelaufen, manchmal hat er Geschichten erzählt.

Es waren nie lange Wanderungen. Als Jugendliche habe ich mich dann trotzdem davor gedrückt, so gut es ging. Ich hab mich lieber in mein Zimmer verkrochen, aufs Bett gelegt und gelesen. Sonntagsspaziergang fand ich spießig. So wie auf dem Gemälde von Spitzweg – da gehen Vater, Mutter, Kinder im Gänsemarsch durch Wiesen und Felder und schauen irgendwie lächerlich aus. Und das Lied von dem Liedermacher Franz Josef Degenhardt konnte ich auswendig mitsingen: "Sonntags in der kleinen Stadt…Und dann die Spaziergangsstunde, durch die Stadt, zweimal die Runde – Hüte ziehen, spärlich nicken – wenn ein Chef kommt, tiefer bücken…". Das war nichts für mich und meine Freiheitsliebe.

Ich finde, ich habe ihm damit unrecht getan, dem Sonntagsspaziergang. Inzwischen, Jahrzehnte später, weiß ich ihn zu schätzen. Das Rausgehen tut gut, Zeit zum Reden haben, Hand in Hand den nächsten Urlaub planen oder schon mal über Weihnachtsgeschenke nachdenken, Zukunftspläne schmieden oder eine Weile schweigen.  Einfach Zeit miteinander teilen und Sauerstoff. Und das Ganze im Gehen. Ich liebe es, schnell zu gehen. Es erfrischt mich. Wenn ich laufe, kommen mir ganz andere Ideen als im Stillstand. Und ganz andere Gesprächsthemen.

Mein Mann und ich gehen sonntags die große oder die kleine Runde, am Fluss entlang, vorbei an Spielplätzen, an Friedhof und Schwimmbad, der Klinik, dem Pflegeheim, der Obdachlosen-Schlafstätte für Männer und der für Frauen... Und mit uns sind viele unterwegs. Junge und Alte, mit oder ohne Rollator, mit oder ohne Kinderwagen und Fahrrad.

Die meisten Menschen haben Zeit, manche Langeweile. Und da tut der Himmel überm Kopf allen gut. Wir sehen so viele, die sich unterhalten, diskutieren, lachen. Im Vorbeigehen fange ich ein paar Worte auf oder einen kurzen Blick. Ich finde das großartig: Wenn Leute miteinander reden, ganz vertieft sind ins Gespräch, Freundinnen, Liebespaare, Vater und Sohn. Dann, denke ich, ist doch alles noch ganz in Ordnung in unserer Gesellschaft – wenn die Menschen miteinander in Kontakt sind und reden und – spazierengehen. Sonntags. Einmal durch die frische Luft, hieß es bei uns daheim. Ich bin froh, dass ich das wiederentdeckt habe. Spießig finde ich ihn gar nicht mehr, den Sonntagsspaziergang sondern wohltuend und heilsam. Für mich hat er was von: "Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund."

Geheiltsein ist mehr als Gesundsein

"Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund." So geht die biblische Geschichte für diesen Sonntagmorgen. Es ist eine Wunder- und Wassergeschichte, eine Heilungsgeschichte, und alles geschieht an einem Schabbat-Tag, an einem Sonntag.

Es war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.  Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen;  in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. 

Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? 

Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. 

Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

Es war aber Sabbat an diesem Tag. Da sprachen die Juden zu dem, der geheilt worden war: Heute ist Sabbat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tragen. Er aber antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Sie fragten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber geheilt worden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war fortgegangen, da so viel Volk an dem Ort war. 

