Menschen stehen beisammen, schauen zum Himmel. Einer gestikuliert, deutet nach oben. Andere nähern sich zögernd, heben ebenfalls ihren Blick. Noch eine kommt dazu. Die sieht doch irgendwas. Ihre Reaktionen sind eindeutig. Was ist da? Immer mehr Menschen schließen sich der kleinen Gruppe an und schauen in den Himmel. Da ist doch gar nichts!

Das ist ein Video von einem Flash-Mob, eine Art Scherz in einer Stadt in Australien. Schon einige Jahre her. Ist das Kunst, ein soziales Experiment? – oder nur Schabernack. Es macht auf jeden Fall Spaß, da zuzusehen. Ich bin sicher, auch ich wäre stehengeblieben und hätte gekuckt.

Was hätte ich erwartet zu sehen? Einen besonderen Vogel, einen Zeppelin, ein besonderes Flugzeug, einen Heißluftballon? Eine himmlische Erscheinung?

Ihr Leute aus Galiläa, was steht ihr da und starrt in den Himmel? (Apg 1,11)

Von anderen Leuten, die ebenfalls in den Himmel starren, erzählt die Bibel. Jesus, von Gott gesandt, muss heimkehren in den Himmel. Ganz plastisch erzählt Lukas das: Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler von Jesus starrt in den Himmel. Zwei Engelwesen erscheinen und fragen:

Ihr Leute aus Galiläa, was steht ihr da und starrt in den Himmel?

Die Engel müssten es ja doch wissen – verspotten sie die Jünger etwa? Ist das, was da geschieht, vielleicht auch für die Engel neu und verwirrend? Oder ist das ein Hinweis? Es gibt hier nichts mehr zu sehen, gehen Sie bitte weiter!

Klar, die Jünger haben jetzt eine Aufgabe. Jesus, ihr Lehrer, ist jetzt mal weg. Himmelfahrt.

Gott in der Höhe

Himmel und Himmel sind ja zweierlei.

Das Englische unterscheidet zwischen ‚sky‘ und ‚heaven‘. Am sky ziehen die Wolken. Sonne, Mond und Sterne leuchten dort. Im Heaven wohnen die Götter, da sind die Engel. Andere Sprachen kennen nur das eine Wort für Himmel. Und so konnte Juri Gagarin, der erste Mensch im All stolz behaupten: Der Himmel ist leer. Keine Götter weit und breit.

Aber ist das wirklich immer so klar? Neulich habe ich eine Nachtaufnahme eines Vulkanausbruchs gesehen:

In der Aschewolke spiegelt sich das warme Licht der glühenden fließenden Lava. Der Himmel außen rum ist nachtblau und sternenübersät. Und um die Wolken herum, die sich hoch über dem Feuer spuckenden Berg auftürmen flackern Blitze auf und ab und werfen ihr kaltes Licht auf die Säule aus Rauch und Feuer. Unglaublich beeindruckend.

Gott, so sagen Kritiker, ist doch nur eine Erfindung, um Unerklärliches erklärbar zu machen. Und ja, die Wissenschaft weiß, wie all diese Lichterscheinungen, das Glühen, die Blitze und das Sternenlicht entstehen. Aber ich staune trotzdem. Plattentektonik, statische Reibung und elektrische Entladungen löschen mein Staunen nicht aus. Ich bin fasziniert, verstehe, dass die Bibel vom Gottesberg spricht. Ich kann mir vorstellen, wie man darauf kommt, da oben, im Feuer, im Gewitter auf dem Berg – dort wohnt Gott...

Auf jedem Alpengipfel steht ein Kreuz. Mühsam hochtransportiert und unter widrigen Bedingungen errichtet. Die Gipfelkreuze weisen auf Gott hin. So nah am Himmel.

Und wo es keine Gipfel gibt, im Sumpfland von Ägypten und Babylon, da haben Menschen der Antike künstliche Berge geschaffen und so ihre eigenen Verbindungen zum Himmel errichtet. Himmelwärts zu Gott.

Vor einigen Jahren hab‘ ich im Urlaub an einer Kirchentüre ein Schild gesehen:

Eisessen, Rollschuh-Fahren und unbedeckte Schultern verboten – wegen der Anwesenheit Gottes.

Ich fand das lustig, als würden Gott nackte Schultern stören. Noch schräger aber finde ich die Idee: Weil Gott in der Kirche anwesend ist, müssen bestimmte Regeln gelten. Klar, Rollschuhe, Eiscreme und Badeanzug in einem Kirchenraum finde ich auch unpassend. Aber nicht wegen Gottes Anwesenheit. Gott ist viel größer als unsere Empfindlichkeiten.  Da steht der doch drüber.

