Synchronisiert euch!
Diese Morgenfeier beginnt mit einem Outing. Ich gebe es zu: Mein erstes Plätzchen und meinen ersten Glühwein hatte ich schon Anfang November. Ich weiß. Viel zu früh. Soll man nicht machen. Habe ich aber. Ich erinnere mich, wie ich auf die bunt gefärbten Blätter vor dem Fenster schaue. Die Sonne scheint warm. Das ist ganz klar ein Herbsttag. Kein Wintertag. Nicht mal mit viel gutem Willen. Ich stelle einen Topf auf den Herd, mit billigem, überzuckerten Glühwein. Es fühlt sich verboten an, als ich die Herdplatte anschalte. Dann reiße ich das erste Päckchen mit Plätzchen auf. Nein, sie sind nicht mal selbstgebacken, sondern vom Discounter. Ich komme mir schrecklich geschmacklos vor. Meine private kleine Zucker- und Plastikschlacht ist das. Und ich bin froh, dass mich niemand sieht. Ich lege mich aufs Sofa. Der dampfende Alkohol steigt mir in die Nase. Nach den mit Heißhunger verschlungenen Zimtsternen und Vanillekipferln macht sich leichte Übelkeit breit. Und ich frage mich: Was um alles in der Welt mache ich hier? Anstatt rauszugehen, anstatt die Sonne zu genießen, etwas für mich und meine Gesundheit zu tun. Ich nehme einen Schluck vom Glühwein und habe das Bedürfnis, Musik zu hören. Mein vorgezogenes Adventsgelage könnte ich mit passenden geistlichen Liedern untermalen. Macht hoch die Tür. Es kommt ein Schiff geladen. Vom Himmel hoch, da komm ich her. Ich entscheide mich für: Mariah Carey.
Ich kann Ihnen sagen, was da los war. Es war der 7. November. Zwei Tage zuvor war Trump zum US-Präsidenten gewählt worden. Fast zeitgleich wurde das Ende der Bundesregierung verkündet. Ich bin Pfarrer in der Evangelischen Kirche. Mein Glaube trägt mich. Christus gibt mir Hoffnung. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Ich konnte nicht mehr und dann habe ich mich für Weltflucht entschieden. Ich wollte mich eingraben in süßlichen Weihnachtsklimbim wie in den Schoß einer Großmutter, die mir über die Haare streicht und zuflüstert: "Alles wird gut, mein Bub, alles wird gut." Aber wird wirklich alles gut?
Ein Filter für den Terminkalender
Mein Ausflug in den Advent war viel zu früh und er fühlte sich falsch an. Als gäbe es irgendwo eine riesige Weltuhr, die vorgibt: Jetzt ist die Zeit. Oder ein stilles Einverständnis zwischen uns: Ab heute sind Lebkuchen ok. In religiöser Hinsicht gibt es tatsächlich so eine Art Vereinbarung. Sie heißt Kirchenjahr. Für manche klingt das vielleicht langweilig. Ich mag es sehr. Das Kirchenjahr legt, so erlebe ich das, einen anderen Filter über meinen drögen Terminkalender. Einen Filter, der funkelt. Und auf einmal ist ein Tag mehr als ein Datum. Ich kann sagen: Heute ist Sonntag, der achte Dezember 2024. Ich kann aber auch sagen: Heute ist der zweite Advent. Beim reinen Kalender-Datum habe ich das Gefühl: Oh Gott – schon? Bald ist das Jahr zu Ende und ich wollte doch heuer unbedingt noch dieses eine große Projekt fertigkriegen. 2024 sollte in meinem Leben doch unbedingt dieses oder jenes geschehen. Ist es aber nicht. Und jetzt ist die Zeit fast abgelaufen. Gnadenlos. Leider haben Konsumwahn und Perfektionsdruck, die auch mich immer wieder packen, dazu geführt, dass ich Stresspickel kriege, auch wenn ich "zweiter Advent" höre. Oh je, bald ist Weihnachten! Die Geschenke! Die Familienbesuche! Ist alles organisiert? Sind alle informiert?
