1. Seelenruhe

"Jetzt hat die liebe Seele Ruh!"….. Es war die kaum verhohlene Erleichterung in der Stimme meiner Mutter, die mich jedes Mal aufhorchen ließ, wenn ich diesen Satz von ihr hörte. Heute weiß ich nicht mehr, worum es in solchen Situationen eigentlich ging. War sie froh, wenn ein Problem gelöst war? Wenn das Kind endlich aufhörte zu quengeln?

Jetzt hat die liebe Seele Ruh. Um wessen Seele ging es eigentlich? Um ihre - oder um meine kleine Kinderseele, die bekommen hatte, was sie wollte? Oder um so etwas zwischen uns beiden, eine Seelenverbindung, die gestört und nun endlich wieder beruhigt war? Die Sehnsucht und die Erleichterung, die in den Worten meiner Mutter schwangen, die habe ich nie mehr vergessen.

Bis heute frage ich mich immer wieder, was "Seelenruhe" in unruhigen Zeiten bedeutet. Wie kann die liebe Seele zur Ruhe kommen, wenn so viele Menschen Angst haben, vor sozialen Spaltungen, vor Kriegen, vor Armut, vor Naturkatastrophen?

Am liebsten würde ich meine Seele fragen. Was brauchst du denn gerade? Was würde dich jetzt beruhigen? Manchmal hilft ja schon nüchternes Denken. Sich klar machen: was kann ich tun? Was liegt wirklich in meiner Hand? Welche Grundbedürfnisse habe ich und wie kann ich sie mir erfüllen?

Ob meine Seele damit zufrieden ist? Die Seele, diese pulsierende Lebenskraft in mir, die sich unablässig sehnt und streckt? Ich stelle sie mir manchmal vor wie eine kleine Gestalt in mir, ein Wesen oder ein Teil meiner selbst, mit dem ich reden kann. "Warum bist du so unruhig? Was brauchst du gerade? Wonach sehnst du dich?"

In den Psalmen reden Menschen nicht nur mit Gott, sondern immer auch mit ihrer eigenen Seele, mit sich selbst. Was bedrückt dich so, meine Seele? Was macht dich so unruhig? fragt einer im 42. Psalm und ein frommer Mönch aus einer Abtei nahe Paris hat im 9. Jahrhundert ein Bild dazu gemalt: Da sitzt die kleine Seele, gekleidet in ein purpurnes Gewand, mit angezogenen Beinen auf einem großen Sorgenberg. Sie hat das Kinn in die Hand gestützt und schaut mit großen Augen auf den, der da betet.

2. Zwiegespräch mit der Seele

Liebe Seele, ja, Du da auf deinem Berg voller Sorgen um Gesundheit, um die Zukunft, um die Menschen, die du liebst…. wie wirst du satt? Wie kannst du wieder ruhig und zufrieden werden? Im Lukasevangelium erzählt Jesus eine Geschichte, in der einer mit sich selbst und mit seiner Seele über diese Fragen redet.

Es war ein reicher Mensch, dessen Land hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! (Lk 12,16-19)

Ich finde den Mann nicht unsympathisch. Er packt an, handelt rechtzeitig, nutzt die guten Zeiten um für schlechte Zeiten vorzusorgen. Es ist ja noch nicht lange her, da hat ganz Deutschland täglich auf den Füllstand der Gasspeicher geschaut. Was für ein Aufatmen, als klar wurde: es reicht um durch den Winter zu kommen, einigermaßen jedenfalls. Und selbst mein Nachbar hat sich damals eine kleine Photovoltaikanlage für seinen Balkon gekauft.

Gegen die Angst hilft es, etwas zu tun. Das Gefühl, dass man trotz aller Krisen und Einschränkungen handlungsfähig ist, kann beruhigen. Kann man da nicht wirklich seiner Seele sagen: Iss, trink, habe guten Mut?

