Zugfahren gehört seit langem zu meinem Alltag, liebe Leserinnen und Leser. Und mir fällt auf, dass ich von Jahr zu Jahr weniger Gespräche führe mit Menschen, die mir unterwegs begegnen. Seit langem habe ich da niemanden mehr kennengelernt. Wir sitzen alle vor unseren elektronischen Geräten, schreiben Mails, schauen Filme oder hören Musik. Die Kopfhörer sitzen fest auf den Ohren. Am Ende einer Reise zwischen Berlin und München erinnere ich nur schemenhaft, wer mir gegenübergesessen hat.

Dabei kann ich mich an unvergessliche Begegnungen erinnern, früher, als man im Speisewagen der Bundesbahn noch Gespräche führte: der Besitzer einer Blumenladenkette, der langsam begriff, was die Schnittblumenproduktion in anderen Ländern der Welt anrichtet und der spätabends in Fulda ausstieg. Die Mathematikstudentin mit Liebeskummer, die nicht wusste, ob sie dem Liebsten nach Schweden folgen soll. Die ältere Witwe mit schweren Gedanken auf dem Weg zu ihrer Tochter. Sie wollte versuchen, eine Brücke zu bauen über tiefe Gräben. Welten öffnen sich, wenn man miteinander ins Gespräch kommt, wenn ein Wort das andere gibt und ich, wie durch ein Guckloch, für einen kurzen Moment in ein anderes Lebens blicken darf – bis zum nächsten Halt. 

Palaver und kein Gespräch

Dann wieder sitze ich in Gesellschaften, es wird munter geplaudert, alle erzählen, von Büchern, Reisen und Begegnungen, einer übertrifft die andere, eine Story wird von der nächsten getoppt und am Ende überlege ich: hat eigentlich heute Abend irgendeiner tiefer nachgefragt. Wurde heute Abend überhaupt nur einmal nachgefragt? Was habe ich über die Menschen wirklich erfahren? Oder war das wieder ein Abend voller Stories? Jeder und Jede erzählt von sich und niemand fragt: Warum erzählst Du diese Geschichte? Wie ist es weitergegangen? Was hat sich verändert?

Ich weiß nicht, wie es Ihnen da geht, liebe Leserinnen und Leser. Miteinander Sprechen und einander Zuhören, sich interessieren und dem anderen einen Augenblick nahe sein: Ich meine zu beobachten, wie diese wichtige Tugend für unser Zusammenleben dabei ist, zu verschwinden. Das engagierte, aufmerksame, das nachfragende, das teilnehmende Zuhören. Dieses Auf-den anderen -Horchen, das dem Gegenüber die Möglichkeit gibt, Herz und Seele zu öffnen, Ideen, Gedanken und ein Stück Leben zu teilen. Ich will keine miesepetrige Kulturkritik betreiben, aber auffällig ist das schon.

Wir sind umgeben von Menschen die sich äußern, die chatten und Sprachnachrichten verschicken, Selfies verbreiten oder auf Facebook oder Instagram ihre Meinungen posten. Unglaublich schlagfertig und redegewandt sind dabei viele junge Leute.
Aber: Wir sind umspült von Selbstrepräsentationen… Wörtern, die keine Begegnung eröffnen, sondern uns zuspülen. Begegnungen, die kein Gespräch eröffnen, sondern uns beeindrucken sollen.

Die uns nicht aufhorchen, sondern uns ertauben lassen. Und wir werden mit der Zeit selbst so. Wir gewöhnen uns dran.
Es scheint als befinden wir uns derzeit in einem Meer von Wörtern mit mächtigen Zuströmen und drohen darin unterzugehen.
Es wird immer schwerer, ein gewichtiges Wort von dem täglichen ungebremsten Strom von Mitteilungen zu unterscheiden.
Wann hat Sie, liebe Leserin, lieber Leser das letzte Mal ein Wort umgehauen, mitgerissen. Wann haben sie das letzte Mal einen Satz gehört, der Sie hat aufhorchen lassen und wachgerüttelt hat, der Sie bewegt hat, der Sie orientiert hat, der Sie dazu gebracht hat, neu und anders über Ihr Leben nachzudenken.

Macht und Ohnmacht der Worte

Vielleicht liegt diese Übersättigung an Worten, diese tiefe Ermüdung auch daran, dass in unserer Medienwelt zwar viele Worte gewechselt werden, aber die Worte für den Sprecher und die Sprecherin keine Folgen haben. Versprechungen versanden, Schwüre landen im Äther, Appelle versenden sich. Es gibt Skandale und Tabubrüche, große Erregungen, die am nächsten Tag vom nächsten Aufreger überspült werden. Wer hat wann etwas gesagt? Was sagt das über ihn oder über sie… Und welche Folgen haben Worte heute?

