Der Sommer geht vorbei

Und wieder fängt etwas an, ein neuer Monat. Erster September. Mit ihm wird der Herbst kommen. In drei Wochen ist Tagundnachtgleiche. Die Nächte werden weiterwachsen und der Sommer vergeht.

Ich finde das ganz okay, und ich mag den September, denn in diesen Tagen geschieht noch so viel Sommer. Barfußlaufen, schwimmen im Freibad, frühstücken auf dem Balkon, abends in einer Bar draußen sitzen… Geht alles noch. Ja, ich finde es schade, dass der Sommer geht. Aber schön, wie er sich verabschiedet:

Das ist ein Abschied mit Standarten
aus Pflaumenblau und Apfelgrün.
Goldlack und Astern flaggt der Garten,
und tausend Königskerzen glühn.

Das ist ein Abschied mit Posaunen,
mit Erntedank und Bauernball.
Kuhglockenläutend ziehn die braunen
und bunten Herden in den Stall.

Das ist ein Abschied mit Gerüchen
aus einer fast vergessenen Welt.
Mus und Gelee kocht in den Küchen.
Kartoffelfeuer qualmt im Feld.

Das ist ein Abschied mit Getümmel,
mit Huhn am Spieß und Bier im Krug.
Luftschaukeln möchten in den Himmel.
Doch sind sie wohl nicht fromm genug.

Die Stare gehen auf die Reise.
Altweibersommer weht im Wind.
Das ist ein Abschied laut und leise.
Die Karussells drehn sich im Kreise.
Und was vorüber schien, beginnt.[1]

Farbenfroh und gut gelaunt, ein Abschied laut und leise – so bedichtet Erich Kästner den September. Und was vorüber schien, beginnt… Das Jahr dreht sich weiter. Wie die Karussells. Was wird beginnen, was kommen?

Der September setzt mir diese Brille auf… Jedes Jahr staune ich darüber. Da ist noch was, da geht noch was. Es ist schön. Doch der Grundton ist melancholisch. Abschiedlich. Wie im Herbstlied von Konstantin Wecker…

Septemberpsalm

Das Kirchenjahr ordnet diesen ersten Tagen im September ein Lied aus der Bibel zu. Als Septemberbrille. Und Grundmelodie. Psalm 146 ist der Wochenpsalm:

Halleluja!

Lobe den Herrn, meine Seele!

Ich will den Herrn loben, solange ich lebe,

und meinem Gott lobsingen, solange ich bin.

Verlasset euch nicht auf Fürsten;

sie sind Menschen, die können ja nicht helfen.

Denn des Menschen Geist muss davon,

und er muss wieder zu Erde werden;

dann sind verloren alle seine Pläne.

Wohl dem, dessen Hilfe der Gott Jakobs ist,

der seine Hoffnung setzt auf den Herrn, seinen Gott,

der Himmel und Erde gemacht hat,

das Meer und alles, was darinnen ist;

der Treue hält ewiglich,

der Recht schafft denen, die Gewalt leiden,

der die Hungrigen speiset.

Gott macht die Gefangenen frei.

Gott macht die Blinden sehend.

Gott richtet auf, die niedergeschlagen sind.

Gott liebt die Gerechten.

Gott behütet die Fremdlinge

und erhält Waisen und Witwen;

aber die Gottlosen führt er in die Irre.

Gott ist König ewiglich,

dein Gott, Zion, für und für.

Halleluja!

Zwischen zwei Hallelujas bewegt sich hier das ganze Weltgeschehen, wie alles endet und beginnt und wie Gott im Spiel bleibt. Immer.

Halleluja, Lobt, Lobt Gott allein. Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, das Meer und alles, was darinnen ist, Gott, die Liebe, die treu ist und gerecht und die befreit. Gott, König und Königin für immer. Mehr als alle Herrscher dieser Welt.

Loben und erzählen. Bitten. Erinnern. Hoffen.

Einmal mit alles, bitte.

Wer auch immer hier betet oder singt, diese Person bringt alles vor Gott. Und: Sie bringt alles mit Gott zusammen. Sie vertraut ihrem Gott, sie ist mit ihm vertraut – so wie sie von ihm erzählt…

Ich erkenne darin lauter Sachen aus biblischen Geschichten.

Vom Heilen und Gesundwerden. Wie eine Witwe immer genug Brot zum Leben hat. Wie ein Hirtenjunge einen Riesen besiegt und ein ganzes Volk befreit. Und eine Frau nach einem langen Leben mit schmerzgekrümmtem Rücken richtet sich auf.