Aber die Unruhe bleibt. Da richtet man sich in seinem Privatleben einigermaßen ein, sorgt so gut wie möglich vor, Vorräte im Keller, drei Monatsgehälter auf dem Sparkonto, allerlei sinnvolle oder weniger sinnvolle Versicherungen. Und dann stirbt plötzlich jemand aus dem Bekanntenkreis. Man kannte sich gar nicht so gut, aber plötzlich kommt man ins Grübeln: der war doch noch nicht mal zweiundsechzig? Noch nicht mal im Ruhestand? Und für einen Moment greift der Schrecken nach der Seele wie eine kleine kalte Hand.

In der Geschichte vom Kornbauern kommt der Schrecken wie eine große, donnernde Stimme:

Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? (Lk 12,20)

Angehäuft sagt die Stimme zu all den wunderbaren Vorräten und Narr zu dem, der denkt, er kann mit solchen Maßnahmen seine Zukunft sichern. Plötzlich ist das, was mir ein Gefühl von Sicherheit, von Vergnügen, vielleicht sogar Seelenruhe gegeben hat, das, wodurch ich glaubte, die Zukunft wenigstens ein bisschen in der Hand zu haben, das Geld, die Bücher, der alte Rotwein im Keller - nur noch ein Haufen Zeug, mit dem andere sich herumschlagen werden.

Der Schriftsteller Karl Markus Gauß hat neulich eindrucksvoll beschrieben, wie Freunde eines Verstorbenen in dessen großer Bibliothek stehen. Sie sehen die Bücher, sie nehmen das eine oder andere aus dem Regal, sie wissen - und können ja auch selber nachfühlen - wie wertvoll jedes einzelne Buch war, dass ihr verstorbener Freund da angesammelt hat. Jetzt drehen sie die Bände in der Hand: das könnte man noch mitnehmen, und das vielleicht auch. Eine kleine Erinnerung - aber tausende? Die vielen Regalmeter? Am Ende muss man noch froh sein, dass der Antiquar, der schließlich mit den Bücherkisten die Wohnung verlässt, nicht noch Geld dafür verlangt.

3. So viel Besitz

Wir haben so viel Besitz. Was wird damit? Und selbst, wenn wir ihn weitergeben, weitervererben - wieviel Unruhe mag das auslösen bei denen, die erben?  Wie oft werden mit dem Besitz auch die Familienkonflikte an die nächste Generation vererbt. Es ist kein Zufall, dass der Auslöser für die Geschichte vom Kornbauern ein Erbstreit ist.

Es sprach aber einer aus dem Volk zu Jesus: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Schlichter über euch gesetzt? Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. (Lk 12,13-15)

Jesus hat keine Lust sich hinzusetzen und zu schauen, wie ein Haufen Besitz gerecht verteilt werden kann. Habgier nennt er das Ansammeln von Zeug, das die Zukunft nicht sichert, sondern über Generationen Streit und Unruhe auslöst. Mit seinem Gleichnis gibt Jesus keine besonders beruhigende Antwort auf meine Frage, was eigentlich Seelenruhe ist und wie sich die erreichen lässt. So nicht, höre ich heraus. Du Narr….. Heute Nacht wird man deine Seele von dir fordern….

Ich erschrecke. Ich kann ja offensichtlich nicht mal das sichern, was mir als allerinnerster Teil meiner Identität vorkommt. Nichts gehört mir, nichts kann ich festhalten, nicht einmal meine Seele. Das, was ich mir als Zukunft ausgemalt, wofür ich geplant und gearbeitet habe, das wird mir von einem Moment auf den anderen genommen. Nichts davon habe ich wirklich in der Hand.

Zugleich merke ich an meinem Erschrecken: Es ist mir nicht egal, was nach dem Tod wird mit meiner Seele und mit mir und mit all den Menschen, mit denen ich verbunden bin. Meine Seele, meine kleine, innere Gefährtin, du zarte Verbindung zum Leben, wem gehörst du eigentlich? Mir - oder Gott? Brauchst du wirklich alles, was ich hier angesammelt habe? Oder mache ich dir damit vielleicht sogar das Leben schwer? Und was brauche ich wirklich? Und was will ich weitergeben?

