Kinderparadies dank Ehrenamt im XXL Format

Ich steh auf einer Intensivstation am Krankenbett. Ich bin als Krankenhauspfarrerin im Einsatz und so immer wieder einmal auf Intensiv. Dann bin ich am Bett von Menschen, mit denen ich grad nicht reden kann – sie werden beatmet oder sind aus einem anderen Grund bewusstlos. Die junge Frau aber ist wach, es geht ihr schon besser. Zum Glück: die Krise scheint überwunden. Zur Sicherheit muss sie aber eine Weile hier bleiben, wo ständig ein Gerät piept und schnell einen Krankenpfleger oder eine Ärztin auf den Plan ruft. Ich komme ins Gespräch mit der jungen Frau. Wir reden über ihre Krankheit, über ihr Studium und irgendwann – vermutlich, weil ich eine Kirchenfrau bin – erinnert sie sich an etwas Besonderes: die Zeltlager auf Lindenbichl. Jeden Sommer in ihrer Kindheit ist sie dort gewesen, auf einem Zeltlager der evangelischen Jugend auf einer Halbinsel am oberbairischen Staffelsee. Und wie sie sich erinnert, beginnt ihr blasses Gesicht zu leuchten. Ja sie strahlt, wie wenn es ihr besser gar nicht gehen könnte.  Wir tragen gemeinsam Erinnerungen an das Zeltlager zusammen – ich bin auch schon dort gewesen. Wir schwärmen von der Landschaft, von Sommerabenden unter dem weiten Sternenhimmel, von der Halbinsel, die vom Festland nur auf dem Wasserweg erreicht werden kann und auf der Erwachsene keinen Zutritt haben. Lindenbichl – ein Kinderparadies.

Kinderfreizeit auf Lindenbichl

Die Kinderfreizeiten auf Lindenbichl haben eine lange Tradition. Über 60 Jahren gibt es dort jeden Sommer ein großes Zeltlager. Während einer Sommerfreizeit, wie sie die junge Frau erlebt hat, sind etwa 320 Kinder auf der Insel.  Damit sie dort eine schöne Zeit erleben, braucht es einen enormen organisatorischen Aufwand im Hintergrund. Dafür sorgt eine Jugenddiakonin zusammen mit 26 älteren Jugendlichen, die allesamt unentgeltlich, also ehrenamtlich arbeiten – sie bilden die Mannschaft. Die ist zuständig für Verpflegung und Sanitätsdienst. Für Sauberkeit und das Programm, an dem auch die Jugendleiter der Kinder mitwirken - aus den Kirchengemeinden, die am Ferienlager beteiligt sind. Dass das Gesicht der Intensivpatientin auch noch nach Jahren strahlt beim Gedanken an die Insel – das ist nur möglich durch den Einsatz so vieler engagierter Jugendlicher.

Auch ich hab solche Jugendliche erlebt. Damals hätte ich sie nicht Ehrenamtliche genannt, sondern einfach Jugendleiter. Auch wir sind mit unserer Gemeindejugend jeden Sommer auf Zeltlager gefahren – nicht nach Lindenbichl, sondern an ganz verschiedene Orte in Süddeutschland. Heut ist mir es viel deutlicher als damals in meiner Kindheit: wieviel ehrenamtlicher Einsatz nötig war, damit die Zeltlager gelingen konnten. Zeltpflege, Donnerbalkenbau, Verpflegung, Programmgestaltung.  Heute denk ich vor allem an einen Aspekt der ehrenamtlichen Arbeit, der in mir weitergewirkt hat. Jeden Morgen haben wir uns um die Fahnenstange versammelt. Die Fahne mit dem Kugelkreuz wurde gehisst, dem Symbol der Evangelischen Jugend. Christus -  Herr der Welt, dafür steht das Symbol. Und dann hat ein Jugendleiter, eine Jugendleiterin ein paar Gedanken gesagt, sicher nichts steil frommes, aber irgendetwas, was meinem wackeligen jungen Glauben gutes Futter gegeben hat.  

Es ist dem Einsatz der Jugendleiter zu verdanken, dass Kinder in Berührung kommen mit dem, was unbedingt zu unserem christlichen Glauben dazu gehört: Singen und Spielen - Leben in Gemeinschaft - Toleranz gegenüber anders Denkenden -  Respekt vor dem Leben - Bewunderung für die Natur - Freude an Gott und der Welt. Keiner kann alle diese Bereiche zugleich abdecken. Die Vielzahl der Engagierten macht es möglich, dass jede, jeder sich entsprechend der eigenen Begabung in Organisation und Programmgestaltung einbringt.

