»Jesus Christus ..., das eine Wort Gottes« 
BARMEN 1

Die Deutschen Christen formulierten 1934, im Führer sei Christus als Erlöser im deutschen Volk mächtig geworden. Adolf Hitler wurde zur göttlichen Offenbarung. Als neues Gesetz und neues Evangelium trat er an die Stelle Jesu Christi.

Die Bekennende Kirche protestierte dagegen. Kein historisches Ereignis, keine Macht der Welt, keine Gestalt des Lebens kann zu Recht unbedingte Autorität beanspruchen. Nichts, was auf Erden mächtig ist, ist göttlich – und sei es noch so unwiderstehlich. Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident, brachte das als Präses der Synode der EKD auf den Punkt, als er den ersten Deutschen Evangelischen Kirchentag 1950 mit den Worten beendete: »Lasst uns der Welt antworten, wenn sie uns furchtsam machen will: Eure Herren gehen – unser Herr aber kommt!«

Fragen, die Barmen 1 an uns heute stellt:

  • Woran hängen wir unser Herz?
  • Was geht uns unbedingt an?
  • Worauf setzen wir letztlich unsere Hoffnung?
  • Wer ist Christus heute für uns?
    • Wie können wir als Christen in einer Welt, in der Religion im Namen der Wahrheit Gewalt sät, in guter Weise davon reden, dass Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist?

»frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt ...« 
BARMEN 2

Gemäß Kirchengesetz vom 9. August 1934 mussten die Geistlichen einen Eid auf Hitler leisten. Ein Diener des Evangeliums hatte »dem Führer des deutschen Volkes und Staates treu und gehorsam« zu sein und jedes Opfer zu bringen.

Die Bekennende Kirche protestierte dagegen. Wir gehören allein Christus, der uns zur Freiheit befreit hat. Karl Barth nannte jene Mächte und Gewalten, die nur sich selbst dienen, herrenlose Gewalten. Der Nationalsozialismus war die politische Gestalt einer solchen herrenlosen Gewalt. Die Heimtücke dieser Gewalten liegt darin, dass wir sie unterschätzen. Sie nehmen uns das Leben unter dem Vorwand, es uns zu geben. Wir wähnen uns frei
und selbstbestimmt und haben uns ihnen doch längst unterworfen und geopfert.

Fragen, die Barmen 2 an uns heute stellt:

  • Wer sind die herrenlosen Gewalten unserer Zeit?
  • Welche Opfer bringen wir ihnen?
  • Wie sähe unser Leben aus, wenn wir Ernst damit machen würden, dass wir aus den gottlosen Bindungen dieser Welt befreit sind?

»mit ihrer Ordnung ... zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist« 
BARMEN 3

Als die evangelischen Landeskirchen nach 1918 durch die Weimarer Verfassung die Freiheit erhielten, sich eine organisatorische Gestalt zu geben, waren sie darauf nicht vorbereitet. Dass sie sich wie jahrhundertelang gewohnt an die starke Schulter des Staates lehnten und an dessen Struktur orientierten, stellte sich als verhängnisvoll heraus. Denn viele Landeskirchen machten aus Überzeugung oder Arglosigkeit gemeinsame Sache mit der kirchlichen Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten.

Die Bekennende Kirche protestierte dagegen. Sie diagnostizierte in Barmen schonungslos, dass die Gestalt und Verkündigung der deutschen Kirche nicht ihrem Wesen entsprach. Auch in der Verfassung und in der äußeren Ordnung der Kirche muss sichtbar werden, dass sie die Gemeinde Jesu Christi ist, die sich allein der Gnade Gottes verdankt und nicht auf den Ordnungen des Volkstums und der Rasse oder auf anderen Weltanschauungen gründet.

Fragen, die Barmen 3 an uns heute stellt:

  • Orientieren wir uns als Kirche zu sehr an staatlichen Strukturen?
  • Sind wir zu ängstlich um den Fortbestand der institutionellen Kirche besorgt?
  • Spiegelt unsere Volkskirche wirklich den Geist Christi wider?
  • Wie könnte die Kirche der Zukunft aussehen, die mitten in der Welt bezeugt, dass sie geistlicher Natur und Eigentum Jesu ist?

»keine Herrschaft der einen über die anderen ...« 
BARMEN 4

In den Richtlinien der Deutschen Christen hieß es 1933, die deutschen Kirchen müssten eine Gestalt erhalten, die sie fähig macht, »dem deutschen Volke den Dienst zu tun, der ihnen durch das Evangelium von Jesus gerade für ihr Volk aufgetragen ist«. Diese Gestalt konnte nur eine autoritäre sein, die dem Führerstaat gleichgeschaltet war, was auch das Amt des Reichsbischofs an der Spitze der Kirche versinnbildlichte.

Die Bekennende Kirche protestierte dagegen. Sie sagte Nein zum Führerprinzip und zur Hierarchisierung der Ämter und Dienste in der evangelischen Kirche. Macht Gottes und kirchliche Macht sind anders zu verstehen, als Macht üblicherweise verstanden wird: nicht als Herrschaft, sondern als Passion und als Sein für andere. Weil der menschgewordene Gott gerade als Gekreuzigter ein mächtiges Gegenbild zu den Mächten der Welt ist und weltliche Machtbilder in ihren Grundfesten erschüttert, darf sich die Kirche nicht dem Schema der Welt angleichen. An der kirchlichen Dienstgemeinschaft und dem gegliederten Amt gilt es daher unbedingt festzuhalten, auch wenn sie immer wieder zur Verschleierung von Macht instrumentalisiert werden.

