Ein strahlender Frühlingstag. Ich bin mit Freunden unterwegs ins Grüne, im Münchener Umland. Da taucht am Straßenrand eine Schafherde auf. Wir halten unwillkürlich an – das bekommt man ja nicht mehr oft zu sehen. Die kleinen Lämmer sind wohl gerade ein paar Stunden alt. Sie rühren ans Herz. So schutzbedürftig, so tapsig unterwegs. Ein Schäferhund hält die Herde beisammen und der Schäfer ist mitten drin. Lange stehen wir da und schauen.

Vor allem in den ersten Jahrhunderten hatte das Bild vom guten Hirten unter den Christen einen Spitzenplatz. Aus all den Bildern für Gott – Burg, Licht, Fels,- aus all den Ich-bin-Worten, die Jesus von sich sagt: Ich bin die Tür, das Brot, der Weinstock, der Weg,– aus all diesen doch auch sehr starken Bildern vom Leben haben die Christen im 3. und 4. Jahrhundert den guten Hirten ausgewählt. Noch lange bevor das Kreuz zum Zeichen des Christentums wurde, war es das Hirtenmotiv.

In den römischen Katakomben dieser Zeit, wo die Toten begraben wurden und sich die Gemeinden zum Gottesdienst trafen, im Verborgenen, weil sie Verfolgungen ausgesetzt waren - , hier gibt es die ältesten bildlichen Darstellungen und Skulpturen vom guten Hirten. Meist ein lächelnder junger Mann auf grüner Wiese, Christus, der ein Schaf auf den Schultern trägt. Und die Botschaft ist klar: Da wo der irdische Weg des Menschen zu Ende ist, zeigt der gute Hirte den Weg zur Ewigkeit. Da wo Beziehungen abreißen, bleibt etwas erhalten: die Liebe. Ein Trostbild für Trauernde und Sterbende. Mich hat es berührt, als ich das Bild vom guten Hirten zum ersten Mal gesehen habe in der Priscilla-Katakombe in Rom – in einer dunklen Nische. Und ich habe verstanden, warum die Christen dieses Bild gewählt haben, um ihrem Glauben und ihrer Hoffnung Ausdruck zu verleihen.

Natürlich ist das Bild vom Hirten mit dem Lamm auf der Schulter nicht vom Himmel gefallen. Es passt im 3. und 4. Jahrhundert in die Lebenswelt der Menschen und ist im ganzen Alten Orient verbreitet. Der Götterbote Hermes etwa wird so dargestellt. Zudem gehören Hirten und ihre Herden damals zum Alltag der Menschen. Und - das Hirtenamt wird auf Herrscher und Verantwortungsträger übertragen. "Weiden" kann auch "Regieren" meinen. Zu den Aufgaben eines gerechten Herrschers gehört auch damals der Schutz der Schwachen.

Als kirchliches Leitungsamt heute noch brauchbar?

Die Kirche hat dieses Bild vom Leitungsamt übernommen und auf Priester, Pastoren, Pfarrerinnen und Bischöfe übertragen. Das Hirtenamt ist so alt wie die Kirche selbst. Und spätestens hier bekommt das Bild vom guten Hirten einen Riss. Es scheint ausgedient zu haben mit der Idylle von Hüten und Bewahren ist es vorbei. Denn die Hirten haben sich am Leben anderer vergriffen. Statt es zu schützen, und zu begleiten, zum frischen Wasser und zur grünen Aue, wie der Psalm 23 es beschreibt, haben sie tausendfach und millionenfach Kindern und Jugendlichen, Frauen und Männern Gewalt angetan. Auf allen Kontinenten dieser Erde. Und nicht nur das. Es gab und gibt Hirten, die ihre Hand schützend über die Täter halten. Die Opfer ihrer grausamen Taten sind noch einmal verraten worden, ins Unrecht gesetzt, in tiefe Einsamkeiten gestoßen. Es haben sich Menschen das Leben genommen. Und alle anderen bleiben für ein ganzes Leben gezeichnet.

Ich glaube, es ist Zeit, das Hirtenamt auf den Prüfstand zu stellen. Taugt es auch in Zukunft als Bild für kirchliche Leitungsämter, als Bild für Verantwortung? Und – noch viel wichtiger: Kann es noch eine Chiffre für Transzendenz sein, ein Bild für Gott, für Christus?

