Vieles wirkt wie aus der Zeit gefallen: Homosexuell lebende Menschen treffen in unserer heutigen Gesell­schaft auf eine zunehmende, wenn auch nicht vollständige Akzeptanz. Ihre rechtliche Gleichstellung ist nahezu erreicht.

Doch der Blick auf einschlägige kirchliche Stellungnahmen zeigt, dass sich unsere Kirchen mit dieser Entwicklung vergleichsweise und überwiegend schwertun.

Kirche und Homosexualität

Eine geradlinige Entwicklung einer allgemein angenommenen Position zum Thema "Homosexualität und Kirche" innerhalb des theologisch-ethischen Diskurses der letzten Jahre gibt es nicht. Aber es gibt Trends und mehrheitlich geteilte Auffassungen. Unterschiedliche Einschätzungen ergeben sich aus unterschiedlicher Sachkenntnis, aber auch aus unterschiedlichen theologischen Voraussetzungen.

Im "Handbuch der christlichen Ethik" aus dem Jahr 1978 wird das Thema Homosexualität unter der bezeichnenden Überschrift "Sexuelle Abweichungen" erörtert. Damit trägt Dieter Faßnacht, der Autor dieses Artikels, allerdings wohl nur der überwiegenden Auffassung seiner Zeit und Gesellschaft Rechnung, ohne sie persönlich zu teilen.

Eigentlich ist das Wort "Abweichung" fehl am Platz. Für Faßnacht ist Homosexualität eine individuelle Prägung biologischer, aber auch geschichtlich-kultureller Art vor dem Hintergrund einer bei allen Men­schen generell und ursprünglich angelegten Bisexualität. Dass Homosexualität keine "Abweichung" ist und entsprechende normative Ein- bzw. Abschätzungen zu vermeiden sind, legen die neuesten und anerkanntesten Lehrbücher der theologischen Ethik sehr ausführlich dar.

Allerdings sind heutzutage die Erklärungen über den Ursprung und die Entstehung von Homosexualität als eigene Prägung weniger entschieden als noch in den 70er-Jahren. Sie bleiben heute im Bereich von mehr oder weniger wahrscheinli­chen Möglichkeiten, die aber eines doch mehrheitlich festhalten: dass eine solche sexuelle Prägung willentlich nicht reversi­bel, sondern vorgegeben ist.

Homosexualität als vorgegebene Prägung

Das, was uns – als Rahmenbedingung unseres Lebens – von sich her vorgegeben und nicht selbst von uns gemacht ist, heißt im klassischen Griechisch "physis", Lateinisch "natura", also: "Natur". Wenn Homosexualität zu solchen Vorgegeben­heiten und Daseinsbedingungen gehört, dann kann sie folglich nicht "widernatürlich" (contra naturam) sein. Diese Annahme, die von Tertullian im frühen Christentum über Thomas von Aquin im Mittelalter und sogar noch in der Gegenwart von Karl Barth vertreten wurde, ist dann nicht länger haltbar.

Aus theologischer Sicht kommt noch etwas hinzu: Das, was allgemein als Natur im obigen Sinn wahrgenommen wird, nennen wir aufgrund des christlichen Wirklichkeitsverständnisses "Schöpfung". Natur und Schöpfung sind aber nicht in jeder Hinsicht dasselbe, denn Schöpfung besagt: Hier ist nichts "von sich her" vorgegeben, sondern von Gott als Vorgabe gemacht.

Also kann Homosexualität als solche auch nicht schöpfungswidrig oder gegen den Schöpfungswillen Gottes sein oder einer "Schöpfungsordnung" widersprechen.

Es kann vielmehr durchaus gefolgert und gesagt werden, dass nicht nur Sexualität als solche, sondern auch die Homosexualität zunächst einmal eine gute Schöpfungsgabe Gottes ist.

Wertung in der Bibel

Diese Schlussfolgerung kann auch nicht durch die an sich richtige Feststellung aufgehoben werden, dass nirgendwo in der Bibel ausdrücklich eine positive Wertung von Homosexualität im Licht des Willens Gottes festgestellt wird. Unabhängig davon, ob nicht die Bibel dennoch eine zumindest teilweise wertfreie, neutrale Sicht auf Homosexualität bietet (David und Jonatan), ist die entscheidendere Frage in diesem Zusammenhang eher die, was in biblischen Texten unter Homosexualität verstanden und warum sie so rigoros abgelehnt worden ist.