Lauter Lebens-Geschichten mit Gott, Glaubens-Geschichten.

Und irgendwie auch Geschichten mit Septemberblick. Wenn ich nicht wie besessen auf das schaue, was fehlt. Was nicht da ist – nicht mehr oder noch nicht – das ist nicht da. Ganz einfach. Septemberblick. Ich sehe noch den Sommer und spür ihn, ich weiß, er endet bald, aber: noch nicht.

Diesen Septemberblick entdecke ich in den biblischen Geschichten. Was war, das war. Was ist, das ist. Und was kommen wird, wird geschehen. So oder so. Darum, will ich hinschauen, woher die Kraft kommt und der Segen. Wie die Bibel-Menschen. Sie deuten ihr Leben und sagen: Ja, mit Gottes Hilfe lebe ich.

So ein Vertrauen. Und Danken.

Ich höre auch das Bitten darin. Gott, tu das, wieder und wieder. Bitte. Zeig dich. Die Welt braucht deine Gerechtigkeit.

Dann ist ein Halleluja weit, weit weg, unvorstellbar, unsingbar.

So ist das immer in den Psalmen. Sie suchen das Halleluja. Sie weinen, schreien, klagen sich durch die Finsternis und in Gottes Nähe zurück. Und dann feiern sie sie

In der Bibel befinden sich genau einhundertfünfzig Psalmen. Mit Psalm 146 beginnt eine kleine Sammlung. Sie schließt das Buch ab. Fünf Psalmen, und jeder von ihnen beginnt und endet mit Halleluja. Im Judentum heißen diese Fünf, diese Handvoll, das kleine oder das tägliche Hallel. Ein jahrhundertealtes Lobgebet. Für jeden Tag. Und besonders gut am Morgen, am Tagesbeginn geeignet.

Diese Art zu beten wirft ein gutes Licht auf den Tag, der vor uns liegt. Auf die Woche. Die Jahre. Das ganze Leben.

Vorne Halleluja und hinten Halleluja.

Und dazwischen?

Ich schau mich um. Die Worte verorten mich. Die Nacht ist vorbei. Ich lobe Gott für einen neuen Tag. Und ahne schon die Risiken und Nebenwirkungen.

Ich will die Wirklichkeit in den Blick nehmen. Was zwischen den zwei Hallelujas geschieht.

Und ich merke: Der Beter, die Beterin des Psalms tut das. Sie weiß von Gewalt und Unrecht, Hunger, Unfreiheit, Flucht und tiefer Trauer.

Und legt alles Gott ans Herz.

Erster September - Antikriegstag

Diesen September, mit allem was er bringt, Gott ans Herz legen. Und beten.

Der erste September, heute – das ist ein schmerzhaftes Datum. Im Geschichts-Gedächtnis und für einige Menschen, die noch am Leben sind. Sich erinnern. Vor 85 Jahren hat der Zweite Weltkrieg begonnen.

Grauen und Entsetzen durch die Nationalsozialisten in Deutschland hat es schon lange vorher gegeben. Aber mit dem ersten September beginnt ein Krieg. Millionenfach töten junge und erwachsene Männer andere und werden selber getötet. Jeder einzelne ist ein Sohn, ein Vater, ein Bruder. Und sie sterben bis heute. Sie haben eine Lücke hinterlassen in ihren Familien, die manchmal auch die erwachsenen Enkelkinder noch schmerzt. Kriegsenkel.

Damals konnte niemand ernsthaft überrascht gewesen sein, dass der Krieg ausbricht. Er lag in der Luft und kam wie ein Schatten über Europa und die Welt.

Und die unfassbare planmäßige Ermordung in den Konzentrationslagern von jüdischen Kindern, Frauen und Männern aus ganz Europa. Von Sinti und Roma. Von Menschen, die Widerstand geleistet haben. Von homosexuellen Männern und Frauen, die eine damals verbotene Liebe leben wollten. Dieses Ermorden, Foltern, Verachten ist im Schatten des Krieges weitergeschehen. Das alles war Krieg. Unabhängig von einem Datum wie dem ersten September.

Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein. Das sagen die Kirchen drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. "Sündigen Nationalstolz" bekennen sie im Ökumenischen Rat der Kirchen. Bis heute.

Und Mitte der Sechziger Jahre gibt der Deutsche Gewerkschaftsbund dem Ersten September einen Namen, einen Sinn: Heute ist Antikriegstag.

Gewiss, das ist nur ein Datum, nur ein Begriff – aber es ist auch eine Hoffnung. Und ein Bekenntnis: Nie wieder Krieg. So soll es sein.