Danach fand ihn Jesus im Tempel und sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden; sündige nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlimmeres widerfahre. Der Mensch ging hin und berichtete den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. (Joh 5, 1-15)

Also, ich freue mich ja immer, wenn es gut ausgeht. Heilungsgeschichten sind da perfekt. Sie schenken ein verlässliches Happy End - oder besser ein Happy Beginning. Aufstehen, das Bett nehmen, gehen, gesund und heilt werden – das ist großes Kino! Neu anfangen, sich trauen und verändern, einen Ausweg finden und das Glück. Das ist weit mehr als bloß ein Sonntagsspaziergang und "einmal durch die frische Luft". Es ist das Leben selbst, auch das soziale Leben. Der Geheilte gehört wieder dazu – zur Gesellschaft, also zur Gemeinschaft der Gesunden.

So ist es ja bis in unsere Zeit hinein: Hauptsache gesund! Gesundheit ist das wichtigste, der Rest kommt von allein. Eltern sagen das, die auf ihr Kind schauen, und alte Menschen, die sich sorgen. Hauptsache gesund, das finden Chefs und Arbeitgeber, Politikerinnen und Politiker, denn eine gesunde Wirtschaft braucht schließlich gesunde Arbeitskräfte. Gesunde bringen Leistung. Menschen müssen funktionieren. Sonst bringen sie nichts. Die Nicht-Gesunden sind nicht nützlich. Sie fallen der Gesellschaft und den Starken zur Last. Wer so etwas oft genug hört oder liest, verinnerlicht das: Ich bin nichts wert. Dabei ist Gesundsein noch viel mehr.

Laut der WHO Weltgesundheitsorganisation ist es der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens. Gesund an Leib und Seele also. Gesund bin ich, wenn ich zusammensein kann mit anderen, in Kontakt bin und mich dabei spüre. Gesund bin ich, wenn ich ganz ich selbst bin und eine gute Balance finde zwischen Geben und Nehmen, Ein- und Ausatmen. Wenn sich das Leben barmherzig anfühlt sogar in anstrengenden Zeiten.

Betesda liegt auf dem Weg

Das Wunder erzählt wie alle Heilungswunder der Bibel vom barmherzigen Leben. Betesda heißt der Ort des Wunders und Betesda bedeutet "Haus der Barmherzigkeit". Dabei ist die Stimmung dort gnadenlos unbarmherzig. Jedenfalls erzählt das der gelähmte Mann. Er ist schwerstkrank, ein Vollpflegefall und alt. Fast sein ganzes Leben lang hat er auf das Wasser-Wunder gewartet: Im entscheidenden Moment, wenn sich das Wasser bewegt, wie von Engelshand, dann müssen sie schnell genug sein und hineinsteigen. Einige sind dann gesund worden. Tolle Geschichten gibt es da zu hören, Es lohnt sich also zu warten und zu schauen und zu kämpfen. Du musst durchhalten. Gegen den Augenschein hoffen. Für dich sorgen und schneller als die anderen sein. Die Konkurrenz schläft nicht.

Ganz ehrlich, das ist doch krank! Hier braucht es mehr als ein Wasser-Wunder.  Das ganze System muss geheilt werden. Aber mit einem solchen Wunder rechnet niemand in Betesda. Hier ist Endstation. Und für Passanten ein Bild des Elends: lauter Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Viele stöhnen, schreien, Streit gibt´s auch - und es stinkt. Wer hier vorbeikommt, schaut lieber schnell weg und geht schnell weiter. Fremdes Leid zu sehen, das wirft schnell einen Schatten auf das eigene Glück, wird zum Stimmungskiller – denn es bedroht das eigene, selbstverständliche Wohl-Gefühl.

So geht es mir auch zwischendurch auf meinem Sonntagsspaziergang. Denn Betesda - das liegt auf meinem Weg: Ein Pflegeheim, keine Hochglanz-Wohnanlage, keine Senioren-Residenz. Hier gibt es Heimplätze für Drogenabhängige, Suchtkranke und Ex-Junkies. Denn die werden auch alt und brauchen Pflege.