In der Logik vom Kirchenjahr fängt alles gerade erst an und liegt vor mir wie ein großes Versprechen. Da ist der erste Advent quasi Neujahr. Anders als das kalendarische beginnt dieses Jahr aber nicht mit einem großen Knall. Das Kirchenjahr beginnt mit Warten. Erst mal gar nichts tun. Ist die Idee nicht schön? Bevor ich mich in was reinstürze: durchatmen. Und nicht nur einmal. Vierundzwanzig Tage und Nächte. Das ist echt ordentlich viel Verschnaufzeit. Und es ist überhaupt nicht das, was ich intuitiv tun würde, wenn etwas startet. Auf die Plätze, fertig, los – heißt für mich: Aufs Gas drücken! Die Idee von Advent ist: Erst mal ausgiebig auf der Bremse bleiben. Oder noch besser: Den Motor ausschalten. Und schauen, was passiert. Ursprünglich war die Vorweihnachtszeit sogar Fastenzeit. Durchatmen, Fasten… Ich fühle den krassen Kontrast zu meiner Adventswirklichkeit so sehr.
Das Prinzip Kirchenjahr – also, dass Menschen in einem religiösen Jahresrhythmus leben – tut mir an sich gut. Aber passt es noch in unsere Zeit? Am deutlichsten spüre ich den Clash an den stillen Feiertagen Karfreitag und Allerheiligen, wo verlässlich jedes Jahr die Diskussion ums Tanzverbot losbricht. Und mein schlechtes Gewissen nach der Plätzchen-Eskapade kann ich mit dem Kirchenjahr noch besser erklären. Ich hatte so ein Bauchgrummeln. Dieses Gefühl, als hätte ich in dem Mariah-Carey-Gedudel etwas grob missachtet. Nämlich: Unsere Toten. Das evangelische Kirchenjahr mutet uns im düsteren Herbst düstere Themen zu. Der letzte Sonntag vor dem Advent ist der Toten- oder Ewigkeitssonntag. Bevor das Licht kommt, wird es noch mal dunkel. Ich glaube, das ist gut. So für meine ausgewogene Weltwahrnehmung. Aber es ist halt auch der maximale Dämpfer für jeden Weihnachtskitsch. Typisch spaßbefreite Kirche, höre ich manche sagen. Auch beliebt: "Die Kirche will mir vorschreiben, wann ich zu trauern oder zu feiern habe. Das kann man doch nicht verordnen." Stimmt. An meinem siebten November hab ich’s mir nicht vorschreiben lassen. Und dann ist etwas auseinandergefallen. Als alle spazieren gingen in der Herbstsonne und Dinge taten, die man im Herbst halt so tut, zum Beispiel auch mal an Allerheiligen oder am Totensonntag gemeinsam zu den Familiengräbern gehen, da saß ich mit meinem zuckersüßen Glühwein, meinen Plätzchen und den Weihnachts-Popsongs zuhause, wollte so sehr in eine heile Welt flüchten und war dabei vor allem eines: Ganz schön allein.
Immer alles gleichzeitig
Heute ist so viel möglich. Zum Beispiel kann ich immer alles kaufen. Sonntag nachts um halb vier einen höhenverstellbaren Schreibtisch auf Amazon. Montagmorgen im Bus auf dem Weg in die Arbeit kann ich eine Fernreise buchen. Ich genieße diese Freiheit. Und ich will sie auch nicht aufgeben. Zugleich habe ich ein ungutes Gefühl dabei. Und das hat nicht nur mit den Lebkuchen zu tun, die schon Ende August in die Supermarktregale wandern. Meine Sorge ist: Wir haben uns als Gesellschaft irgendwie de-synchronisiert. Wir sind nicht mehr im Takt, spielen nicht mehr dieselbe Melodie. Als würden wir zeitgleich in verschiedenen Zeiten leben. Oder Welten. Letzte Woche war ich in einem großen Kaufhaus auf der Suche nach einem Geschenk für einen Freund. Mit der Rolltreppe bin ich zwischen den Etagen und Abteilungen hin- und hergefahren. Die Abteilungen heißen dort "Erlebniswelten". Tatsächlich beschreibt das gut, was ich da sehe. Es sind Erlebens-Welten. Verschiedene Arten, ein und dieselbe Welt zu erleben. Wahrzunehmen. Etage eins ist für die Nostalgiker. Für alle, deren Uhren ein bisschen langsamer ticken. Denen sich die Welt vielleicht zu schnell dreht. Ich sehe da Rundsicheln in nussbraunen Lederetuis und schmiedeeiserne Pfannen, die wohl schon meiner Oma in den 50er-Jahren zu oll gewesen wären. In Etage zwei dagegen wird ein schickes Gerät fürs Nachtkästchen beworben, das mit künstlicher Intelligenz arbeitet. Mit Licht- und Klangreizen soll es besseren Schlaf ermöglichen. Außerdem gibt es da Drohnenkameras für zuhause, die lautlos durch Zimmer schweben und das Gefühl von Sicherheit vermitteln sollen. Etage zwei ist ein Paradies für alle, denen es gar nicht schnell genug gehen kann mit dem Fortschritt. Im obersten Stock weist mich ein blinkendes Schild darauf hin, dass ich Rabatt auf alle Produkte im Online-Shop erhalte, wenn ich den Newsletter abonniere. Wieder ein anderes Zeitverständnis. Das Internet ist die Erlebniswelt für alle, die sich die Zeit fürs Kaufhaus gar nicht erst nehmen.