Manche haben das Gleichnis später so verstanden, dass es darum geht, gute Taten zu tun um damit Verdienste bei Gott anzuhäufen, damit die kleine Seele später nicht aus dem Himmel in die Hölle muss. Aber vielleicht geht es gar nicht um das, was nach dem Tod da oben im Himmel passiert. Vielleicht geht es darum, was jetzt schon hier unten passiert, damit ein Stück Himmel spürbar wird, wenigstens ab und an. Vielleicht gibt es ja Schätze, für die man keine Scheunen braucht und die meine Freunde und Freundinnen nach meinem Tod nicht in Bananenkisten aus der Wohnung zum Altpapiercontainer tragen müssen?

Ich denke noch mal an die Geschichte vom reichen Kornbauern. Mir fällt auf, wie alleine er in dieser Geschichte ist. Da ist nur sein großes Ich und seine kleine Seele. Gab es da niemanden anders? Wer saß mit ihm am Tisch? Wer hat die Felder bestellt? Wer hat geerntet und sich an der Ernte gefreut? Wer hat das Brot gebacken? Den Wein gekeltert? Die Scheunen gebaut?  Wer sind die Menschen, denen er seinen Reichtum verdankt? Sieht er gar nicht, dass er nicht alleine auf der Welt ist?

4. Nicht allein auf der Welt

Ich bin vor ein paar Tagen mit befreundeten Ärzten am Tisch gesessen - und plötzlich hat einer gesagt: Ich muss euch was erzählen… Und dann hat er berichtet von einem ziemlich wohlhabenden Mann, der von ihm verlangt hat, ihm zu bescheinigen, dass er so krank sei, dass er bis zum Renteneintritt nicht mehr arbeiten müsse. So krank sind Sie nicht, hat mein Bekannter versucht, ihm zu sagen. Der andere hat nur gesagt: Stellen Sie sich doch nicht so an, das macht doch jeder. Ich finde schon jemanden, der mir das bescheinigt.

Ja, das machen viele. Sie holen sich persönlich Vorteile heraus aus einem System, das für alle da ist und zu dem alle beitragen müssen, damit möglichst viele, die es brauchen, davon profitieren können. Sie tun so als gäbe es nur sie und ihre Bedürfnisse - und blenden total aus, dass sie bei allem, was sie tun und bisher getan haben, immer auch auf andere angewiesen sind, auf deren Solidarität und deren Arbeit.

Jedes Versicherungssystem, jedes Steuersystem basiert auf diesem Gedanken, dass einer nicht alleine für seine Sicherheit und für seine Seele sorgen kann, dass er Teil eines größeren Ganzen ist, zu dem er - je nach Vermögen und Möglichkeiten, beiträgt. "Eigentum verpflichtet gegenüber der Gesamtheit", so heißt es ausdrücklich im Artikel 158 der bayerischen Verfassung.

Leben ist immer gemeinsames Leben. Es verbindet untereinander. Es verpflichtet zur Sorge füreinander… und zwar nicht nur für die Menschen, mit denen ich jetzt lebe, sondern auch für künftige Generationen. Wenn diejenigen, die mehr als genug haben, es genug sein lassen können und mit anderen teilen, dann ist für alle genug da. Eigentum verpflichtet rechtzeitig dafür zu sorgen, dass das, was ein Mensch hinterlässt, Leben der kommenden Generationen ermöglicht und nicht Leben belastet.

Marlene Engelhorn ist davon überzeugt. Sie hat im vergangenen Jahr viele Millionen geerbt und setzt sich dafür ein, dass Vermögen gerecht besteuert wird. Sie sagt: "Es gibt eine strukturelle Schieflage. Ich verstehe nicht, warum reichen Menschen das Gesicht herunterfällt, wenn sie Steuern zahlen. Ich halte das für das Demokratischste überhaupt und für etwas, das man mit Stolz erledigen kann. Dadurch wird alles finanziert, was die Strukturen unseres öffentlichen Lebens gewährleistet."