Heiligtümer

Seit es Religionen gibt, haben Menschen besondere Bereiche geschaffen, um dort Gott nahe zu sein. Heiligtümer; Gottes-Häuser, aus Holz und Stein. Aber nicht nur.

Die Bibel erzählt von einem geheiligten Zelt ein Stück außerhalb des Lagers, an dem Mose regelmäßig Gottes Nähe gesucht – und gefunden haben soll. Mischkan – Wohnstatt oder Ohel Mo’ed – Zelt der Begegnung heißt es.

Gott ist also unterwegs mit seinen Menschen – und doch irgendwie noch mal extra, besonders…. getrennt von ihren alltäglichen Geschäften. Die Vorstellung gefällt mir. Dass Gott keine feste Adresse hat, Kirchgasse sieben oder am Tempelplatz eins.

Und doch: Gott ist nur Gott, indem er bei den Menschen ist. Gott will bei uns sein. Ein in himmlischer Ferne brütender Gott – unerreichbar und zurückgezogen – das ist nicht der Gott der Bibel. Gott, wie ihn die Bibel bezeugt, sucht Beziehung – und er schafft Beziehung. Dazu muss er aber irgendwie nahbar sein. Es braucht einen Ort der Begegnung. Ein Zelt also – gute Idee!

Aber keines, durch das ständig der Alltag tobt. Das Zelt der Begegnung ist ein Rückzugsort, ein besonderer Raum. Nah und fern zugleich.

In meinem Umfeld gibt es einige, die haben sich daheim eine kleine Ecke eingerichtet. Sie hängen da ein besonderes Bild auf, stellen ein kleines Tischchen hin mit Blumen und einer Kerze. Ein Ort, herausgenommen aus dem Getriebe des Alltags und doch erreichbar. Ich habe daheim auch so einen Platz – zum Meditieren. Mein Zelt der Begegnung. Gottes Zelt der Begegnung mit mir?

Dann trat Salomo vor den Altar des Herrn.
Vor der ganzen Versammlung der Israeliten breitete er seine Hände zum Himmel aus und betete:
Herr, Gott Israels! Kein Gott ist wie du,
weder oben im Himmel noch unten auf der Erde.
Du bewahrst den Bund mit deinen Knechten.
Du hältst denen die Treue, die vor dir mit ganzem Herzen ihr Leben führen.
Du hast das Versprechen gehalten, das du deinem Knecht, meinem Vater David, gegeben hast.
Hier und heute hat deine Hand erfüllt, was dein Mund versprochen hat. [...]
Gott Israels, lass dein Wort jetzt wahr werden, das du deinem Knecht, meinem Vater David, gegeben hast!
Doch sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen?
Selbst die unendliche Weite des Himmels kann dich, Gott, nicht fassen!
Wie könnte das der Tempel, den ich gebaut habe?
Herr, mein Gott, wende dich deinem Knecht zu, höre sein Gebet und sein Flehen!
Ich flehe dich an! Höre die Worte des Gebets, das dein Knecht heute vor dir spricht. (1. Kön 8,22–24.26–28)

Salomo weiht den ersten Tempel ein. Er spricht ein Gebet voller Dankbarkeit:

Gottes Versprechen ist erfüllt: Endlich gibt es einen Tempel, eine feste Adresse, an der Gott wohnt.

Für ein Volk, das immer unterwegs war, ist so ein fester Kultort ein Symbol der Beständigkeit. Endlich sicher wohnen. Und innerhalb der Mauern der Stadt ein Heiligtum. Nicht Gott braucht das Haus aus Stein, die Menschen brauchen es.

Der heilige Ort stärkt die Gemeinschaft, denn man trifft sich ja am Tempel – besonders zu den großen Festen.

Heilige Orte

Wir evangelische Christen kennen eigentlich kein zentrales Heiligtum. Und doch gibt es Orte, zu denen es uns hinzieht. Für manche ist das die Heimatkirche, in der sie getauft sind oder wo sie konfirmiert wurden. Für andere sind es besondere – heilige Orte.

Taizé – das ist ein Ort, der für viele tief im Herzen verankert ist. Ursprung wunderbarer Lieder, Ort der Begegnung mit Gott und vielen, vielen Jugendlichen aus aller Welt.

Der Heilige Ort meiner Sehnsucht ist die Grabeskirche in Jerusalem, da, wo Jesu Grab gewesen sein soll. Es ist immer viel los dort: Den ganzen Tag strömen Touristenmassen ein und aus. An Ostern ist der Trubel fast zu viel. Hochsaison in der Grabeskirche.