Ich stehe auf der Rolltreppe und sehe die Abteilungen an mir vorüberziehen. Und die Uhr tickt. Gleich ist Ladenschluss. So fühle ich mich öfter im Leben. Irgendwie verloren zwischen diesen Welten. Manchmal heillos nostalgisch, dann wieder heiß auf jedes neue Technikding. Bevor mir der Fortschritt dann doch wieder gruselig vorkommt. Und immer so ein bisschen in Sorge, dass mir, während ich noch überlege, die Zeit davonläuft. Oder uns. Nicht nur in Konsumdingen. Generell. Finden wir wieder zueinander aus unseren gesellschaftlichen Erlebens-Welten? Oder entwickeln wir uns endgültig auseinander? Wie viel Zeit haben wir noch, um das zu klären?
Das Kirchenjahr erzählt scheinbar von einer Zeit, als die Menschen noch synchron gelebt haben. Im selben Takt. Muss das friedlich gewesen sein. Alle sind still am Karfreitag, alle feiern gemeinsam an Ostern das Leben, danken an Erntedank, sitzen an Weihnachten kollektiv mit roten Bäckchen in der Kirchenbank. Und wieder von vorn. Ich bin mir nicht sicher, ob es so eine Zeit wirklich jemals irgendwo gegeben hat. Ob nicht auch das Nostalgie ist.
Cyndi Lauper singt in einem Lied von der Erfahrung, wie Menschen mit verschiedenen Geschwindigkeiten miteinander durchs Leben gehen. Time after time. Immer wieder.
In der Bibel finde ich Worte, die sind rund zweitausend Jahre alt. Schon die erzählen von Zukunftsängsten. Davon, dass etwas Unbekanntes mit Karacho auf die Menschheit zukommt. Und ob das nun wundervoll oder katastrophal ist, scheint den Leuten erst mal nicht klar zu sein. Vielleicht sind meine Sorgen wirklich nicht so neu.
Jesus spricht: Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.
Und er sagte ihnen ein Gleichnis: Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass der Sommer schon nahe ist. So auch ihr: Wenn ihr seht, dass dies alles geschieht, so wisst, dass das Reich Gottes nahe ist.
Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis es alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.
(Lukas 21, 25-33)
Uralte Worte sind das. Und sie bringen Gefühle zum Ausdruck, die ich auch heute, im Jahr 2024, sehr gut nachvollziehen kann. Denn ich glaube: Eine Angst steckt tief in uns. Die Angst, dass etwas auf uns zukommt, das wir nicht beherrschen können. Gesellschaftliche Umwälzungen. Drohende weltpolitische Konflikte, sogar Kriege. Aber auch: Technischer Fortschritt, der uns entgleitet und überrollt. Und dann gibt es mindestens zwei Strategien, damit umzugehen. Kopf in den Sand stecken. Dem Gestern nachweinen. Oder den Versuch, sich zu ermächtigen. Ich umarme den Fortschritt so fest, dass er mir nichts mehr anhaben kann.
Jesus wäre nicht Jesus, wenn er auf diese zutiefst menschliche Regung – die blanke Angst – nicht eine gute Antwort parat hätte. "Seht auf und erhebt eure Häupter", sagt er kurz und knapp. Ich kann nicht anders, als mir das sehr konkret vorzustellen. Kopf hoch. Vergrabe dich nicht in einem Gestern, das es so wahrscheinlich nie gegeben hat. Aber auch: Hochschauen. Vom Smartphone. Das geht an mich selbst als Social-Media-Junkie. Und was sehe ich da, wenn ich aufschaue? Erst mal: Gesichter. Menschen, die vielleicht anders ticken als ich. Und dann verstehe ich dieses Aufschauen auch sinnbildlich. Ich schaue weg von Kleinklein da unten, hoch zum großen Ganzen. Für mich ist das Gott, der alles umfängt. Aber so weit muss man vielleicht gar nicht gehen. Es reicht schon zu sehen: Da ist etwas, das verbindet uns Menschen. Da ist etwas, das kann größer sein als meine Angst. Gemeinsinn vielleicht.