Manchmal sehe ich den Charlie. Er selber weiß nicht mehr, wie er heißt, und hat auch sonst viel vergessen. Jede freie Minute drängt es ihn nach draußen. Dann schiebt er seinen Rollator in den Aufzug, fährt runter ins Erdgeschoss und los geht´s. Mit festen Schritten läuft er – einmal durch die frische Luft, die große Runde. Ganz allein. Das ist er sowieso immer. Auch im Speisesaal inmitten der anderen Bewohnerinnen und Bewohner, allein. Mit ihm mag keiner gern zusammen sein. Er erzählt die ewig-gleichen Geschichten und wird schnell wütend. Er riecht auch nicht gut. Er hat keinen Menschen mehr, keine Familie. Aber eines kann er: mit dem Rollator laufen, in rasantem Tempo. Wenn er geht und sich bewegt, ist er glücklich. Er grüßt alle, die ihm entgegenkommen. Wildfremde. Grüß dich, ruft er auch mir zu. Dann bleiben wir kurz stehen, reden übers Wetter und wir wünschen uns einen schönen Tag. Natürlich wird er nie von seiner Demenz geheilt sein. Trotzdem erlebt er diese gesunden Momente. Wenn er sich bewegt. Und wenn ihm einer in die Augen schaut und ihn anlacht und grüßt. Ein kurzer Wortwechsel, eine Hand auf der Schulter.

Das sind keine großen Wunder, aber heile Momente. Sie unterbrechen das immer Gleiche und ohne diese Unterbrechungen wäre das Leben erbarmungslos. Wie in Betesda, wo jeder Tag gleich ist - und nicht nur die Muskeln lahm.

Aus der Horizontalen in die Vertikale

Auf einer Theaterbühne würde ich mir diese Heilungsgeschichte so vorstellen: Ein farbloses, erdiges, flaches Bühnenbild, düster, alle liegen oder hocken im Schatten, alle auf der gleichen Ebene. Niemand und nichts bewegt sich, bis die Musik einsetzt und ein Tänzer erscheint. Aufrecht. Senkrecht. Vertikal. Schön und schwungvoll. Sein Tanzen bringt eine starke Energie und ein Glänzen in das eintönige Bild. Jesus tanzt den Gelähmten ins Leben und in die Gemeinschaft zurück. Der Mann richtet sich auf. Dann folgt ein zunächst zartes und dann kraft- und schwungvolles Pas-de-Deux. Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.

Sogleich! Vorher war er fast vierzig Jahre gelähmt. Nach der damaligen Lebenserwartung ist sein Leben da schon zu Ende.  Jesus interessiert sich also für den hoffnungslosesten Fall unter lauter hoffnungslosen Fällen, für diesen Menschen, der aus eigener Kraft nicht mehr hochkommt. Willst du gesund werden? Als ob noch gefragt wird, was hier einer will. Allein die Frage ist schon ein Wunder.Sie fällt wie vom Himmel herab, schlägt ein wie ein Blitz. Völlig überraschend. Geradezu absurd. Der Gelähmte sagt nicht: Ja, ich will. Er erzählt Jesus umständlich die Umstände. Die ganze Geschichte. Die, die keiner mehr hören will. Es ist sinnlos. Hier bewegt sich nichts.

Jesus hört zu, aber er lässt sich nicht runterziehen. Er bleibt "vertikal", aufgerichtet, ganz Tänzer. Er schenkt einen neuen Blick, sieht Himmel statt Erdenschwere. Anstatt in alten Geschichten und Mustern zu erstarren, bringt er Bewegung ins Spiel.So tanzt Jesus an gegen das Sinnlose. Visionär und willensstark. Er verschiebt es nicht auf später, wartet nicht auf Wasser und Wunder-was – er bringt hier und jetzt Gott ins Spiel. Wie er das immer tut. Hier und jetzt und immer –der Himmel Gottes ist angebrochen, mitten unter euch, inwendig in euch. Und ich stelle mir vor: Der Gelähmte wird in diesen Himmel hineingezogen, mitgerissen. Der Tanz von Jesus ist ansteckend – der Gelähmte kann gar nicht anders als – mittanzen… Seine Füße sind auf einmal hellwach, seine Beine, all seine Kraft und Beweglichkeit. Nicht mehr in den alten Mustern erstarren. Schluss mit dem Abwarten und Schluss mit den alten Geschichten.