In der Musik von Johann Sebastian Bach ist das noch selbstverständlich. "Die Seele ruht in Jesu Händen", so heißt eine Arie. Ich höre eine Verbindung zum Bild des guten Hirten in den Katakomben. "Die Seele ruht in Jesu Händen, wenn Erde diesen Leib bedeckt". Es ist eine Musik für die Grenzen des Lebens, da wo nichts mehr trägt, was menschlich ist. Nur eine verlässliche Beziehung zum Urgrund des Lebens.

Und weiß Gott, nicht erst der Tod bringt einen Menschen an diese Grenze. Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren, sind mitten im Leben davon unverhofft getroffen worden. Schutzbedürftige Kinder, die wie kleine Lämmer hätten behütet werden müssen. Und im erwachsenen Menschen noch weiterleben und weinen und auf Zuwendung hoffen. Die Seele braucht etwas, wo sie zur Ruhe kommt.

Hirten, die sich selbst weiden

Im alten Israel gab es die Redewendung: sich selbst weiden. Da will ein Hirte nur für sich selbst sorgen. Das Hirtenbild ist schon in der Bibel umstritten, Hirten, Verantwortungsträger stehen in der Kritik.

Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?

Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.

Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. (Hes 34, 2-4)

Diese uralten Prophetenworte sprechen für sich. Man muss sie nicht weiter ergründen, erklären. Sie decken auf, was unter dem Deckmantel des Amtes verborgen bleiben will: Egozentrik, Selbstbezogenheit, das Grundlaster des schlechten Hirten. Da meint jemand, ein Recht zu haben darauf, sich am anderen zu bedienen, sich einen Menschen gefügig zu machen. Ihn ausbeuten zu können, körperlich, seelisch, zur eigenen Befriedigung. Und nutzt seine Autorität und den ungeheuren Vorschuss an Vertrauen aus, den Menschen gemeinhin haben in das Hirtenamt des Priesters und Pastors - oder muss man sagen "hatten"? Manche sind so geschickt, auch das zu verschleiern, dass es allein um ihre Befriedigung geht und sagen: "ich will dir was Gutes tun, du bist was Besonderes, ich habe nur dich auserwählt. Lass dich doch von mir streicheln". Am Ende hat der Mensch, in dessen Leben so massiv eingegriffen wurde, Scham – und Schuldgefühle, weil es ihm vielleicht in einem kleinen Winkel des Herzens am Anfang auch gut getan hat, auserwählt zu sein.

Ich wollte endlich sprechen

Vielleicht sagen Sie wir haben in letzter Zeit genügend solcher Geschichten gehört, lass uns in Frieden damit. Ich glaube, jede einzelne Geschichte muss gehört und erzählt werden. Hervorgeholt aus der Verschwiegenheit. Und mir ist es egal, ob es dem betreffenden Menschen in der katholischen Kirche oder in der evangelischen passiert ist. Es geht in erster Linie um das, was sie oder er erlebt hat, und wie es heute ihr und sein Leben bestimmt. Und – um im Bild zu bleiben – ich glaube, das ist ein Hirtendienst, der dringend nötig ist und da und dort auch schon geschieht. Diesen Menschen zuhören. Zu lange hat es nach einem anderen Muster funktioniert: Schweigen, um die eigene Kirche nicht zu schädigen. Schweigen, um die Karrieren von Pfarrern, Priestern, und Ordensoberen nicht zu gefährden. Die Opfer aus dem Blick drängen und auf die Täter fixiert bleiben, ihre intakte "bürgerliche Existenz" nicht beschädigen, wie es mal ein Theologieprofessor zum Schutz über einen evangelischen Kirchenmann ausdrückte.[1]

Doris Wagner hat von diesem Schweigen eindrücklich berichtet im Januar dieses Jahres, in einem Gespräch mit Kardinal Schönborn, das im BR Fernsehen übertragen wurde. Sie war 9 Jahre lang Mitglied einer Klostergemeinschaft im Vatikan und wurde von einem Priester mehrere Male vergewaltigt. Als es zum ersten Mal passierte, war ihr erster Gedanke: Was muss ich tun, um die Kirche zu schützen? Sie dachte nicht an ihr eigenes Leben.

Man kann sagen: so groß ist die Liebe dieser Frau zu ihrer Kirche. Dann muss man aber auch hinzufügen: So tief ist das Schweigen und Verschweigen verinnerlicht, so tief die Enteignung des eigenen Lebens fortgeschritten. Und so verquer die Logik, wer hier eigentlich geschützt werden muss. Die Kirche soll nicht Schaden nehmen. Ich habe das einmal auch im evangelischen Kontext gehört. Es soll niemand glauben, das sei allein ein katholisches Denkmuster. Wann nimmt denn die Kirche Schaden? Doch jedes Mal da, wo einem Menschen im Namen Gottes die Würde genommen und etwas tief verletzt wird in ihm! Und jedes Mal, wenn ein Mensch mit seiner Geschichte kein Gehör findet.