Zeit der großen Synchronisation
Darum freue ich mich so auf den Gottesdienst an Heiligabend in 16 Tagen. Es ist für mich die Zeit der großen Synchronisation. Wo sich für eine Stunde all die verschiedenen, individuellen Zeitstränge in einem Punkt bündeln. In der Krippe. Manche haben zwei Minuten vor Beginn noch eine WhatsApp-Nachricht an die beste Freundin verschickt. Merry Christmas. Andere fühlen sich von leuchtenden Handy-Displays in der Kirche extrem gestört. Die einen haben seit Jahren keine Kirche mehr von innen gesehen. Andere sitzen daneben und denken: Wäre schön, wenn ihr auch mal sonntags hier wärt. Und ich will mir nicht ausmalen, in welchem Tumult es vielleicht enden könnte, wenn ich all diese Menschen, die da dichtgedrängt in der Kirchenbank sitzen, zu einem brisanten politischen Thema diskutieren ließe. Etage 1 mit Etage 2 aus dem Kaufhaus konfrontiere. Und dazu die Generation, die eh nur noch digital unterwegs ist.
Aber darum geht es nicht an Weihnachten. "Seht auf und erhebt eure Häupter." Mach ich. Und dann singe ich. Dann singen wir. O du Fröhliche. Stille Nacht. Und wir spitzen die Ohren. "Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde." Und dann leuchten unsere Augen. Und nein, ich glaube, nicht nur aus Nostalgiegründen oder weil wir uns in unsere Kindheit zurückversetzt fühlen. Bei mir leuchten sie auch, weil ich sehe: Wir leben in verschiedenen Geschwindigkeiten. Aber heute sitzen wir um die Weihnachtsgeschichte wie um ein Lagerfeuer. Die Geschichte kennt keine Zeit. Sie ist überzeitlich schön. Ich kann es kaum erwarten. Aber ich warte. Es ist ja noch Advent.
Zeit zum Warten
"Seht den Feigenbaum und alle Bäume an: wenn sie jetzt ausschlagen und ihr seht es, so wisst ihr selber, dass der Sommer schon nahe ist."
Auch das sagt Jesus. Worte voller Hoffnung. Nur ist bei uns in Deutschland gerade Dezember. Ausschlagende Feigenbäume: Fehlanzeige. Die Natur befindet sich im Winterschlaf. Anders als bei uns Menschen verläuft da alles gut synchron. Die Jahreszeiten geben den gemeinsamen Takt vor. Oder?
Ja und nein. Nicht alle Pflanzen schonen ihre Kräfte für den Frühling. Unter der Erde regt sich schon was. Bärlauch, Eisenhut, Heidelbeere. Die gehören zu den sogenannten Kaltkeimern. Gerade dann, wenn es richtig frostig ist, beginnt bei ihnen das Keimen. Quasi eine eingebaute Schutzfunktion. Damit sie nicht versehentlich im Herbst austreiben und die jungen Triebe erfrieren, braucht es erst mal ordentlich Kälte, bevor sich was tut. Mich tröstet das. Nicht mal die Natur entwickelt sich synchron. Ihr Geheimnis für gutes Miteinander ist ein anderes. Es gibt Frühblüher, Spätblüher. Kaltkeimer, Lichtkeimer, Warmkeimer. Jeder hat sein eigenes Tempo. Jeder seine eigene Zeit zur Entfaltung. Vielleicht gibt es das schon immer. Die einen, die davonziehen. Und solche, die ein bisschen länger brauchen. In Gottes großem Garten des Lebens haben sie Platz. Und Zeit, soviel sie eben brauchen. Und Zukunft.
Es ist der zweite Advent. Das Kirchenjahr hat gerade angefangen. Das meiste liegt noch vor mir. Bei dem Gedanken krieg ich kalte Füße. Wird alles gut im neuen Jahr? Ich weiß es nicht. Das Kirchenjahr meint: Abwarten. Vielleicht Tee trinken. Oder pappsüßen Glühwein. Jetzt ist die Zeit. "Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht."
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