Betesda war gestern. Ich liege manchmal auch in Betesda, nämlich auf dem Sofa. Ich bin müde und lustlos, hänge rum, schaue vielleicht drei oder vier Folgen einer Serie und ärgere mich anschließend, dass ich nichts Sinnvolles, Vernünftiges, Gesundes gemacht habe. Klar, manchmal ist genau das dran – entspannen, sich gehen lassen, bequem und gemütlich. Aber je länger ich abhänge, desto schwerer komme ich wieder hoch. Außerdem geht bei mir dann irgendwann das Grübeln los, das Traurigsein und Zweifeln.

Ich komme damit ganz gut klar und raffe mich immer wieder auf. Am besten indem ich Musik höre, möglichst laut. Sobald ich mitsinge, merke ich, wie es mir besser geht. Zum Beispiel mit diesem Steh-auf-Lied von Klaus Hoffmann. "Komm steh auf, ein neuer Tag beginnt", singt er, "gib nicht auf, gib nicht auf, nimm die Beine in die Hand und lauf!"

Sonntag – ein wunderbarer Unterbrecher

Wenn ich mich aufraffe, wenn ich aufstehe und mich bewege, dann kommt meine Lebendigkeit zurück. Und wenn ich mich unterbrechen lasse. Ein wunderbarer Unterbrecher ist der Sonntag. Und das hat er vom jüdischen Schabbat, gelernt. Am siebten Tage soll der Mensch ruhen. Gott hat es uns vorgemacht. Der Sonntag unterbricht den Alltag, das Immer-Gleiche. Er kommt senkrecht von oben in unsere Horizontale. Wie Jesus. Er heilt den Gelähmten am Schabbat. Fast immer erzählt die Bibel das so. Und dann folgen theologische Diskussionen, ob das erlaubt sei.

Jesus hat leidenschaftlich gerne über die Auslegung der Tora diskutiert. Aber immer als Jude unter Juden. Die Evangelienschreiber und die christliche Auslegungstradition haben daraus furchtbar schlichtes Schwarz-Weiß-Denken gemacht und erbärmliche antijüdische Aussagen. Das Bild eines Jesus, den "die" Juden getötet haben, ist ein Zerrbild. Es bietet Nährstoff für alle anti-jüdischen Haltungen und Handlungen bis hin zum Nationalsozialismus und zur Schoa. Das beginnt bereits beim Aufschreiben der Jesus-Geschichten - und unsere Kirchen tun gut daran, immer wieder darauf hinzuweisen. Seit dem 9. Oktober und dem rechtsextremistischen Attentäter in Halle erst recht.

Ich schäme mich für die Schuld in meiner christlichen Tradition. Sie macht mich wütend. Aber ich bin froh, dass wir das heute erkennen und benennen und verwerfen. Die jüdische Religion ist nie und nimmer die Negativ-Folie für die christliche - sondern ihre Wurzel, ihre Mutter oder ältere Schwester. Und der Schabbat so was wie der große Bruder unseres Sonntags.

Wenn Jesus am siebten Tag heilt, dann tut er das als frommer Jude. Der Schabbat erinnert an die Schöpfung und verheißt, dass das Leben in Gottes Reich wieder so heil wie am Anfang sein wird.  Zeichenhaft heilt Jesus am Schabbat und zeigt so dessen Größe, Glück und Segen für die Menschen. Der Schabbat ist Gottes Geschenk und das teilen sich jüdische und christliche Menschen. Du sollst den Feiertag heiligen.