Ich wollte endlich sprechen

Und ich sprach.

Um mein Leben.

Aber ich wurde nicht gehört. 

Der erste Seelsorger sagte:

Es ist doch lange her. Schau in die Zukunft."

Die zweite Seelsorgerin sagte –

gar nichts.

Der dritte Seelsorger erinnerte mich  

an die Auferstehung Jesu. Ich verstand ihn nicht    

und blieb einsam zurück.

Es dauerte noch einmal 10 Jahre,  

bis sich ein Seelsorger um meine Seele sorgte –  

Er hörte mich.[2]

 

Spiritueller Missbrauch

Auf der Internetplattform "GottesSuche", eine Selbsthilfegruppe von Betroffenen, hat eine Frau diese Zeilen geschrieben. Hier beginnt das, was Doris Wagner, die ehemalige Ordensfrau, mit Spirituellem Missbrauch beschreibt. Spiritueller Missbrauch, das ist: Wenn dem Menschen verwehrt wird, was der tiefe Sinn des Evangeliums ist: Zuhören, echter Trost, der sich nicht in frommen Formeln erschöpft und dann nicht greift. Von einer Frau habe ich gelernt, was das noch größere, das größte aller Übel ist. Der schlimme Schmerz ist, erzählte sie mir, dass ihre Weiblichkeit verletzt ist, wie ein tiefer Spalt, da ist immer etwas Kaltes, ein Abgrund in ihrem Körper. Aber viel tiefer geht, dass alles, was mit Gott zu tun hat, vergiftet ist.

Spiritueller Missbrauch geht tiefer, als alle Verletzungen. Denn er geht an die Wurzel des Daseins. Wenn alles verdreht und auf den Kopf gestellt ist, wenn der Seelsorger sich weidet, sich befriedigt an dem Menschen, der ihm anvertraut ist oder der sich ihm von sich aus anvertraut hat. Wenn der gleiche Mensch Minuten später heilige Worte spricht, heilige Handlungen vollzieht, vielleicht auch noch von Vergebung predigt. Da ist alles vergiftet, was mit Gott zu tun hat. Die letzte Zuflucht ist dir genommen. Alle Gottesbilder, und seien sie auch noch so voller Wärme und Kraft für die Seele, verkehren sich ins Gegenteil, vermitteln keine Sicherheit, du kannst nichts mehr glauben.

In diese Leere hineingehen mit den Menschen, das ist eine weitere wichtige Aufgabe, ein Hirtenamt, das Kirche diesen Menschen schuldet. Schweigen und aushalten, dass von Gott erst mal nichts mehr sagbar ist.

Das Hirtenamt als Warnschild

Es ist heute sonnenklar, dass es bei sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche um Machtmissbrauch und um spirituellen Missbrauch geht. Und deshalb frage ich: Können wir das Hirtenbild noch auf kirchliche Ämter übertragen?

Klaus Mertens, der Jesuitenpater, der am Canisius-Kolleg in Berlin 2010 Missbrauch aufdeckte und damit auslöste, dass es zu einer breiten Diskussion in Kirche und Schulen kam – Klaus Mertens sagt: der Grund für geistlichen Missbrauch liegt darin, dass es zu einer Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes kommt. Also wenn der hilfesuchende Mensch den Pfarrer aufs Podest stellt und aus seinem Mund Gott reden hört. Wenn der Pfarrer sich selbst so versteht, oder dritte und schwierigste Variante, beide erliegen der Verwechslung.

Meine Frage ist: ist das Bild vom Hirtenamt nicht wie gemacht für diese Verwechslung?

Da ist eine Schieflage, eine Asymmetrie gegeben: der Hirte ist mit dem Schaf niemals auf gleicher Ebene. Eine Hierarchie, die auch für Eltern und Kinder, Lehrer und Schüler gegeben und in bestimmten Grenzen gut ist. Eine Wachstumshierarchie, die zum Leben gehört. Taugt sie aber, wenn Menschen nach dem Sinn suchen, wenn sie Trost brauchen, wenn sie Gott suchen? Brauchen sie jemand(en), der ihnen total überlegen ist, wie der Hirte seinen Schafen? Ein Hirte geht auf zwei Beinen, kann reden, kommt für die Schafe irgendwie aus einer anderen Dimension. Brauchen sie da nicht den Menschen auf gleicher Ebene, der auch sucht und erzählen kann, was er gefunden hat? Aber niemals sich anmaßen darf, zu wissen, was der andere ist und braucht. Sich niemals anmaßen darf, Gehorsam zu erwarten und qua Amt eine Deutungshoheit über das Leben anderer zu haben.