Ich entsinne mich an den Stromschlag, den mir der Satz der ansonsten ganz nüchternen deutschen Kanzlerin versetzte, als sie im September 2015 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswanderung nach Europa formulierte: "Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." …dann ist das nicht mehr mein Land," die Scheidungsandrohung einer Kanzlerin…Oder das berühmte:

"Wir schaffen das, wir haben schon so viel geschafft."

Oder folgenreich für die ganze Welt, der Satz des SED-Sprechers Günther Schabowski im Jahre 1989, der in der Pressekonferenz am 9. November die Öffnung der Grenzen "sofort und unverzüglich" verkündete. In selbiger Nacht fluteten die Bürger der ehemaligen DDR in die Arme ihrer Landsleute jenseits der Mauer.

Oder das : "How dare you" vor der UN – Vollversammlung mit zitternder Stimme gesprochen von der 16jährigen Greta Thunberg. Gerichtet an alle regierenden Häupter der Welt: "Wie könnt Ihr es wagen" dem klimabedingten Massensterben der Menschen auf der Südhalbkugel der Welt einfach zuzusehen. Wie könnt Ihr es wagen, weiterhin nichts zu tun und uns jungen Menschen die Zukunft zu rauben.

Inmitten des Stroms von Wörtern gibt es offensichtlich Worte, die Menschenleben wert sind, die Existenzen verändern, retten oder eben vernichten. Es kommt ja immer schon darauf an, wer etwas sagt. Ob diejenige, die das Wort ergreift, Macht hat oder Einfluss hat oder nicht. Auch in unseren ganz persönlichen Beziehungen kennen wir Menschen, die Macht über uns haben und deren Worte uns aufbauen oder zerstören können. Wie Eltern mit kleinen Sätzen, das Selbstbild ihrer Kinder beeinflussen können: Du bist der Gescheite und Du bist der Lustige! Oder: aus Dir wird nie was. Oder der Geliebte, der sagt: schön, dass Du da bist! Es sind ganz einfach Sätze, die über unser Selbstgefühl und über unser Weltgefühl entscheiden können. Ablehnung oder Zuspruch. Verachtung oder Anerkennung. Radikaler Energieverlust oder lebenspendende Energie, das können Worte bewirken.

Worte können vernichten und entwertet werden

Schließlich: Nichts untergräbt eine Gemeinschaft von Menschen mehr, als wenn Worte folgenlos bleiben für den Sprecher und für die Angesprochenen.  Was ist ein Versprechen an Flüchtlinge wert? Wenn daraus nicht deutsche Pässe werden und Arbeitsplätze und Wohnungen und eine Zukunft für Familien? Was ist ein Wort wert, an das sich niemand hält? Dem niemand glaubt?  Der Inflation der Worte die folgenlos bleiben, folgt ein generelles Misstrauen auf dem Fuß. Und ein wachsendes Desinteresse: Ich muss gar nicht zuhören, denn was gesagt wird verflüchtigt sich, ist nicht wichtig.

Keiner hat diese Welt der entwerteten Sätze stärker befeuert als der vormalige amerikanische Präsident Donald Trump. Er manipulierte, er hetzte. Er log. In Manhattan steht eine lange Mauer, auf der die Lügen Trumps nach Faktenchecks aufgelistet sind. Mindestens eine – an jedem Tag seiner Regierungszeit. Barbara Streisand hat dazu ein Lied geschrieben.

Don't lie to me! "Lüg mich nicht an!"

Eine ermüdete Gemeinde

In so einer Situation der Entwertung von Worten lebt die Gemeinde, die der Adressat des Hebräerbriefes ist. Wir wissen nicht, wo diese Gemeinde lebt. Man vermutet irgendwo in der Umgebung von Rom. Wir wissen auch nicht, wer der Briefschreiber ist. Wir wissen nur: Die Stimmung unter den kleinen Christengemeinden ist bedrückt. Der Tod des Mannes Jesus und das himmelstürmende Gerücht von seiner Auferstehung ist sechzig Jahre her. 