Verschiedene Glaubensrichtungen haben sich den Innenraum sorgfältig aufgeteilt. Hier feiern die Kopten, dort die Griechen, drüben findet ein katholischer Gottesdienst statt. Mönche, Priester, Nonnen eilen hin und her. Und alle achten darauf, einander nicht ins Gehege zu kommen. Auf den ersten Blick geht es am heiligsten Ort der Christenheit gar nicht heilig zu. Viele fühlen sich deswegen von der Grabeskirche erst mal abgestoßen.

Ich habe eine Weile in Jerusalem gelebt. Und in diese Kirche bin ich immer wieder gegangen. Ich habe ihre komplizierte Bau-Geschichte studiert. In den Steinen ist alles lesbar. Immerhin ist die Kirche 1700 Jahre alt.

Oft bin ich einfach nur dort gewesen, um mich am Rand des Trubels hinzusetzen und die Menschen-Menge an mir vorbei fließen zu lassen.

Ein ununterbrochener Zug von Gläubigen erfüllt den Raum. Der Strom moderner Pilger vereint sich mit all den Menschen, die schon früher da waren.

Aus allen Ecken klingen Gebete und Gesänge. Chaotisch, aber auch bezaubernd – wie ein Vogelkonzert am Frühlings-Morgen. Alle loben Gott in ihren Sprachen und auf ihre Weise.

Und ja, die Vorstellung, dass es dort war, wo Jesus gekreuzigt und begraben wurde, löst was in mir aus, was ich nicht erklären kann.

Und trotzdem würde ich nicht sagen: Hier wohnt Gott. Denn Gott ist ja auch bei mir daheim. Er ist bei Ihnen zuhause in der Küche oder im Wohnzimmer.

Gottes Haus – zerstört

Wie die Grabeskirche in Jerusalem steht, so stand dort auch der erste Tempel – immerhin fast 360 Jahre lang. Dann aber wird er von den Babyloniern zerstört. Der Heilige Ort in Trümmern.

Und erst dann, sagt die Bibelforschung, wurde das Einweihungs-Gebet König Salomos geschrieben. Die Priester waren nach Babylon verschleppt. Dort im Exil erinnern sie sich an den Tempel und schreiben seine Geschichte. Die Menschen im Exil sehnen sich zurück, sie weinen.

Da sitzen sie an den Flüssen Babylons und fragen: Hat der fremde Gott unseren Gott besiegt? Ist jetzt er der Herr des Himmels und der Erde? Vielleicht liegt unser Gott unter den Trümmern des Tempels verschüttet?

Herr, Gott Israels! Kein Gott ist wie du,
weder oben im Himmel noch unten auf der Erde.
Du bewahrst den Bund mit deinen Knechten.

Kann es sein, dass Gott trotz allem da ist – bei uns?

Mit uns gezogen, wie einst mit unseren Müttern und Vätern auf dem Weg durch die Wüste im Zelt der Begegnung?

Die Sicherheit, die der Tempel gegeben hat, ist zerstört. Gott, der verlässlich an einem festen Ort zu finden ist, muss neu gedacht werden.

Doch sollte Gott wirklich auf der Erde wohnen?
Selbst die unendliche Weite des Himmels kann dich, Gott, nicht fassen!
Wie könnte das der Tempel, den ich gebaut habe?

Also: Keine feste irdische Adresse Gottes. Gott ist größer.

Die Erschütterung der Jerusalemer Gemeinde von damals zeigt mir heute, wie das geht: Leben in einer Zeitenwende.

Die Mitgliederzahlen in allen Kirchen nehmen ab. Gemeinderäume werden vermietet oder verkauft. Alte Mehrheiten sind nicht mehr, Gewissheiten die früher galten, sind heute überholt. Manche Christinnen und Christen reagieren darauf und versuchen die Rolle rückwärts. Sie halten fest am Gestern, trauen dem Morgen nicht.

Die Bibel reagiert anders, wenn sich die Welt verändert: Sie setzt neu an, sie fragt neu. Gott und die Geschichte – sie sind nach vorne offen. Antworten, die nicht mehr tragen, verwahrt die Bibel für später. Neue Antworten stehen in der Bibel neben den alten, der Wandel ist in der Bibel selbst erkennbar und lesbar.

Wo wohnt Gott?

