Herr Bürk, warum braucht es neben dem Kälteschutz nun auch einen Schutzräume im Sommer?
Gordon Bürk: Sobald der Kälteschutz Ende April schließt, sind die Menschen ohne feste Wohnung wieder im Stadtbild zu sehen. Das wilde Campieren nimmt zu. Und je länger sie auf der Straße leben, desto mehr verfestigen sich die Strukturen, etwa unter den Isarbrücken. Der erweiterte Übernachtungsschutz soll helfen, solche Verfestigungen zu verhindern.
Rund 9.000 Menschen in München haben keine Wohnung, die allermeisten sind sozialhilfeberechtigt und leben in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe. Wie viele, schätzen Sie, leben tatsächlich auf der Straße?
Ich gehe von etwa 1.000 Menschen aus. Der Kälteschutz zielt ja gerade auf Menschen, die hier nicht anspruchsberechtigt sind, also keine Sozialhilfe erhalten und keinen Anspruch auf Unterbringung haben. Das betrifft vor allem Menschen aus Bulgarien und Rumänien, die weniger als fünf Jahre hier leben.
Wie soll das neue Programm heißen, analog zu "Kälteschutz"?
"Übernachtungsschutz" trifft es ganz gut.
Es sollen Leib und Leben geschützt werden - nicht nur vor der Kälte, sondern auch vor Gewalt und sexuellen Übergriffen.
Mit dem Begriff lässt sich die Hilfe auch abgrenzen von den Hilfen des regulären Wohnungslosensystems, das für Anspruchsberechtigte gilt und wo der Standard deutlich höher ist. Der Kälteschutz und die Erweiterung auf den Sommer bieten kein Luxushotel.
Was außer dem Schutz des nackten Lebens wird noch bezweckt?
Der Übernachtungsschutz erleichtert auch die Beratung, weil die Leute präsenter sind als auf der Straße. Unsere Sozialarbeiter beraten sie hinsichtlich der Chancen, die sie hier haben - oder die sie nicht haben. Die Fachkräfte sprechen die entsprechenden Sprachen und halten die Beratung offen: Hat jemand eine Ausbildung und hier eine berufliche Zukunft? Hat er Chancen, hier Wohnraum zu finden und sich ein Leben aufzubauen? Oder ist es vielleicht günstiger für ihn, ins Heimatland zurückzukehren?
Wird das Konzept des Kälteschutzes gut angenommen?
Ja. Von 850 Plätzen sind in der Spitze 550 belegt, und den Puffer brauchen wir. Im Sommer wird es vorerst nur 300 Plätze geben, aber bei Bedarf kann das rasch aufgestockt werden. Geöffnet ist von 17 bis 9 Uhr. Familien können tagsüber in den Tagesaufenthalt FamAra gehen. Das Fahrticket zur Bayernkaserne zahlt seit vergangenem Winter die Stadt.
Was hat das Evangelische Hilfswerk motiviert, nun auch den Übernachtungsschutz im Sommer anzubieten?
Es war die logische Konsequenz daraus, dass wir seit 2012 auch für den Kälteschutz verantwortlich sind und unsere Strukturen sich bewährt haben. Unsere Auffassung ist:
Sobald jemand obdachlos ist, spielt es keine Rolle, ob er Einheimischer oder Migrant ist - er braucht Hilfe. Und die wollen wir leisten, aus unserem christlichen Verständnis heraus.
Sehen Sie Versäumnisse der Europäischen Union, das Thema Freizügigkeit sauber zu regeln?
Ich sehe bei der EU eine große Lücke bei der Versorgung europäischer Migranten. Wer es sich leisten kann, wer Geld und Ausbildung hat, der kann sich frei bewegen und sich überall ein Leben aufbauen. Wer aus der Armut kommt, der rutscht ab, ohne Auffangnetz. Es ist eine Zweiklassengesellschaft entstanden. Es braucht dringend ein neues europäisches Fürsorgeabkommen. Das bestehende wird teilweise durch nationale Gesetzgebung ausgehebelt, auch in Deutschland, wo Sozialhilfe nicht mehr automatisch gewährt wird. Zudem haben Rumänien und Bulgarien nie dazugehört.
Wenn es ein neues Abkommen geben sollte: Fürchten Sie dann nicht die vielbeschworene "Massenzuwanderung" ins deutsche Sozialsystem?
Es geht doch darum: Wer A sagt, muss auch B sagen. Einerseits wollten die EU-Regierungen die osteuropäischen Länder unbedingt in der EU haben, weil diese ein schöner Wirtschaftsmarkt sind. Wenn andererseits auch Ärmere ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen, sagen sie: Aber euch wollen wir nicht. Das geht nicht. Das ist Diskriminierung von Menschen, die arm sind. Man hat diesen EU-Rahmen gewollt, dann muss es auch Gleichberechtigung bei sozialstaatlichen Leistungen geben. Und: Man darf die Kommunen nicht allein lassen, die einen solchen Obdachlosenschutz jetzt als freiwillige Leistung erbringen. Hier sind die europäischen Politiker massiv gefordert.