Drei oder vier Generationen sind ins Land gegangen, der Auferstandene Christus hat sein Versprechen nicht wahr gemacht, wiederzukommen und die Welt zu richten und alle in sein Reich zu holen, die zu ihm gehalten haben. Viele Christen sterben in Christenverfolgungen, während unser unbekannter Lehrer diesen Brief schreibt. Der Druck von außen wird immer stärker. Christen werden beschimpft, verunglimpft, verraten, verfolgt, getötet. So wie heute übrigens in vielen Regionen dieser Welt. Die Christen sind die am häufigsten verfolgte religiöse Gruppe – weltweit gesehen.

Das versprochene Reich Gottes ist zwar schon irgendwie spürbar damals in den Gemeinden. Der andere Umgang miteinander: Sklaven und Herren miteinander an einem Tisch, der Versuch reich und arm in der Gemeinde auszugleichen, eine gemeinsame Kasse, Krankenpflege, Fürsorge für Behinderte, alles Dinge, die es in der Welt vor dem Bergprediger Jesus ja zum Teil schon in den jüdischen Gemeinden, aber nur dort gegeben hatte. Seine Worte hatten also für das Zusammenleben der Menschen sichtbare und erfahrbare Folgen gezeitigt.

Aber: das letzte Gericht? Der Untergang der alten und der Aufgang einer ganz neuen Welt: das war ausgeblieben. Und so zweifeln die Menschen an den Worten derer, die ihnen am Sonntag predigen und die Schriften auslegten. Sie werden gleichgültig…. nur Worte sagen sie, nichts dahinter. Sie gehen nicht mehr in die Gottesdienste. Da kommt nichts mehr, die Worte die wir gesagt bekommen, sind von Menschen, nicht von Gott!

Die Adressaten des Hebräerbriefes sind müde geworden, sie können die Versprechungen der Prediger nicht mehr hören, "schwerhörig" sind sie, wie der Lehrer in seinem Brief schreibt, sie sind dabei, ihre Glaubenszuversicht "wegzuwerfen".
Der Briefschreiber sieht eine Gemeinde vor sich, die "erschlaffte Hände" hat und "wankende Knie". Er tritt dieser Müdigkeit, Gleichgültigkeit und diesem Misstrauen entschieden entgegen.

Er findet gewaltige Worte für das Wort Gottes:

Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft geben müssen. (Hebräerbrief: 4.12/13)

Das Wort Gottes als Schwert? Es fällt mir schwer, das zu verstehen…Das Bild vom Chirurgen bemühen die Bibelforscher*innen: ein Messer, das rettet. Das etwas wegnimmt, was dem Organismus schadet…das trennt zwischen Krank und gesund… Das Wort Gottes hilft der Hebräergemeinde, sich von dem zu trennen, was ihr schadet. Hinter sich zu lassen, was ermüdet und kraftlos macht. Die Zukunft ist euer Land! Geht nicht in die Knie, denn euer Gott kommt! Es kommt nicht auf den Zeitpunkt an, sondern auf Eure erhobenen Häupter, auf Eure verrückte Hoffnung, auf Euren Optimismus, auf euer Lachen über die Trübsal und in die Welt hinein.

Kritik von innen ist am härtesten und heilsam

Ach liebe Leserinnen und Leser, wie sehr sehne auch ich mich nach Worten, die kräftig sind, die lebendig machen, die scharf sind wie Schwerter, die Seele und Geist anspitzen und die uns dazu zwingen, Rechenschaft abzulegen. Uns als Christinnen und Christen.

Diese scharfen Worte kommen derzeit nicht von unseren obersten Religionsgelehrten, nicht von Bischöfen und Päpsten. Sondern von anwaltlichen Gutachtern, die insbesondere der katholischen Kirche bestätigen, dass sie Unrecht und Verbrechen an Kindern gedeckt hat, dass sie Tugend gepredigt hat und kriminelle Handlungen vertuscht hat. Es werden seit Jahren öffentliche Entschuldigungen ausgesprochen: aber sie sind offenbar folgenlos.

Und die Christengemeinden gehen in die Knie. Ihre Hände werden schlaff. Und ihre Knie schlottern. Sie werden verunsichert und gleichgültig, sie verlassen die Kirche, weil sie erleben, dass Worte beliebig sind, dass mit Gottes Wort Schindluder getrieben wird und dass viele Kirchenverantwortliche nicht bereit sind, ehrlich Rechenschaft abzulegen. Wir erleben Institutionen, die sich selbst schützen. Religionsoberhäupter, die ihre Macht um jeden Preis erhalten wollen und dabei die Menschen, die ihnen ihr Werden und Wachsen, ihr Denken und Glauben, ihre Hoffnungen und Träume anvertraut haben, verraten. Was für ein Desaster. Das ist unerträglich.