Petrusbrief zu "Gottes bunte Gnade"

Das alles ist Kirche, wie ich sie mag. Kirche ist nicht nur das Haus, in dem wir uns sonntags zum Gottesdienst versammeln. Sie ist ebenso das Leben der Kirchengemeinde, ein Geflecht aus verschiedenen Aktivitäten. Und fast überall sind die Aktiven ehrenamtlich wie die Jugendlichen vom Ferienlager. Volonteers nennen die Engländer die Ehrenamtlichen. Volunteers sind Freiwillige, die unentgeltlich mitarbeiten. Mir gefällt das englische Wort – denn in "Ehrenamt" steckt eine Vorstellung, die heute kaum noch Bedeutung hat: ein Amt, das zwar kein Geld, aber dafür viel Ehre einbringt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie unsere Kirche aussähe, wenn es nicht die Volunteers, die Ehrenamtlichen gäbe – mit ihren ganz besonderen Gaben. Im ersten Petrusbrief werden wir erinnert, woher diese Gaben stammen:

Dient einander mit den Fähigkeiten, die Gott euch geschenkt hat – jeder und jede mit der eigenen, besonderen Gabe! Dann seid ihr gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes. Wenn jemand die Gabe der Rede hat, soll Gott durch ihn zu Wort kommen. Wenn jemand die Gabe der helfenden Tat hat, soll er aus der Kraft handeln, die Gott ihm verleiht. Alles, was ihr tut, soll durch Jesus Christus zur Ehre Gottes geschehen. Ihm gehört die Herrlichkeit und die Macht für alle Ewigkeit! Amen. (Gute Nachricht)

Jede, jeder von uns hat eine eigene, besondere Gabe von Gott geschenkt bekommen. In der besonderen Gabe zeigt sich Gottes vielfältige Gnade. Im griechischen Urtext steht für den deutschen Begriff "vielfältig" ein griechisches Wort. Das kann man mit "vielfältig", aber auch mit "mannigfaltig" oder "bunt" übersetzen. Natürlich reden wir bildhaft von Gott, wenn wir seine Gnade "bunt" nennen.

Bei mir holt die Rede von der vielfältigen, der bunten Gnade Gottes ein Bild hervor, das Bild einer Patchworkdecke. Oft setzt sich so eine Decke aus hundert kleinen Quadraten zusammen. Jedes Quadrat ist für sich perfekt gearbeitet, aber erst alle Quadrate zusammengenäht bringen jenes handwerkliche Wunderwerk zustande, das man entweder zum Bestaunen an die Wand hängt oder zum Wärmen um sich legt. 

Unsere Kirchengemeinden sind im besten Fall wie eine Patchworkdecke der bunten Gnadengaben Gottes, ein wunderbar wärmendes Gewebe aus Menschen mit bunten Begabungen. Jeder, jede ist von Gott begabt, nicht damit wir etwas in der Hand haben, um uns selbst zu optimieren oder vor andern gut dazustehen. Nein, die Gaben sind für die andren da, ihnen zu Diensten und Gott zur Ehre. 

Priestertum aller Gläubigen

Luther hat hierfür den Begriff "Priestertum aller Gläubigen" geprägt mit dem kernigem Worten: "Denn was aus der Taufe gekrochen ist, dass kann sich rühmen schon zum Priester, Bischof, Papst geweihet zu sein…."

Weil wir getauft sind, haben wir den Auftrag andern zu dienen und ihnen Gottes Wort nahe zu bringen. Da heißt nicht, dass jeder, der bei Kirchens tätig ist, ständig predigen soll. Der Dienst an Gottes Wort kann dort geschehen, wo wir freundlich und fröhlich an einem Projekt zusammen arbeiten, wie bei einer Kinderfreizeit oder einem Chorauftritt. Luther war es wichtig zu zeigen: Kirchliche Würdenträger sind nicht mehr und nicht weniger begabt durch Gottes bunte Gnade als anderen.

Sicher gibt es in den Kirchengemeinden die Vielen, die unentgeltlich ehrenamtlich mitarbeiten und einige wenige, die von der Kirche für ihren Einsatz bezahlt werden: Kirchenmusikerin, Messner, Diakonin, Hausmeister, Pfarrerin. Luther war schon gewusst: wenn jeder Priester, Priesterin ist, dann wird schnell ein Gerangel entstehen, wer das Sagen hat. Deswegen geht der Satz vom Priestertum aller Gläubigen noch weiter: "was aus der Taufe gekrochen ist, dass kann sich rühmen, schon zum Priester, Bischof, Papst geweihet zu sein, obwohl es nicht einem jeglichem ziemt ein solches Amt auszuüben. Denn wenn wir alle gleichermaßen Priester sind, darf sich niemand selbst hervortun…..  ohne unser Bewilligen und Erwählen, das zu tun, wozu wir alle gleiche Gewalt haben."[1]  

Es werden also in der evangelischen Kirche geeignete Personen in den Dienst berufen und eingesegnet, die dann in der Gemeinde spezielle Aufgaben auf Dauer übernehmen. Soll jemand beruflich in der Kirche eingesetzt werden, setzt das in der Regel eine bestimmte Qualifikation voraus – Kirchenmusikerabschluss, theologische Examina, Diakonenausbildung.