Und so ist es nicht geworden.

Kriege wüten und zerstören und schänden weiterhin.

…und was vorüber schien, beginnt?

Heute sind die Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen. Ich bete, dass die heute gewählten Politikerinnen und Politiker für alle Menschen hier in unserem Land Frieden und Würde hochhalten. Nichts von einem "sündigen Nationalstolz" soll um Gottes Willen erneut Macht bekommen.

Verlasset euch nicht auf Fürsten; sie sind Menschen, die können ja nicht helfen.

Denn des Menschen Geist muss davon, und er muss wieder zu Erde werden;

dann sind verloren alle seine Pläne.

Fürsten – politische Machthaber. Ob in den USA oder bei uns: Letztlich sind das alles Menschen, deren Macht begrenzt ist. Alle werden vergehen, wieder zu Erde werden. Ausnahmslos alle. Und alle gleich. Die Fürsten, die Mächtigen, die Unterdrückten und Übersehenen,die Machtlosen. Was auch immer die Machthaber planen, auch ihre Pläne sind nicht für die Ewigkeit, wie der irre Plan für eines angeblich Tausendjährigen Reichs.

Nicht auf Fürsten verlassen, sagt der Psalm. Sie sind alle vorläufig. In ihrer Zeit sollen sie regieren, sollen für Menschenwürde und Frieden einstehen. Verantwortungsvoll.

Für mich als Christin heißt das: Sich vor Gott verantworten. Der Himmel und Erde gemacht hat. Gott, ohne Zeit und in aller Zeit und Ewigkeit. Ich bin davon überzeugt, niemals würden Tyrannen und Diktatoren herrschen, wenn sie Gott als Größe, als höchste Macht und als Machtbegrenzung (an)erkennen.

Alle menschliche Macht ist und bleibt begrenzt.

Ich kann mir vorstellen, dass dieser Gedanke hilft. Sogar tröstet. Meine Macht ist begrenzt. Ich muss und ich werde nicht die Welt retten. Ganz konkret kann ein Mann oder eine Frau in leitender Position, sich danach ausrichten. Ich bin hier nur auf Zeit. Ich schaue, wer außer mir noch da ist, wer bleiben wird, wer nachwächst. Ich beteilige sie und teile so auch meine Macht.

Jesus ist für mich so ein Macht-Teiler und Ermächtiger, Ermöglicher. Er sagt: Steh auf. Du hast neue Kraft in dir. Geh weiter. Gerade weil alles vergeht.

Friedhofstag im September

Es ist gut, mit der Septemberbrille auch auf das Zu-Erde-Werden zu schauen.  Sterben. Abschiede. Umbrüche. Das haben viele in ihrem Leben schon erfahren. Asche zu Asche, Staub zum Staube.

Im September liegt jedes Jahr auch der Tag des Friedhofs, am dritten Septemberwochenende. Genau zu dem Datum werde ich unser Grab auf dem Nürnberger Johannisfriedhof nicht besuchen. Aber wenn ich an einem Septembertag komme und zwischen den jahrhundertealten Grabplatten aus Sandstein, der Johanniskirche und den Rosenstöcken umhergehe, dann stellt sich der Septemberblick ganz von selbst ein.

So viel Schönheit umgibt mich. Das Leuchten der Rosen und ihr Duften betören mich.

Ich lese Namen und Jahreszahlen und grüße vorübergehende Menschen. Ein Ort der Begegnung. Ich bin so gern hier. Halte stille Zwiesprache mit den Toten. Und mit Gott. Zwischen den Gräbern und unter Gottes Himmel sage ich auch danke für mein Leben. Und für das der Verstorbenen.

Auf ein gelebtes Leben zurückschauen – und danke sagen. Trotz Schmerz, Trauer und Sehnsucht. Auf ein gelebtes Leben zurückschauen – und es zwischen zwei Hallelujas "packen". Zurückschauen – wie auf den Sommer, der vergeht…

Mit Verlusten leben

Der September ist ein guter Lehrer. Er bringt uns bei, mit den Verlusten zu leben. Und schenkt einen Blick, der "hinter allem Verlust die Schönheit der Dinge sucht und sieht und findet." So heißt es in einer Kritik zu dem Buch "Die Zeit der Verluste" von Daniel Schreiber.[2]

