Die Barmer Theologische Erklärung ist das vielleicht wichtigste Dokument der evangelischen Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. In der Zeit des Dritten Reiches hat sie ein Zeichen gesetzt gegen den Versuch der Nationalsozialisten, ihre menschenfeindliche Ideologie in die Glaubensgrundlagen der Kirche einzutragen. Dass die deutsche Bekenntnissynode von Barmen am 31. Mai 1934 mit ihrer Theologischen Erklärung diesem Versuch eine klare Absage erteilt hat, hat weit über die Zeit und weit über den Ort hinausgewirkt.
In den Kämpfen der Bekennenden Kirche gegen die nationalsozialistische Ideologie wurde die Erklärung während der gesamten Zeit des Naziregimes zur entscheidenden theologischen Grundlage. In der Zeit nach 1945 blieb sie in Deutschland bei aller unterschiedlichen Gewichtung ein zentraler theologischer Bezugspunkt jenseits der Grenzen der unterschiedlichen evangelischen Traditionslinien. Weltweit wurde sie zu einem theologischen Grundsatzdokument, an dem sich gerade Kirchen orientieren konnten, die gegenüber Pervertierungen der biblischen Grundlagen nach klarer theologischer Orientierung suchten. Für den Kampf der südafrikanischen Kirchen gegen das Apartheidregime und die von ihm propagierte Ideologie der Rassentrennung etwa wurde die Barmer Theologische Erklärung zu einer wichtigen Inspirationsquelle.
Theologische Ortsbestimmung der Kirche
Zu Recht kann man aus heutiger Sicht einwenden, dass es für nicht wenige Teilnehmer der Synode vor allem um die Verteidigung der Kirche gegenüber staatlichen Übergriffen ging, anstatt auch den politischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus miteinzubeziehen. Erst recht wird man als Defizit feststellen müssen, dass ein Eintreten für die Juden und eine klare Absage an den Antisemitismus fehlte. Aber die sechs Thesen enthielten eine solch klare theologische Ortsbestimmung der Kirche, dass sie in sich schon das Potenzial für ein entsprechendes Weiterdenken enthielten und bis heute als prägnante Zusammenfassung der geistlichen Substanz gesehen werden können, aus der die Kirche lebt.
Das ist der Grund dafür, dass wir als Kirchenleitung jetzt darüber nachdenken, ob nicht ein Bezug auf Barmen Eingang in den Grundartikel unserer Kirchenverfassung finden könnte. Schon jetzt finden wir die Erklärung, wenn wir in unser Gesangbuch schauen, als »Theologisches Zeugnis aus dem 20. Jahrhundert« in unmittelbarer Nachbarschaft der Bekenntnisse unserer Kirche. Faktisch ist die Barmer Erklärung also längst als bekenntnisähnlicher Text in das kollektive Gedächtnis unserer Kirche eingegangen.
Ich selbst habe von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass ich die Barmer Theologische Erklärung für einen seltenen Glücksfall halte. Sie ist so formuliert, dass sie nie nur der Vergangenheit angehören kann, sondern inspirierend und kritisch in jede Gegenwart und Zukunft hineinspricht. Gerade im unmittelbaren Kontext des Reformationsjubiläums kann uns die Erinnerung an Barmen wieder neu vor Augen führen, dass unsere Kirche aus ihrer geistlichen Kraft lebt und dass sie kein anderes Fundament hat als den lebendigen Christus. Durch die Konzentration auf ihn gewinnt sie Profil.
Die Barmer Erklärung stellt uns vor Fragen, die Gott täglich an uns stellt: Wer sind die Herren deines Lebens? Auf welche Mächte und Gewalten vertraust du letztlich? Woran hängst du dein Herz? Wer ist eigentlich dein Gott? Und diese Fragen können wir uns um der geistlichen Erneuerung und der spirituellen Konzentration unserer Kirche willen eigentlich nicht oft genug stellen.
Thesen entfalten Impulse bis heute
Die Bekenntnissynode von Barmen gab 1934 eine eindeutige Antwort, die für mich alle theologischen Debatten und alle kirchenpolitischen Differenzen zwischen Reformierten und Lutheranern, zu denen es im Gefolge von Barmen kam, souverän überstrahlt und die von zeitlos christlicher Gültigkeit ist: »Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören und dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.«
Aber nicht nur die erste These, in der diese Worte stehen, so sehr sie den Ton für alle anderen vorgibt, enthält zeitlos gültige theologische Orientierungen. In jeder einzelnen der dann folgenden Thesen steckt ein Impuls, der seine spezifische Bedeutung bis heute entfaltet.