Und selbst, wenn ich keine Millionen besitze: Man kann so viel anderes zurückgeben. Fähigkeiten, Talente, Witz und Kreativität, alles, was ein Mensch im Lauf seines Lebens mit Hilfe von anderen ausgebildet und erworben hat und was helfen kann, zu dem beizutragen, was eine Gesellschaft braucht.

Wenn ich mir das so überlege, spüre ich, dass meine Seele berührt wird. Sie will sich ja verbunden fühlen mit anderen, sie will mich verbinden mit dem Leben um mich herum, mit dem, was Menschen vor mir für mich getan haben und dem, was ich für die, die nach mir kommen, tun kann. Und sie will mich verbinden mit Gott, der nicht sagt: Du Narr, sondern der mich bei meinem Namen ruft. Für Gott bin ich Teil eines Schöpfungsgewebes.

Jesus, der denen, die ihm zuhören, gerade noch in einem schroffen Gleichnis deutlich gemacht hat, dass ihm der Erbstreit der Brüder egal ist, weil sie die Zukunft sowieso nicht in der Hand haben - der wird wenig später ganz weich:

"Sorgt euch nicht - nicht um das Leben, was ihr essen sollt, auch nicht um den Leib, was ihr anziehen sollt. Denn das Leben ist mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung. Seht die Raben: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie haben keinen Keller und keine Scheune, und Gott ernährt sie doch. Wie viel mehr seid ihr als die Vögel! (Lk 12,22-24)

Mehr als Essen und Trinken… Ob man für solche Momente Scheunen bauen kann? Ob man sich solche Momente von Verbundenheit aufheben kann wie guten Wein? Erinnern, beschreiben kann man sie. Aber leben lassen sie sich nur im Moment.

Es hat mich immer schon fasziniert, dass das hebräische Wort für Seele näfäsch nicht nur Seele, sondern auch Kehle bedeutet. Das ist nicht einfach das Körperorgan, es ist das, was aus der Kehle strömt, womit der Mensch krächzt und singt, jauchzt und lobt, klagt und bittet. Es ist die Lebenskraft, die einen zu einem lebendigen, nach Leben lechzenden Wesen macht.

Meine Seele, das ist mehr als das kleine Anima-Wesen, das da in mir sitzt und seufzt und mich mit großen Augen anschaut. Meine Seele ist Lebenskraft und Lebenssehnsucht. Spürbar im Herzen und auf der Haut, in meinem Denken und Phantasieren, mit anderen und alleine - im Lachen und im Weinen, in Ruhe und in Unruhe, im Beten und im Singen, im Zweifeln und im Hoffen, in der Freude am Schönen und der Lust, miteinander zu teilen. Was also brauche ich, was braucht meine Seele wirklich? Was nährt sie? Was macht sie - jedenfalls für Momente - ruhiger?

Der Sommerabend mit Freunden am See, das Wasser noch warm und die Luft schon abgekühlt. Ich tauche ein wie in Seide, lasse mich tragen unterm abendblauen Himmel, umgeben von Stimmen der Freunde, die über dem Wasser klingen... Die Tage im Kloster mit anderen im Kreis beim Abendgebet, die Augen geschlossen, die Hände geöffnet im Schoß, der Atem, der ein- und ausströmt, verbunden mit ein paar Worten, einem kleinen, immer wiederkehrenden Gebet, ein Segen für die, die ich liebe. Ein Segensgedanke für sie, wo auch immer sie jetzt gerade sind...

Und dann heute diese WhatsApp: Danke, dass ihr mit mir auf der Terrasse gesessen seid. Es war so schön, Euch zu Gast zu haben, schreibt der Freund, mit dem wir vor ein paar Tagen einen ganzen Abend lang über Habgier und Solidarität geredet haben. Ja, da unter der alten Glyzinie, bei Käse, Brot und Wein, im Miteinander Nachdenken, einander Anregen, manchmal auch ratlos schweigen…. Da lagen Ruhe und Unruhe nah beieinander - aber in meiner Erinnerung war es ein guter Abend für meine Seele.

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.

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