Bernd Deininger ist in seinen Fachgebieten - der Psychoanalyse und der Psychosomatik - eine Größe in Deutschland. Aber er ist auch ein leidenschaftlicher Theologe, der regelmäßig Gottesdienste hält. In Büchern wie "Wie die Kirche ihre Macht missbraucht" bringt er beide Fachrichtungen zusammen. Er schreibt aber auch Bücher mit dem Münsterschwarzacher Mönch Anselm Grün.

Er hat am Krankenhaus Martha-Maria in Nürnberg die Psychosomatische Medizin aufgebaut. Ende 2022 hat der 76-Jährige die Klinik verlassen, ist aber weiter als Arzt tätig. Regelmäßig hat er mit Mitarbeitern der Kirche und mit Missbrauchsopfern zu tun.

"Das System Kirche versagt in einem ganz hohen Maße."

Es ist derzeit viel von Missbrauchsgutachten und der Aufarbeitung der Skandale in den Kirchen die Rede. Sie haben mit Betroffenen, Opfern und auch Tätern zu tun und kennen sie aus Ihrer Arbeit, vor allem als Supervisor in der katholischen Kirche. Würden Sie sagen, wir haben es mit Defekten von Menschen zu tun oder versagt das System Kirche?

Bernd Deininger: Beides. Das System Kirche versagt in einem ganz hohen Maße, weil es in der Kirche viel stärker als in anderen Institutionen der Fall ist, dass Menschen ihr eigenes System zu schützen suchen. Das ist aber auch in Schulen oder in Gerichten so.

In der Kirche ist es natürlich besonders krass, weil da der Anspruch an Moral, Ordnung und Menschenfreundlichkeit sehr viel größer ist als bei anderen Institutionen. Bei den Vertretern der Kirche, die an vorderster Front stehen, den Bischöfen oder dem Vatikan, ging es immer darum, können wir den Schaden von der Institution fernhalten? Wir dürfen doch da keine Dreckflecken dran haben.

Das andere ist, dass es in jeder gesellschaftlichen Gruppierung kranke Menschen gibt. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung sind Alkoholiker und Sie werden sie unter den Lehrern und Pfarrern, Richtern oder Hilfsarbeitern finden. Und so ist es mit der Pädophilie, so ist es mit Sadismus und mit vielen anderen Dingen. Da ist die Kirche eine Institution, wie jede andere auch.

"Bei einer Studie, in der Priesteramtskandidaten nach ihrer geschlechtlichen Identität gefragt wurden, kam heraus, dass 85 Prozent aller Priesterkandidaten homosexuell sind."

Aber ein Angestellter hat nicht so viel Verantwortung für Menschen.

So ist es. Zweiter Punkt ist, dass Institutionen, in denen man gut untertauchen kann mit seinen neurotischen Strukturen, natürlich auch neurotische Menschen sehr viel mehr anziehen.

Ich nehme mal das Beispiel der Homosexualität, die aber keine Neurose ist. Dass sich homosexuelle Menschen, die Angst davor haben, sich zu outen, weil sie das selber innerlich als verwerflich empfinden, sich in eine Institution hineinbegeben, in der es nur Männer gibt, ist doch verständlich. Bei einer Studie, in der Priesteramtskandidaten nach ihrer geschlechtlichen Identität gefragt wurden, kam heraus, dass 85 Prozent aller Priesterkandidaten homosexuell sind.

Bleiben wir bei der Pädophilie. Es handelt sich da um eine triebhafte Erkrankung, und nach dem Trieb sehnt sich der Mensch. Da ist einfach eine triebhafte, zwanghafte Sehnsucht, zum Beispiel nach sexuellem Kontakt mit Kindern. Wenn einer dann in eine Institution geht, in der er qua Amt viel mit Kindern zu tun hat, dann sucht dieser Mensch solche Orte auf, in denen er eigentlich das leben kann, wonach er sich sehnt.