Ob wir nun beruflich oder ehrenamtlich bei der Kirche im Einsatz sind: wir sind alle ausgestattet mit einzigartigen Gaben, die Gottes bunte Gnade in uns wirkt. Ehrenamtliche sind nicht dazu da, jede Lücke zu schließen, die notgedrungenen beim Einsatz der Beruflichen bleibt. Begabt mit Gottes bunter Gnade soll sich jeder, jede den Einsatz aussuchen, der zur eigenen Begabung passt. Und es ist gleich viel wert, ob jemand einen Seniorensingkreis leitet oder Gemeindebriefe austrägt, ob jemand Besuche im Krankenhaus macht oder eine Jugendgruppe leitet.

Petrusbrief - Einander dienen ohne Ehrenamt

Dient einander mit den Fähigkeiten, die Gott euch geschenkt hat – jeder und jede mit der eigenen, besonderen Gabe! Dann seid ihr gute Verwalter der bunten Gnade Gottes.

Nun hab ich so viel vom Ehrenamt in unseren Gemeinden gesprochen, dass der Eindruck entsteht: jeder muss ein Ehrenamt übernehmen. Doch ich bin überzeugt: Unsere Gaben bekommen wir zwar nicht nur für uns selbst, sondern für die anderen. Aber das heißt noch lange nicht, dass jeder ein Ehrenamt schultern muss, noch dazu eines, das einen hohen Zeitaufwand mit sich bringt. Es gibt Lebensabschnitte, da ist ein solcher Einsatz nicht unterzubringen im eigenen Kalender. Vielleicht ist man auch von seinem Seelenkostüm her nicht der Mensch, der sich gern unter Menschen begibt. Vielleicht ist es Krankheit oder Altersschwäche, die jemanden ans Haus binden. Etwas für andere tun ist immer möglich. Für andere Verständnis aufbringen oder für andre beten – das wird mir hoffentlich noch möglich sein, wenn ich einmal hinfällig bin und das Bett hüten muss.

Lust und Frust -  Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe

Dient einander mit den Fähigkeiten, die Gott euch geschenkt hat –  

 diese Aufforderung betriff nicht nur den übersichtlichen Raum unserer Kirchengemeinde. Mich freut es, wenn ich sehe: Etliche aus unserer Kirchengemeinde arbeiten ganz selbstverständlich mit, wo bei uns in der Stadt, in Wolfratshausen, ehrenamtliches Engagement gebraucht wird. Sie engagieren sich zum Beispiel im Asylhelferkreis. Der gibt ihn hier schon seit 2012, er wurde also 3 Jahre vor der großen Flüchtlingswelle von 2015 gegründet. Derzeit umfasst er etwa 115 aktive ehrenamtliche Helfer. Das ist beachtlich, denn vielerorts lösen sich Asylhelferkreise auf, weil kein Bedarf mehr besteht oder auch weil die Helfenden frustriert und erschöpft sind. Da sag ich Gott sei Dank, dass das bei uns am Ort anders ist. Auch wenn hier immer wieder frustrierende Erfahrungen gemacht werden, hat das noch nicht zu großen Verlusten geführt. Mit 115 Aktiven lassen sich viele Angebote für Asylsuchende, für Flüchtlinge und Migranten realisieren in unserer Stadt. Manche Ehrenamtliche arbeiten als Familienpaten und Integrationshelfer, anderer bieten Deutschkurse oder Hausaufgabenhilfe an. In einer Radlwerkstatt und einem Reparaturcafé machen die Ehrenamtlichen den Flüchtlingen das Angebot, ihr eigenes Können einzubringen und so ins Gespräch mit Einheimischen zu kommen. Es gibt Fortbildungen für Ehrenamtliche – ja, hier wird ehrenamtliche Arbeit wertgeschätzt und gefördert.  Für mich ist das ein Zeichen: der Christusgeist ist auch außerhalb unserer Kirchenmauer aktiv. Ich entdecke ihn dort, wo Menschen sich in den Dienst anderer stellen, wo Menschen großzügig helfen, ohne auf den eigenen Vorteil zu achten. Selbstlos.