Für mich als Pfarrerin taugt das Bild des Hirten nicht, um meinen Beruf zu beschreiben. Auch nicht, wenn ich es weiblich umformuliere und eine Hirtin daraus mache. Es ist mir eher ein Warnschild geworden. Hüte dich vor der Anmaßung, die in diesem Bild enthalten sein kann, hüte dich davor, dich über die Menschen zu stellen. Ich kann mir vorstellen, das asymmetrische Verhältnis umzudrehen. Die Hirtinnen und Hirten sind die Missbrauchsopfer. Wir hören und lernen von ihnen, lassen uns von ihnen in ihre Leidenswelt hineinführen und werden Menschen, die achtsam miteinander umgehen. Die das Leben der anderen im Blick haben und hüten. Ohne Bevormundung. Ein Rollentausch, der vieles und viele verändern wird und verändern muss.

Der gute Hirte als Seelenbild

An der Stelle Gottes steht dabei nichts und niemand. Der Platz des guten Hirten ist und bleibt besetzt. "Ich bin es" sagt Jesus im Johannesevangelium.

Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe. Bezahlte Angestellte, die nicht Hirtinnen oder Hirten sind, und denen die Schafe nicht gehören, die sehen den Wolf kommen und verlassen die Schafe und fliehen – und der Wolf raubt die Schafe und treibt sie auseinander. Dies geschieht, weil sie bezahlte Angestellte sind und ihnen nichts an den Schafen liegt. Ich bin der gute Hirte und ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, so wie mich Gott wie eine Mutter kennt und ich Gott kenne. Und ich gebe mein Leben für die Schafe….Deshalb liebt mich Gott, weil ich mein Leben gebe, um es wieder zu empfangen. Kein Mensch nimmt es von mir, sondern ich gebe es von mir selbst aus. Ich habe Macht, es zu geben, und ich habe Macht, es wieder zu empfangen. Diesen Auftrag habe ich von Gott, meinem Ursprung, empfangen. (Joh 10, 11-18)

Das will ich als Seelenbild bewahren. Es gehört für mich zu den tieferen inneren Quellen, aus denen ich Trost und Lebenskraft schöpfen kann. Und so sehr ich die Gespräche mit Freundinnen und Freunden schätze und liebe, gute Bücher, geistliche Helferinnen, sie können niemals die inneren Quellen ersetzen. Hier ist jeder Mensch frei, eine innere Bilderlandschaft für sich zu sammeln. Für mich ist der gute Hirte ein unverzichtbares Bild der Liebe. Ich lasse mir die Fürsorge gefallen, die innige Beziehung, die Hingabe. Ich höre gern, dass der Hirte die Lämmer im Bausch seines Gewandes trägt.

"Die Weiden der Erwählten sind das anwesende Angesicht Gottes. Solange er ohne Unterlass angeschaut wird, empfängt der Geist auf ewig Nahrung des Lebens."

Was ein Theologe der Alten, frühen Kirche hier ausspricht, finde ich beim inneren Blick auf den guten Hirten: das anwesende Angesicht Gottes – das ist meine Weide, das ist Nahrung des Lebens. Ich bin es, sagt Jesus.  

Ich bin. Das kann auch Gabriella sagen. "Gabriella‘s Song" ist das Lied einer Frau aus dem Film "Wie im Himmel". Sie hat schwere Verletzungen erlitten und singt am Ende ihrer spirituellen Reise:

Ich hab niemals vergessen, wer ich bin
Ich hab es nur schlummern lassen
Vielleicht hatte ich keine Wahl
Nur den Willen zu überleben

Ich will nur glücklich sein
Dass ich ICH bin
Will stark und frei sein können
Will sehen, wo die Nacht den Tag umarmt

Ich bin hier
Und mein Leben gehört nur mir
Und den Himmel, an den ich glaube,
Den gibt es...


[1] Vgl. "Die Sache mit ein paar Mädchen", Burkhard Weitz in chrismon November 2018.

[2] R., Text eines Mitglieds der Mailingliste GottesSuche, aus: Kerstner/ Haslbeck / Buschmann: "Damit der Boden wieder trägt. Seelsorge nach sexuellem Missbrauch.", Schwabenverlag 2016, S.99

 

Evangelische Morgenfeier vom 05.05.2019 mit Kirchenrätin Melitta Müller-Hansen, München. Thema: Vom guten Hirten (Joh 10, 11-18)