Und wenn er dann noch den Deckmantel des Moralischen, des ethischen Einwandfreien hat, ist dieses Unvorstellbare, dass gerade in der Kirche und bei Theologen so etwas passiert, natürlich noch sehr viel größer. Menschen, die eine krankhafte Störung haben, sammeln sich in Berufsgruppen, in denen sie das im geschützten Rahmen leben können. Die Institution Kirche hat da sehr viel Raum geboten.

Meinen Sie, der entstandene Schaden für die Kirche könnte wieder repariert werden? Und wenn ja, wie?

Es ist unstrittig richtig, dass Gutachten herauskommen und Juristen die Fälle und die Vertuschungen registrieren. Aber es ändert natürlich an dem ganzen Geschehen nichts. Man muss fragen, was ist die Ursache? Und die Ursache ist der Mensch, der einen Beruf ergreifen will, der mit Menschen, mit Kindern zu tun hat. Darum sage ich seit Jahren: Man kann einen solchen Beruf nur ergreifen, wenn man eine Selbsterfahrung hat.

Die eigene Auseinandersetzung mit den inneren psychischen Strukturen ist zwingend erforderlich. In der psychoanalytischen Ausbildung müssen sie zumindest 500 Einzelstunden selber auf der Couch gelegen haben. Jeder Lehrer, der Sadist ist, kann Lehrer werden, wenn er sein Abitur, sein Studium und sein Referendariat gemacht hat. Kein Mensch fragt nach der psychischen Reife. Das ist beim Pfarrer so oder auch beim Arztberuf.

Auch bei Richtern und Staatsanwälten fragt niemand nach der Psyche. Sie können Vorstandsvorsitzender eines Konzerns werden und der größte Betrüger sein - Hauptsache, Sie machen Gewinne. Aber welche ethischen und moralischen Vorstellungen der Mensch hat, interessiert niemanden.

Aber pädophil oder wirtschaftskriminell wird man ja nicht mit der Berufswahl, das ist eine Eigenschaft, die der Mensch schon länger hat. Kann da in der Kindererziehung und Bildung etwas verhindert werden?

Sie bringen vieles nicht aus der Welt, gerade narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Man sieht das exemplarisch und fast lehrbuchhaft - man muss ja froh sein, dass es ihn gibt - bei Donald Trump. Wie kann das sein, dass in einem relativ zivilisierten Land die Hälfte der Leute so eine schwierige Gestalt wählt? Das zeigt schon auch, wie sich Gesellschaften entwickeln.

Die narzisstischen Persönlichkeitsanteile, die haben sich aus meiner Sicht in den letzten, 20, 30 Jahren verstärkt: Die Schwankung zwischen Selbstwertmangel, ich bin gar nichts wert und ich kann nichts, und der Selbstüberschätzung und der Selbstüberhöhung wird größer. Aus meiner Sicht hängt das, zumindest wenn man es jetzt psychoanalytisch sehen will, mit den frühen Bindungen zusammen.

Viele Kinder leben in den ersten zwei Lebensjahren, wo sich der das Selbst entwickelt, in instabilen Beziehungen zu Eltern. Sie sind sich oft selber überlassen. Sie werden aus materiellen Gründen oft früh schon in Kinderkrippen abgeschoben, wo sie dann ständig wechselnde Bezugspersonen haben. Die Kinder bekommen häufig das Gefühl, sie stören die Eltern nur.

"Vieles wird unter dem Tisch gehalten, denn es werden nicht nur in der Kirche die Missbrauchsfälle verdrängt."

Sie sagen, dass eine psychische Krankheit in Deutschland immer noch nicht als "normale Krankheit" gilt. Warum kann man über die eigene Depression nicht genauso sprechen wie über Zahnschmerzen?