Die Angebote unseres Asylhelferkreises sind beachtlich, doch ich will nicht verschweigen, dass es nicht nur eine Lust ist dort mitzuarbeiten, sondern oft auch eine Last. Vor kurzem haben mir ein paar Aktive etwas erzählt von ihren Enttäuschungen und Erfolgen. Alle machen die Erfahrung: Die Flüchtlinge sind nur selten die Quelle für Frustration. Was uns zur Verzweiflung bringt, sagt eine, sind die Behörden. Es ist nicht begreifen, warum das eine Landratsamt einem Jugendlichen eine Ausbildung verwehrt, aber im angrenzenden Landkreis die dortige Behörde sie sofort bewilligt. Und dabei ist Arbeit der Schlüssel zur Integration. Die Leute sind stolz zu arbeiten. Sie haben einen geregelten Tagesablauf, lernen schnell Deutsch!

Ein anderer schüttelt den Kopf. Er versteht das nicht: Da wird jemanden von einem Tag auf den anderen die Arbeitsbewilligung entzogen. Und dabei wird er seinem Betrieb dringend gebraucht!  Und warum?  Das weiß keiner! Manchmal liegt es den fehlenden Ausweispapieren, erklärt ein Helfer, laut Asylgesetz besteht Identifikationspflicht. Natürlich muss jeder Staat wissen, wer ins Land kommt. Viele Geflüchtete aber haben keine Papiere – nicht alle haben ihre Pässe einfach weggeschmissen. In Afghanistan oder Somalia werden Ausweispapiere eben nicht gebraucht.

Die Menschen sind nun hier. Wir müssen sie menschenwürdig behandelt, egal ob sie ein Bleiberecht haben oder nicht – diese Überzeugung treibt die Leute aus dem Helferkreis an. Bei allen Frustrationen überwiegen die positiven Erfahrungen. Da sind sie sich einige: unser Engagement ist eine Bereicherung.

Etwas Sinnvolles tun, dann und wann – Ehrenamt bei Gelegenheit

So wichtig die Arbeit der Asylhelferkreise ist, es ist ein Einsatz, der von den   Ehrenamtlichen viel Zeit und Seelenkraft fordert. Das ist aber nicht unbedingt typisch für die Ehrenämter, die es in vielen Bereichen unserer Gesellschaft gibt. Die Medien sprechen vom Trend, dass auch junge, berufstätige Menschen sich ein Ehrenamt wünschen, das hineinpasst in einen vollgedrängten Wochenablauf. Etwas für andere tun – auch hier spürt jemand, dass man über Gaben verfügt, und das nicht nur für sich selbst. Auch hier lockt die leise Stimme Gottes dazu die Gabe der bunten Gnade zu nutzen. Das geht auch ohne regelmäßige Verpflichtung, das gelingt auch im sporadisches Helfen. Im Einsatz mit geringem Zeitaufwand. Das kann bedeuten: man steht einmal im Monat in der Morgendämmerung an einem Zebrastreifen und hilft den kleinen Schulkinder, sicher über die Straße zu kommen. Das kann bedeuten, hin und wieder den Hund der Nachbarin spazieren zu führen. Aber auch die nehmen eine ehrenamtliche Tätigkeit wahr, die Gutes tun mit ihrem Geld – sie kaufen beim Besuch in der Badeanstalt ein Ticket mehr. Ein Ticket für ein Vollbad oder eine warme Dusche, das dann an mittellose Menschen und Wohnungslose weitergegeben werden kann.

Mancher hat durch eine Ehrenamtsagentur genau das Ehrenamt gefunden, dass zur eigenen Begabung passt. Nennen wir sie Anna – sie hat es übernommen in regelmäßigen Abständen eine Infosäule zu bestücken im Eingangsbereich eines Münchener Seniorenheims. Dazu steuert sie selbstgemachte Fotos, selbst Gemaltes und Gebasteltes bei. Zwischen ihren Kunstobjekten hängt sie Blätter mit Veranstaltungshinweisen und poetischen Gedanken. Gern kommt auch noch ein Blatt mit einem Rätsel hinzu. Ja, das soll die Leute beschäftigen, das soll ihnen Spaß machen.  

Auch hier zeigt sich mir Gottes bunte Gnade. Ich entdecke sie überall da, wo Menschen mit Freude anderen Freude machen. Kirchlich-altmodisch nennen wir das den Dienst am Nächsten. Aber grad darin wird der Geist unseres Heilands Jesus Christus lebendig.

 

[1] zitiert nach S. Obenauer, Gottes bunte Gnade Berlin 2009 S. 48  LIT Verlag Münster.

Evangelische Morgenfeier vom 26.01.2020 mit Pfarrerin Elke Eilert, Wolfratshausen. Thema: Gottes bunte Gnade  (1. Petrus, 4,10)