Jesus soll mal gesagt haben:

"Spaltet ein Stück Holz — ich bin da.
Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort finden." (Thom 77,2f)

Eine Vorstellung aus dem Thomas-Evangelium. Ab und zu spalte ich Holz – für unseren Ofen im Wohnzimmer. Und es ist immer wieder überraschend, welche Strukturen da im Holz zum Vorschein kommen. Mal sehen sie aus wie Wellen oder diese Sand-Rippel am Strand, die der Wind macht. Dann wie Kreise, die sich um einen Stein bilden, der ins Wasser fällt. Unterschiedliche Farben verstecken sich im Holz, Spuren von Pilzen, Fraßgänge von Insekten. So viel zu lesen. Jedes Holzstück ist anders … was für eine Vielfalt!

Ich muss nur hinsehen. Spaltet ein Stück Holz: Die Wunder Gottes!

Hebt einen Stein auf... das habe ich als Kind oft getan. Und ich tu´s heute noch: Steine aufheben, sie anschauen, Maserungen, glitzernde Einschlüsse, auch hier Farben und Formen. Und unter den Steinen: Winzige Eier, Würmer, geheimnisvolle Spuren des Lebens. Ich finde immer etwas.

Gott unter dem feuchten Stein – Gott im Brennholz? Ja, warum nicht!

Ich kann die Spuren Gottes dort finden – Weil Gott in allen Dingen ist.

Ein Mensch, gehe übers Feld und spreche sein Gebet und erkenne Gott,
oder er sei in der Kirche und erkenne Gott:
Erkennt er Gott mehr darum, weil er an einer ruhigen Stätte weilt, wo es Gewohnheit ist, so kommt das von seiner Unzulänglichkeit her, nicht aber von Gottes wegen;
denn Gott ist gleich in allen Dingen und an allen Stätten und ist bereit, sich in gleicher Weise hinzugeben, soweit es an ihm liegt.[1]

Gott ist in allen Dingen bereit, sich hinzugeben... schreibt der Dominikaner-Mönch Meister Eckhart vor 700 Jahren.

Wenn ich das wirklich ernst nehme, ist Gott auch da, wo ich nicht mit ihm rechne. Das heißt dann auch: Gott wohnt unter den Trümmern des Tempels in der antiken Stadt Jerusalem.

Er wohnt zwischen den Trümmern von Mariupol und Bakhmut. Er wohnt in den Trümmern von Aleppo und in den zerstörten Hochhäusern von Gaza-Stadt. Gott wohnt in den verkohlten Ruinen im ausgebrannten Kibbuz in Israel.

Bin ich bereit, ihn dort zu sehen? So schwierig es ist, diese Orte der Grausamkeit und des Unrechts im Gedächtnis zu halten, so notwendig ist es, denn ich glaube:

Gott vergisst oder verlässt diese Orte nicht. Und das richtet sich dann auch an mich: Ich sollte diese Orte nicht vergessen, sie im Blick behalten, auch wenn es schmerzt. Gott bleibt – auch im Leid. So wie Jesus am Kreuz. Er stirbt. Und lässt sich doch nicht auf sein Grab festlegen.

Siehe, wie gut

Gott in der Bibel ist Beziehung – er hat Lust, uns Menschen begegnen er will unter uns sein. Wenn ich in dieser Weise über Gott nachdenke, verliert sich die Frage nach dem Ort ganz. Gottes Gegenwart ist dann auch nicht mehr wie eine Person, sondern die Beziehung selbst. Das Hebräische Wort dafür ist Schechina, ein weibliches Wort, die Einwohnung Gottes, seine Gegenwart. Eine besondere Qualität des Beisammenseins, wo Menschen sich begegnen.

Wenn zwei beisammensitzen und sprechen von der Tora, so weilt die Gegenwart des Ewigen bei Ihnen.

Und wenn drei an einem Tische gegessen haben und haben dabei Worte der Tora gesprochen, ist es, als hätten sie vom Tische des Allgegenwärtigen gegessen. (Pirkei Avot 3,11.17) Siehe wie gut und wie schön ist es, wenn Brüder und Schwestern beieinander wohnen. Gemeinsam sitzen an einem Tisch, miteinander feiern. Miteinander, nicht übereinander lachen. Vielleicht singen. Über die Welt reden – und über Gott.

Reden und hören - wie auch in dieser Morgenfeier. Wo Worte uns verbinden, da sind wir in der Gegenwart Gottes. Ich muss also nicht in den Himmel starren. Gott ist hier. Bei mir, bei Dir. Näher als ich denke. Schon längst. Und er wartet voller Sehnsucht, dass ich ihn finde.

 

[1] Meister Eckhart, Predigten Traktate. Text und Kommentar, Niklaus Largier (Hrg.), Band II, S. 35, Z.36f und S. 37.

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