Über Generationen wurden neurotische oder psychosomatische Erkrankungen in das Organische abgeschoben. Man hat immer gesagt, das sind Stoffwechselstörungen, und das muss man mit Medikamenten behandeln. Psychische Erkrankungen entstehen durch Defizite in der Selbstentwicklung, aber auch in der Autonomie-Entwicklung und betreffen in der Gesellschaft viele Menschen. Darüber zu reden, ist aber schambesetzt. Denn man müsste sich ja kritisch mit seinen Eltern auseinandersetzen, mit denen man keinen Konflikt möchte. Aus diesen Ängsten vor Konflikten ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte sehr schwierig.

Vieles wird unter dem Tisch gehalten, denn es werden nicht nur in der Kirche die Missbrauchsfälle verdrängt, sondern in unglaublich viel höherem Maße in Familien. Sexueller Missbrauch von einem Bruder an der jüngeren Schwester oder gar vom Vater gegenüber den Töchtern.

Erst vor zwei Wochen habe ich eine Frau als Patientin gehabt, die zwischen dem 11. und 14. Lebensjahr vom Onkel sexuell missbraucht wurde. Sie habe sich so geschämt, dass das in ihrer Familie passiert. Dieses Schamgefühl, man könnte psychisch krank sein, ist immens groß. Und davon ist es ein kleiner Schritt, zu sagen: Ich bin doch nicht verrückt. Aber schwere schizophrene Psychosen sind nur ein Prozent aller psychischen Krankheiten. Das wird aber immer in einen Topf hineingeworfen.

Anders als beim Zahnschmerz lassen sich natürlich die psychischen Krankheiten nicht einfach durch einen Arztbesuch klären, sondern lange Prozesse sind die Regel. Wenn jemand eine Depression hat, die entwicklungsbedingt ist, dauert es ein Jahr oder zwei mit 50 bis 100 Stunden, bis es dem Menschen besser geht. Der Organmediziner schreibt schnell ein Rezept aus. Da wird nach den Ursachen überhaupt nicht gefragt.

"Zu sagen, dass die Religion einen sozusagen therapeutischen Charakter in dem Sinne hat, wenn ich eine Zwangsstörung habe, gehe ich in die Gemeinde, dann geht es mir besser: Das ist absurd."

Ich frage mal den Theologen, der Sie ja auch sind. Können Menschen, die einen festen Glauben haben, leichter von psychischen Krankheiten geheilt werden oder leichter Traumata überwinden? Kann man Spiritualität als zusätzliche Therapie verstehen?

Ich sage, der Glaube hat eine stützende Wirkung und gibt viel Lebensorientierung für mein moralisches und ethisches Verhalten und gibt mir auch sehr viel für den Umgang mit anderen Menschen. Aber er ist nicht in der Lage, Krankheiten zu heilen, und da sind die psychischen Krankheiten genauso zu sehen wie die körperlichen.

Wenn ich mir beim Skifahren den Fuß breche, dann nutzt mir das nicht, wenn ich in die Kirche gehe und fünf Vaterunser bete, sondern dann muss ich zum Chirurgen, der mir den Fuß einrenkt. Bei psychischen Erkrankungen ist es das Gleiche.

Zu sagen, dass die Religion einen sozusagen therapeutischen Charakter in dem Sinne hat, wenn ich eine Zwangsstörung habe, gehe ich in die Gemeinde, dann geht es mir besser: Das ist absurd. Aus meiner Sicht gehört zu einem reifen, erwachsenen Glauben auch ein reifer, erwachsener Mensch, der im Kant'schen Sinne vernunftorientiert mit Religion umgeht.

Da gehört dazu, dass man zum Beispiel die biblischen Schriften nicht historisiert und sagt, Jesus hat mit fünf Fischen und zwei Laib Brot 5.000 Menschen satt gemacht. Das ist empirischer Unsinn. Aber die Religion hat dort einen Sinn, wo ich mir das vor Augen halte und frage: Was soll denn dieser Satz aussagen? Über all das und die eigene Endlichkeit nachzudenken, ist so groß, dass man ohne einen Gottglauben gar nicht weiterkommt.

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