Mit einem Ausrufezeichen ist der siebte Tag versehen. Senkrecht von oben in unseren horizontalen Alltag unterbricht er die Zeit. Das könnte uns heilen. Das könnte unsere Gesellschaft und Welt, die so unter Druck steht, heilen. Wenn das Müssen ruht. Auch das Konsumieren-Müssen, das Autofahren-Müssen. Das Abspulen-Müssen alter Muster.  Ein Tag, an dem ich mal nicht von A nach B muss, sondern in aller Ruhe bei A bleibe. Und dann überlege ich mir: Ist es A wie Aufatmen, A wie Ankommen - oder A wie Anders?

Der siebte Tag schenkt mir Zeit für Anderes, für Anderes als sonst. Anderes als das, was montags, dienstags, mittwochs, donnerstags, freitags und vielleicht auch noch samstags sowieso immer dran ist. Der Sonntag unterbricht den Terminplan. Früher haben die Menschen sonntags nicht geputzt, nicht Wäsche gewaschen oder das Auto, keinen Acker bestellt und nicht den Hof gefegt. Sie haben die Arbeit ruhen lassen. Sonntag für Sonntag die freie Zeit nicht verzwecken sondern entdecken. Anders als sonst. Und es hat Sonntagskleider gegeben. Heute sind das eher bequeme Jogginghosen als feine Kleider und Anzüge. Aber früher sahen die Kinder, die Frauen und Männer fein aus, verwandelt. Als wäre da eine Idee, wie ich sein könnte.

Dieser Sonntagsblick heilt. Auch ohne Sonntagskleider. Ich verstehe Sonntags-Heiligung als Einladung:  Ich kann heute anders sein als sonst und etwas anderes tun. Oder lassen. Die einen schlafen sonntags aus und beginnen den Tag später, weil das sonst nie möglich ist. Andere brechen frühmorgens auf, besteigen Berge, gehen schwimmen oder joggen. Und einige gehen morgens in die Kirche oder hören, wie Sie gerade die Morgenfeier, und spüren, wie sie aufgerichtet werden. Neu sortiert. Senkrecht nach oben, himmelwärts. Wie beim Hochschauen in ein wunderbares gotisches Kirchengewölbe.

Der siebte Tag schenkt eine neue Perspektive, schenkt Zeit, anderen Menschen zu begegnen - und Gott. Und er schenkt einen neuen Bewegungsspielraum: Nicht zuletzt den guten alten Sonntagsspaziergang. Egal wie lang, egal wie schnell und vielleicht auch nur in Gedanken - Bewegung heilt. Gottes Bewegung zu uns heilt. Solche Jesus-Wunder kommen ganz überraschend, auch nach langen lähmenden Zeiten. Und dann sogleich.

Auch eine Heilung am Schabbat

Vor zwei Wochen gab es in vielen Städten unseres Landes Lichterketten. Menschen sind in Bewegung gekommen, haben die Beine in die Hand genommen und sich auf den Weg gemacht zur Synagoge. In Nürnberg stand ich auch dort - mit über tausend anderen. Wir waren wie eine Schutzmauer rund um die Synagoge. Alle, die da waren, wollten was bewegen und nicht gelähmt bleiben vor Furcht. Ich habe gemerkt: Es tut so gut, gegen diese Lähmung aufzustehen und zusammen zu hoffen: Es gibt Heilung.

Es war übrigens Freitagabend, kurz bevor die Sonne unterging und der Schabbat begann. Am Schluss der Kundgebung hat der Vorsitzende der israelitischen Kultusgemeinde zu allen "Schabbat Schalom" gesagt. Und dann haben wir es uns gegenseitig gewünscht, tausendfach und mehr: Schabbat Schalom!

 

Evangelische Morgenfeier vom 27. Oktober 2019 mit Pfarrerin Julia Rittner-Kopp, Nürnberg, Thema: "Nimm deine Beine in die Hand und lauf" (Joh, 5, 5-15)