Die harsche Verurteilung von Homosexualität in der Bibel erklärte Faßnacht als Abgrenzung von kultischen Praktiken der "Heiden", zu denen unter anderem auch Tempelprostitution und homosexuelle Handlungen gehörten.

Zudem entspricht das, was einschlägige biblische Traditionen verurteilen (einzelne homosexuelle Handlungen, zu denen man sich willentlich entscheiden oder die man eben auch willentlich unterlassen kann – und soll), nicht ohne Weiteres dem, was wir heutzutage darunter verstehen, nämlich eine vorgegebene Prägung oder Orientierung, die willentlich nicht reversibel ist.

Insofern führt der kulturgeschichtliche Abstand zwischen den biblischen Zeiten und unserer Gegenwart zu einer prinzipiellen Relativierung biblischer Aussagen und ihrer ethisch orientierenden Kraft für unsere Gegenwart.

Homosexualität als "Sünde?

Dass Homosexualität "Sünde" sei, wird im "Handbuch der christlichen Ethik" von 1978 mit Blick auf die einschlägigen Bibelstellen nicht explizit gesagt. Zwar sieht beispielsweise Paulus (Römer 1, 26-32) einen engen Zusammenhang von "Unzucht" (zu der für ihn auch homosexuelle Handlungen gehören) und Gottlosigkeit: Abkehr von Gott führt auch und unter anderem zu sexuellem Fehlverhalten. Aber einen Umkehrschluss kann man daraus nicht ableiten.

Hetero- wie homosexuelle Menschen sind gleichermaßen von der Möglichkeit der Sünde betroffen – auch, aber nicht nur im Blick auf ihre Sexualität.

Gleichermaßen haben sie auch Möglichkeiten und Fähigkeiten, gute Partnerschaften zu entwickeln und das Leben zu meistern.

In der Frage, ob Homosexualität "Sünde" sei oder nicht, zeichnet sich im theologisch-ethischen Diskurs jedenfalls ein deutlicher Konsens dahingehend ab, dass hier nicht die Beschaffenheit (Qua­lität) einer Lebensform als solche ent­scheidet, sondern die Art und Weise, wie sie gestaltet und gelebt wird (Modus).

Ob Menschen in der Ehe leben oder Single sind, ob sie zölibatär leben oder in homosexuellen Partnerschaften: Auf das "Wie" kommt es an. Auch eine "gutbürgerliche" Ehe kann bekanntlich sündig – im Sinne von lieblos, gewalttätig, verantwortungslos etc. – geführt werden.

Umgekehrt kann auch eine homosexuelle Partnerschaft moralisch und christlich vorbildlich gestaltet werden.

Unter dem Aspekt der "Sünde" sitzen wir alle im selben Boot – wie auch unter dem Aspekt der Rechtfertigung sola gratia, allein aus Gnade. Daher ist die Kategorie "Sünde" zur trennscharfen Qualifizie­rung oder Disqualifizierung bestimmter Lebensformen nicht sinnvoll. Im Blick auf die Art und Weise, wie diese gestaltet werden, aber durchaus.

Die Ehe als von Gott gewollte Lebensform?

Dennoch vertreten einige theologische Ethiker bei durchaus zunehmender Akzeptanz von Homosexualität den Standpunkt einer qualitativen Privilegierung der Ehe heterosexueller Menschen: Sie sei die eigentlich von Gott gewollte Lebensform. Sie soll das "Leitbild" menschlichen Zusammenlebens sein, obwohl die Kriterien für ihre Güte (Freiwilligkeit, Ganzheitlichkeit, Dauer, Verbindlichkeit, Verantwortung etc.) auch homosexuellen Partnerschaften attestiert werden.

Diese Position ist insofern befremdlich, als in den biblischen Texten, auf die in diesem Zusammenhang verwiesen wird (1. Mose 1, 26 f.; 2, 18 ff.), hebräische Worte für "Ehe" und mit unserem romantisch-bürgerlichen Eheverständnis verbundene Vorstellungen gar nicht vorkommen und kulturgeschichtlich auch gar nicht vorkommen können.