Aber kein Grund an Gott zu verzweifeln, würde der alter Briefeschreiber der Urchristenheit uns zurufen. Wir kennen die prophetischen Worte über die Hirten, die sich selbst mästen und nicht ihre Herden, wie sie im Alten Testament beim Propheten Hesekiel stehen. Sie werden an den Worten scheitern, die sie selbst gepredigt haben, heißt es da. Oder Jesus, der die religiösen Lehrer seiner Zeit "Otterngezücht" nennt und in seiner radikalen Kritik geradezu maßlos ist:

Er ruft den Religionsführern seiner Zeit zu:

Ihr blinden Führer, die ihr Mücken aussiebt, aber Kamele verschluckt!
Weh euch, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier! Du Blinder, reinige zuerst das Innere des Bechers, damit auch das Äußere rein werde!
Weh euch, ihr Heuchler, die ihr seid wie die übertünchten Gräber, die von außen hübsch scheinen, aber innen sind sie voller Totengebeine und lauter Unrat! (Mt 23, 24-27)

Die härteste Kritik am Religionssystem in unserer Religion kommt von innen, nicht von außen. Sie kommt mitten aus unserer Religion aus unseren Texten. Gott erwartet scharfe und radikale Lösungen, bei denen, die sich auf ihn berufen. Das kann man aus jeder Zeile der Bibel, also der Schriften, die wir heilig nennen, heraushören. Man kann keine Gemeinde bauen auf Schönreden, Ausreden, Drumrumreden und Lügen. Das heißt aber auch: Gottes Wort selbst, nicht irgendwelche Gutachter und Anwälte, Gottes Wort selbst ist der strengste Richter über ein korruptes Religionssystem, aber auch über verschlafene und selbstbezogene politische Systeme und auch über kleingläubige, geduckte Gemeinden.


Lieber Leserinnen und Leser, die Christenheit hat eine Masterurkunde, die alle, die sich auf sie berufen, auffordert, an der stetigen Erneuerung zu arbeiten. Wer diese Worte ernst nimmt, der oder die verzweifelt vielleicht an der Beliebigkeit von öffentlichen Worten, verzweifelt vielleicht an den öffentlichen Reden, verzweifelt vielleicht an den real existierenden kirchlichen Institutionen -  aber nicht an diesem Gott! Der oder die verzweifelt vielleicht an Strukturen, wird aber weiter diese Gemeinde Christi bauen, die sich der Wahrheit Gottes verschrieben hat und die gewiss ist, dass Korruption und Lüge dem Untergang geweiht sind. Wie heißt es so schön, wie eindrucksvoll und unvergesslich im Eucharistiegebet der katholischen Kirche? Darum bitten wir: Herr Jesus Christus, schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche. Könnte man diese Stelle nicht so verstehen: Schau bitte auf das Engagement und den Glauben Abertausender von Männern und Frauen, die ihr Leben in Deine Hand gelegt haben, die auf Dein Wort horchen und an deiner Gemeinde bauen.

Das Hören auf das Wort! Das Zuhören und nach wahren Worten lauschen. Für Martin Luther, den Reformator der Kirche war das das Zentrum der Kirche. Hören auf die Bibel, mit anderen im Gespräch bleiben und den Menschen genau zuhören. Daraus erwächst Kraft. Dass Du wieder jung wirst wie ein Adler.

 Denn dieses Wort birgt Hoffnung und Trost. Lässt den Einzelnen über das System triumphieren. Biblische Worte sind wahre Worte, weil sie sich bewährt haben. Und die Geschichten unserer Bibel erzählen mal um mal immer wieder: wie die Einzelnen und die Gemeinden sich nicht haben irre machen lassen durch das Versagen ihrer Mächtigen. Denn, liebe Leserinnen und Leser: unser Land ist die Hoffnung und die Zukunft.

 

Die Evangelische Morgenfeier

"Eine halbe Stunde zum Atemholen, Nachdenken und Besinnen" - der Radiosender Bayern 1 spielt die Evangelische Morgenfeier für seine Hörerinnen und Hörer immer sonntags von 10.32 bis 11.00 Uhr. Dabei haben Pfarrerinnen und Pfarrer aus ganz Bayern das Wort. "Es geht um persönliche Erfahrungen mit dem Glauben, die Dinge des Lebens - um Gott und die Welt."

Sonntagsblatt.de veröffentlicht die Evangelische Morgenfeier im Wortlaut jeden Sonntagvormittag an dieser Stelle.