Fragen, die Barmen 4 an uns heute stellt:

  • Sind die Ordnungen unserer Kirche mit dem Evangelium vereinbar?
  • Welche Form von Macht in der Kirche ist menschendienlich?
  • Welche Machtgefüge blockieren kirchliche Arbeit?
  • Wo und wie gewinnt die Passion Jesu in der Kirche Gestalt?

»in der noch nicht erlösten Welt ... für Recht und Frieden ... sorgen« 
BARMEN 5

Für die Deutschen Christen war der nationalsozialistische Staat die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens. In den Richtlinien der Deutschen Christen von 1933 hieß es: »Der Staat ist das Werkzeug Gottes zur Erhaltung des deutschen Volkes nach außen, die Kirche das Werkzeug Gottes zur Erhaltung des deutschen Volkes nach innen.« Die Kirche des deutschen Volkes hatte dem Totalitätsanspruch des NS-Staates zu dienen.

Die Bekennende Kirche protestierte dagegen. Im Geist Martin Luthers wies sie den Staat in seine Schranken und in seine besondere Verantwortung, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens für Recht und Frieden zu sorgen und Gewalt nur als rechts- und friedenserhaltende Gewalt einzusetzen. Barmen 5 stellt der totalen Herrschaft der Nationalsozialisten über Leib, Seele und Kirche die Zwei-Regimente-Lehre Luthers entgegen. Barmen 5 redet aber keineswegs der Beziehungslosigkeit von Staat und Kirche das Wort. Denn die Bekennende Kirche verstand sich in Barmen ja gerade als kritisches Korrektiv der Regierenden, die sie an ihre Grenzen, an Gottes Gebot und an Gottes Reich erinnerte.

Fragen, die Barmen 5 an uns heute stellt:

  • Was droht in unserer Gegenwart zur totalen Ordnung menschlichen Lebens zu werden?
  • Was tritt mit dem Anspruch auf, uns völlig zu bestimmen und unser Bewusstsein zu verändern?
  • Wie positionieren wir uns als Christen zu rechtserhaltender militärischer Gewalt?
  • Woran müssen wir die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft und uns selbst als Staatsbürger und Mitglieder der Zivilgesellschaft heute     erinnern?

»die Botschaft von der freien Gnade Gottes ... auszurichten an alles Volk«
 BARMEN 6

Die Botschaft, welche die Deutschen Christen dem deutschen Volk auszurichten hatte, lautete: »Werdet deutsch! Nicht: werdet Christen!« Kirchenrat Julius Leutheuser verkündete am 30. August 1933, es gelte, aus dem Egoismus heimzukehren zu Deutschland und sich dem Heiland Adolf Hitler zu unterstellen, der wie Gott den ganzen Menschen fordere.

Die Bekennende Kirche protestierte dagegen. Barmen 6 schärft ein, dass die Gnade Gottes allem, nicht nur dem deutschen Volk, gilt. Gottes Wort ist frei und führt in die Freiheit. Niemand kann uns im Namen Gottes als Geisel nehmen. Der Macht als Macht steht der Mensch als Mensch frei gegenüber. Das Evangelium Jesu befreit den Menschen aus selbst- und fremdverschuldeter Unmündigkeit und Abhängigkeit.

Fragen, die Barmen 6 an uns heute stellt:

  • Wo werden Menschen im Namen der Religion oder im Namen wirtschaftlicher, politischer und anderer Interessen abhängig gemacht und    diskriminiert?
  • Welche Zwecke und Pläne legitimieren wir selbst durch religiöse Begründungen?
  • Was können wir als Kirche tun, damit Menschen spüren, dass die freie Gnade Gottes in der Welt am Werk ist?

Wer weiß: Vielleicht finden wir, wenn wir über den Weckruf der Barmer Theologischen Erklärung nachdenken, auch eine Antwort auf die Frage, warum immer mehr Menschen aus der evangelischen Kirche austreten. Womöglich kehren sie ihr den Rücken, weil sie in der Kirche etwas vermissen: eine Spiritualität, die ihrem Leben Tiefe und Sinn gibt.
Wenn wir Christen selbst aber geistlich leer und nicht mehr in das Evangelium verliebt sind, können wir zur Erfüllung anderer nichts mehr beitragen.
Wenn wir aus unserem Glauben keine prophetische Kraft mehr schöpfen, verlieren wir die Widerstandsfähigkeit gegen die wirklich bedrohlichen Keime unserer Zeit.

Die Liebe zum Eigenen zeigt sich aber auch in der Selbstkritik. Denn gefährlich sind vor allem jene, die keine Fragen mehr stellen. Hören wir also nicht auf, uns selbst, unsere Kirche und unsere Gesellschaft im Geist Barmens zu hinterfragen und daran zu erinnern, was uns trägt, wofür wir stehen und was wir der Welt zu sagen und zu geben haben. Denn übermorgen könnte an unsere Zeit die Frage gerichtet werden: warum hat die Kirche damals nicht deutlicher Position bezogen?