Es geht dort lediglich um eine Erklärung von Zweigeschlechtlichkeit – ohne Hinweise auf eine bestimmte Lebensform für deren Gestaltung.

Polygamie wie zum Beispiel bei König Salomo, Monogamie wie zur Zeit Jesu, sexueller Verkehr zwischen Mann und Frau ohne irgendeine Form von "Ehe" wie im Hohelied Salomos beschrieben – all das kommt ohne weitere Kommentierung und Bewertung in biblischen Traditionen vor.

Dass der Apostel Paulus der Ansicht war, es sei eigentlich besser, keine Frau zu berühren, zur Vermeidung von Unzucht sei die Ehe mit ihrer Ordnung aber gleichsam das kleinere Übel (1. Korinther 7, 1 ff.), ist aus seiner Naherwartung der Wiederkunft Jesu erklärbar. Für eine biblisch durchgängig begründbare Privilegierung dessen, was wir seit dem 19. Jahrhundert unter "Ehe" verstehen, spricht es nicht unbedingt.

Kinder als Argument?

Die privilegierte Rolle der Ehe wird auch funktional begründet mit der Nachkommenschaft, die aus ihr erwachsen kann, mit der wechselseitigen Fürsorge und reicheren Entfaltung menschlicher Lebensmöglichkeiten. Angesichts der heutigen Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin und anderer Alternativen, die wohl von einer Zweigeschlechtlichkeit, aber nicht von der Lebensform der Ehe abhängen, sind solche Argumente zwar relativ, aber kaum noch absolut überzeugend. Andererseits sind sie umgekehrt genauso anwendbar auf homosexuelle Lebenspartnerschaften.

Auch "Fruchtbarkeit" muss nicht ausschließlich biologisch im Sinne von Fortpflanzung verstanden werden, sondern kann auch in einem wei­ten Sinne jede Form von Beiträgen zum privaten wie zum gesellschaftlichen Wohl meinen, die ganz unabhängig von einer bestimmten Lebensform sind.

Moralisches Urteilen

Bei gelegentlichen Hinweisen auf häufigen Partnerwechsel von homosexuell geprägten Menschen im Vergleich zur traditionellen Ehe (wenn dies überhaupt zutrifft) zur Begründung nicht völliger moralischer und rechtlicher Gleichstellung homosexueller Partnerschaften werden möglicherweise Ursache und Folge vertauscht.

Es könnte gerade umgekehrt sein, dass eine uneinge­schränkte Akzeptanz und Gleichstellung homosexueller Partnerschaften, wenn sie den genannten (oder auch weiteren anderen) Kriterien entsprechen, einen positiven, stärkenden Effekt auf die Lebensform "Ehe" bewirkt.

Auf jeden Fall gibt es keine zwingenden Gründe, irgendeine bestimmte Lebensform als solche zum Leitbild zu erheben. Zu tolerieren ist jede Lebensform, sofern sie mit den verfassungsmäßigen Grundrechten und der Würde der Menschen vereinbar ist.

Zusammenfassung

Zusammengefasst: Unter den genannten humanwissenschaftlichen, gesellschaftlichen und vor allem theologischen Voraussetzungen gibt es keine stichhaltigen oder durchschlagenden theologisch-ethischen Argumente gegen eine prinzipielle moralische, ekklesiologische und kirchenrechtliche Gleichstellung von hetero- und homosexuell geprägten Menschen.

Wohl aber gibt es viele dafür.

Homosexuell geprägten Menschen als solchen den Zugang zu kirchlichen Ämtern zu erschweren oder zu verweigern oder ihnen einen Segen in einem öffentlichen Gottesdienst analog einem Gottesdienst anlässlich einer Trauung vorzuenthalten oder einen solchen nur im privaten Raum persönlicher Seelsorge zuzulassen ist daher eine problematische Praxis, die zu revidieren ist.

Vor diesem Hintergrund ist es aus Sicht der theologischen Wissenschaft zu begrüßen, dass inzwischen einige der evangelischen Landeskirchen in Deutschland eine auch gottesdienstliche Praxis der Gleichbehandlung homosexueller Menschen und Partnerschaften pflegen.