Der Autor beschäftigt sich darin mit dem Tod seines Vaters und der Trauer um ihn. Er beobachtet sich, wie er weiter geht. Er staunt, wie Menschen Kriege und Katastrophen überstehen. Und fragt sich, "Wie viel Tod, wie viele Traumata ein Mensch, eine Gruppe, eine Region, eine Kultur, ein Land, eine Gesellschaft erleben können, ohne daran zu zerbrechen. Wie es möglich ist, nach jedem dieser Weltenden in das Leben zu finden, das irgendwann weitergeht."[3] In seiner eigenen Trauergeschichte entdeckt er die Zuversicht. Er nennt sie "eine Zuversicht gesenkter Erwartungen". Die ist anders als früher, realistischer. Vielleicht fühlt sie sich erst schwach und dumpf an, du machst keine großen Sprünge. Du rechnest mit allem, auch mit dem schlimmsten. Und doch ist es lebbar und du gehst weiter. Mit gesenkten Erwartungen. Wie man den Blick senkt, um sich beim Gehen sicherer zu fühlen. Ein Schritt nach dem anderen. Gehen. Weitergehen. Richtung Zukunft. Das geht.

"Ich werde mir Sorgen machen, aber meine Angst vor der Zukunft wird mich nicht lähmen. Ich werde mir regelmäßig ins Bewusstsein rufen, dass die Zukunft trotz allem noch nicht geschrieben, sondern Zukunft ist."[4]

… und was vorüber schien, beginnt… denke ich.

In der "Süddeutschen Zeitung" lese ich im Kinderteil am Wochenende gerne die Rubrik: Mitgenommen. Da zeigen nach Deutschland geflüchtete Kinder und Jugendliche immer eine Sache, die sie aus ihrer Heimat mitgenommen haben.

Sie kommen aus der Ukraine, Syrien, Afghanistan, und was sie zeigen, erzählt von ihrem Leben. Was kann ich mit hinüberretten, wenn das frühere Leben vorbei ist? Einen Stoffhund, Schulhefte, ein zerknittertes Foto, den Fingerring der Mutter, ein Spielzeugauto…

Bei Zohal aus Herat ist es ein Album voller Bilder, die sie selbst gemalt hat. Sie ist achtzehn Jahre alt und lebt seit zwei Jahren in Bayern. Sie erzählt, sie zeichnet, seit sie einen Stift halten kann. So hat sie viele Momente und Gefühle ihres Lebens auf Papier festgehalten und unzählige Hefte, Blöcke und Blätter damit gefüllt. Als die Familie fliehen musste, hätte sie sie am liebsten alle mitgenommen. Ihre Mutter hat in Afghanistan für eine Menschenrechtsorganisation gearbeitet. Als die Taliban die Macht übernommen haben, wurde es für die ganze Familie in Afghanistan zu gefährlich. Zohal hat sich ein Album gekauft, ihre liebsten Zeichnungen ausgewählt und hineingepackt. Ihr wichtigstes Andenken an ihre Heimat, nicht nur Bilder darin stecken, sondern vor allem Erinnerungen und Gefühle, sagt sie.

"Jedes Mal, wenn ich durch das Album blättere, kehre ich in meine Kindheit zurück. In Augenblicken, in denen ich mit meinen Buntstiften die Welt erschuf und mit jeder Linie und Farbe meine kleinen und großen Träume zeichnete. Ich mache jetzt die Aufnahmeprüfung für die Internationale Vorbereitungsklasse und möchte es in die Berufsoberschule schaffen. Dieses Album ist eine Brücke zwischen meiner Vergangenheit und meiner Gegenwart im Hier und Jetzt. Ich zeichne und male nach wie vor, so oft es geht. Welche Farbe wohl meine Zukunft hat?"[5]

Welche Farbe die Zukunft für Zohal haben wird – wer weiß…

Mit den alten geretteten Bildern im Lebensgepäck geht und malt sie weiter.

Ich hoffe, Richtung Halleluja.

Gott richtet auf, die niedergeschlagen sind.

Gott liebt die Gerechten.

Gott behütet die Fremdlinge

Gott ist König ewiglich,

dein Gott, Zion, für und für.

Halleluja!

Gott ist König und Königin ewiglich! Im September, im Herbst des Lebens und nach dem Erden-Leben.

 

[1] Erich Kästner: September aus Die 13 Monate. Zürich: Atrium Verlag 1999.

[2] Daniel Schreiber, Zeit der Verluste, Hanser Berlin/München, 2023; Daniela Dröscher, Klappentext hinten.

[3] Ebda. S. 105.

[4] Ebda. S. 127.

[5] Süddeutsche Zeitung, Nr. 184, Samstag/Sonntag, 10./11. 08 2024, SZ für Kinder, S. 53.

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden