"Zur Hoffnung berufen" steht in grüner Schrift auf dem Plakat des 18. Deutschen Kirchentags. Darüber ein schwarzes Kreuz, aus dem ein Zweig in leuchtendem Grün herauswächst. Eine Parabel der Auferstehung. Christen können hoffen, sie sind zur Hoffnung berufen, dieses Motto stand über dem Kirchentag 1979 in Nürnberg. Die Hoffnung ist in der Frankenmetropole ganz praktisch zur Freude geworden. "Menschen saßen auf dem Boden, dicht nebeneinander, Brot wurde miteinander geteilt" erinnert sich Rolf Roßteuscher aus Oberfranken: "Wir kamen spät an, die Kirche war überfüllt, wo hatte es das bis dahin schon mal gegeben! Auf dem Fußboden gab es noch ein Plätzchen für uns. Die Atmosphäre war wundervoll, ein Gefühl von spiritueller Gemeinschaft – auch wenn ich es damals nicht so nannte."

Das Feierabendmahl – heute fester Bestandteil des Kirchentages – ist beim 18. Evangelischen Kirchentag 1979 in Nürnberg zum ersten Mal gefeiert worden. Die damalige Theologiestudentin und spätere Generalsekretärin des Kirchentags, Margot Käßmann, erinnert sich: "In meiner Jugend hatte ich das Abendmahl eher wie eine Trauerveranstaltung erlebt. Das Abendmahl nun so bunt im Kreis als Fest des Lebens zu feiern, das hat mich schon fasziniert."

Käßmann ist 20 Jahre alt als sie mit dem Evangelischen Studierendenwerk Villigst nach Nürnberg kommt. Die Studierenden übernachten in einer Schule, nur geschlafen hätten sie kaum, erzählt sie. "Es war ein totales Wirrwarr. Die Letzten kamen um drei und die Ersten gingen um sechs".

Größter Kirchentag seit Kriegsende

Mit fast 80.000 Dauerteilnehmern stellt der Kirchentag 1979 einen Aufbruch dar.

"Ich weiß nur, dass Nürnberg aus allen Nähten platze. Einmal war ich eineinhalb Stunden zu einer Veranstaltung unterwegs und als ich ankam war die Veranstaltung aus",

erinnert sich die heute 75-jährige Karin Müller aus Rathingen. Viele junge Leute hätten mit der Gitarre am Straßenrand gesessen. An langen Tischen sei gemeinsam gegessen und gesungen worden.

Die Zeitungen berichten, dass der bis dahin größten Kirchentag der Nachkriegsgeschichte stark von der Jugend bestimmt ist. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer sind unter 25 Jahren. Über tausend Einzelveranstaltungen, viele davon in überfüllten Messehallen und Sälen. Die Programmpunkte 1979: "Schöpfung am Abgrund - Christen vor der Umweltfrage". Wie gehen Deutschland und die Kirche mit der Verantwortung des zweiten Weltkriegs um: "Jüdischer Glauben nach Auschwitz" und "Nach dem Holocaust". Auf der Suche nach Antworten waren auch die 4.000, Menschen die zur Podiumsdiskussion "Evangelium und Homosexualität". Gleiches Interesse wie die Diskussionsforen fanden die Bibelarbeitskreise.

"Natürlich bin ich zu Jörg Zink", erzählt Karin Müller. In dicken Ordnern sammelt die Rentnerin Zeitungsartikel, Fotos, Programme und Liederhefte der Kirchentage, die sie besucht hat. "Dass ich mir die Bibelarbeiten wie jetzt ausdrucken kann, das gab es damals noch nicht." Die Erzieherin und Religionspädagogin reist 1974 aus der DDR aus. In Westdeutschland angekommen, besucht Müller sofort den Kirchentag 1975 in Frankfurt. Seither ist Müller auf jedem Kirchentag bis 2017 gewesen.

Ihr erster Besuch war aber schon 1961. "In der DDR gab es auch kleine Kirchentage", erzählt sie. Es habe mehr evangelische Kindergärten gegeben, als man heute denke, doch der Etat sei knapp gewesen, die Ressourcen begrenzter. In Nürnberg, 1979, beim Markt der Möglichkeiten - ein Ort an dem Lehrmaterial gekauft werden kann - habe Karin Müller sich mit Spielsachen und Lehrmitteln für die Arbeit im Kindergarten eingedeckt:

"Die Handpuppen habe ich in die DDR geschickt".

"Ändert euer Leben!"

Als junge Theologiestudentin ist Margot Käßmann nicht wegen des politischen Treibens zum Kirchentag gekommen: "Ich war eher begeistert von den Bibelarbeiten." Dorothee Sölle hält 1979 noch keine Bibelarbeit, doch Käßmann ist, von der wohl umstrittensten Teilnehmerin in Nürnberg fasziniert: "Ich fand sie so wahnsinnig mutig. Und es war natürlich eine andere Sprache als im Studium. Das war Theologie sehr nah bei den Menschen." Die Germanistikdozentin Sölle hatte 1968 in Köln das ökumenische "Politische Nachtgebet" begründet und diskutierte über den Vietnamkrieg, Obdachlosigkeit oder feministische Thesen.

An der Schlussveranstaltung im Nürnberger Luitpoldhain nehmen mehr als 120.000 Menschen teil. Klaus von Bismarck, Präsident des Kirchentags, spricht in seiner Abschlussrede von einer "neuen Frömmigkeit" der Jugend. Ein neuer Glaube, führt Bismarck weiter aus, der nicht mehr identisch mit Kirchlichkeit sei. Er lobt die große Toleranzbreite und das Engagement der Teilnehmer und appelliert an die Menschen mit christlicher Aufforderung 'Ändert Euer Leben!'. Margot Käßmann erkennt damals, dass der Kirchentag ein "Motor der Veränderung" sein kann. Bei den Treffen sei Raum um theologisch neu zu denken, sagt sie. Vor allem in den 70er und 80er Jahren sei Neuland erprobt worden, das habe sich dann in die Gemeinden geschabt, so Käßmann.

Die anwesenden Politiker, die Teilnahme von Dorothee Sölle und die Diskussion über Homosexualität bestimmen die Nachrichten über das Treffen. Die prägendsten Momente der Teilnehmer sind aber oft andere: "Als 18-Jährige hatte ich gerade die Abiturprüfungen hinter mir und war daher zeitlich ziemlich frei. Daher folgte ich gerne dem Aufruf des damaligen Freisinger Studentenpfarrers. Der suchte Jugendliche, die sich als Mitarbeiter in seinem Projekt beteiligen wollten: Die Halle der Stille. Dorthin kamen Menschen, um zur Ruhe kommen und sich bei Kerzenlicht zu Gebet und Meditation zu sammeln.

Während des Kirchentages hatten wir Jugendlichen die Aufgabe, in wechselnden Diensten mit Schildern an den Zugängen zu stehen, auf denen nur ein einziges Wort stand: STILLE.

Ich erinnere mich daran, dass ich diese Tätigkeit als etwas langweilig empfand. Aber man konnte auf diese Weise ungehindert Menschen beobachten", erinnert sich Pfarrerin Ulrike Wilhelm aus Garmisch-Partenkirchen. Mehr als 15.000 freiwillige Helfer tragen zum Gelingen des Treffens bei.

Kirchentag 1979 Nürnberg
Der Deutsche Evangelische Kirchentag 1979 in Nürnberg war mit 80.000 Dauerteilnehmern der bis dato Größte.
Kirchentag 1979 Nürnberg
Zu Gast in Nürnberg: Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Erinnerungen von der Pfarrerin Ulrike Wilhlem. Sie war 1979 einer der 15.000 Helfer und arbeitet in der Halle der Stille mit.
Kirchentag 1979 Nürnberg
Erinnerung der Erzieherin Karin Müller: Sie kaufte beim Markt der Möglichkeiten Handpuppen ein und schickte sie in die DDR.
Kirchentag 1979 Nürnberg
Karin Müller fotografierte Jörg Zink. Der Pfarrer hielt damals eine Bibelarbeit zur Speisung der 5.000 (Johannes 6, 1-15).
Kirchentag 1979 Nürnberg Abschlussgottesdienst
Karin Müller, immer vorne mit ihrer Kamera dabei. Die erste Reihe beim Abschlussgottesdient im Luitpoldhain.

Über den Rücken von Franz Joseph Strauß hinweg

Die Politik und der Kirchentag sind nach dem Zweiten Weltkrieg bei den deutschlandweiten Treffen eng miteinander verwoben. 1979 stehen der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß am Pult. 2017 sprechen Angela Merkel und Barack Obama vor dem Brandenburger Tor. 2019 gibt es Kontroversen um die Teilnahme der AfD. Zum Reformationsjubiläum

Thomas Geiger, gerade 17 Jahre alt, ist '79 mit der Evangelischen Jugend in Nürnberg angereist. Ein Jahr zuvor beginnt Geiger als Bildjournalist für Lokalblätter zu arbeiten.  Der Schüler nutzt seine Chance und akkreditiert sich für das Treffen als Fotograf.

"Hinter dem Bayerischen Landesvater Franz Josef Strauß, mit der Kamera über seinen Rücken hinweg vor den Menschenmassen am Hauptmarkt versammelt, das ist mir schon in Erinnerung geblieben."

An Predigten könne er sich nicht mehr erinnern, nur durch die Bilder, die er gemacht habe, wüsste er, dass er überhaupt da gewesen sei. "Ich habe den Helmut Schmidt unheimlich viel fotografiert. Das hat mich auch noch weiter begleitet, daraus habe ich drei Bilder für die Bewerbung für die Bayerische Staatslehranstalt für Fotografie in München genommen." Geiger ist Bildjournalist geworden und lichtet seither Politiker ab. Bis heute ist er zudem aktiv in der Evangelischen Kirche in Hersbruck, auch wenn in seinem "Glaubensleben der Kirchentag 1979 nicht prägend war." Das Ereignis habe immerhin Geigers Wunsch, Bildjournalist zu werden, bestätigt.

2023 - Zweiter Kirchentag in der Frankenmetropole

Im Jahr 2023 ist der 38. Evangelische Kirchentag vom 7. bis 11. Juni dann in Nürnberg zu Gast. Die Themen von 1979 bewegen wieder. Das Klima, die Umwelt und der Frieden bringen tausende Menschen auch 40 Jahre später auf die Straße. Populisten regieren, rechtsradikale Gruppen wachsen und junge Menschen streiken für mehr Klimaschutz. Neu ist der massive Mitgliederschwund der Kirchen. Das Motto von 1979, "Zur Hoffnung berufen", klingt im Angesicht dessen besonders aktuell.

Die Vorbereitung laufen bereits: "Beim nächsten Kirchentag bin ich selbstverständlich dabei, wir haben schon in der Gemeinde gesprochen, was wir machen", erzählt Thomas Geiger. Und auch Margot Käßmann, die seit 1979 kein Treffen verpasst hat, will mit positiven Erinnerungen zurück nach Franken kommen: "Für eine junge Frau war das damals so ein ganz anderes, viel freieres, viel weltoffeneres bunteres Bild von Kirche – so wie ich mir Kirche wünsche."