»Wir verwerfen die falsche Lehre«, so heißt es in der zweiten These, »als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.« Damit ist klar gesagt: Der christliche Glaube darf nicht in den Bereich des Privaten verbannt werden. Er ist auch etwas Öffentliches. Wenn wir als Christen zur Arbeit gehen, in den Betrieb oder ins Büro, dann geben wir unseren Glauben nicht an der Garderobe ab, sondern versuchen uns auch im Berufsleben an ihm zu orientieren. Und auch die Politik ist kein Bereich, in dem eine Eigengesetzlichkeit herrschen darf. Es ist zwar nicht immer einfach, zu erkennen, was der Glaube für politische Grundorientierungen bedeutet, aber es ist wichtig, sich diese Frage immer wieder zu stellen. Deswegen freue ich mich, wenn Politiker sich auch bewusst als Christen verstehen und ihr Handeln immer wieder auch im Lichte ihres Glaubens prüfen.
Wie Schwestern und Brüder miteinander umgehen
»Die christliche Kirche« – so heißt es in der dritten These – »ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt.« Wir reden heute von »Brüdern und Schwestern«. Aber der Grundgedanke dieser These ist hochaktuell. Wir sind als Kirche eben nicht irgendeine Gemeinschaft, sondern wir sind miteinander verbunden durch den gemeinsamen Herrn Jesus Christus. Das bedeutet, dass wir auch anders miteinander umgehen. Eben als Schwestern und Brüder. Ich weiß, dass wir hinter diesem Anspruch immer wieder zurückbleiben. Auch in der Kirche menschelt es. Aber wir wollen uns an diesem Maßstab messen lassen. Umso glücklicher bin ich jedes Mal, wenn ich bei meinen Besuchen in den Gemeinden merke, dass von dieser geschwisterlichen Gemeinschaft tatsächlich etwas zu spüren ist, dass wir als Kirche tatsächlich ausstrahlen, wovon wir sprechen.
Die vierte These bringt zum Ausdruck, was das für unser Zusammenwirken in der Kirche bedeutet: »Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.« Wie wichtig diese theologisch begründete Standortbestimmung für das Zusammenleben der verschiedenen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gemeindealltag ist, liegt auf der Hand. Es lohnt sich, dem nachzuspüren!
Um das Verhältnis von Kirche und Staat geht es bei der fünften These. »Der Staat« – so heißt es da – hat »nach göttlicher Anordnung die Aufgabe …, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.« Was heißt das für die Aufgabe des Staates heute und für die öffentlichen Stellungnahmen der Kirche zu politischen Fragen? Immer wieder stellen wir uns diese Frage. Deswegen lohnt es sich, den Text der fünften Barmer These genau zu lesen und sich damit auseinanderzusetzen.
Und schließlich die sechste und letzte These: »Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt… die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.« Unsere eigene Begeisterung für die wunderbare Botschaft des Evangeliums nicht zu verbergen, sondern sie zu zeigen und sie auszustrahlen – das ist ganz bestimmt eine Schlüsselaufgabe der Kirche heute. Ganz besonders denken wir darüber nach, wie die Kirche das auch im Zeitalter der digitalen Medien tun kann, nicht zuletzt damit wir auch die jungen Menschen neu für die Kirche interessieren und – wenn es gut läuft – begeistern können.
Von Barmer Erklärung inspirieren lassen
Dieser kurze Durchgang durch die Barmer Thesen zeigt, wie viel Potenzial in der Barmer Theologischen Erklärung für uns heute steckt. Für mich ist das wichtigste Ziel unserer Beschäftigung mit Barmen, dass wir uns als Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern von der Barmer Theologischen Erklärung inspirieren lassen.
Vielleicht kann uns das auch helfen, dem Verlust an Bindung zu begegnen, der sich in den Kirchenaustritten im Jahr 2015 gezeigt hat. Das neue Verfahren des Einzugs der Kirchenkapitalertragssteuer und die dabei aufgetretenen Missverständnisse sind ja nur der Anlass für etwas Tiefergehendes Vielleicht treten Menschen ja auch deshalb aus der Kirche aus, weil sie etwas vermissen: nämlich die geistlich-spirituelle Energie, die ihrem Leben Tiefe und Orientierung gibt. Ich bin davon überzeugt, dass uns die Barmer Theologische Erklärung dabei helfen kann, diese geistlich-spirituelle Energie wiederzuentdecken. Deswegen freue ich mich schon jetzt auf den Diskussionsprozess dazu in unserer Kirche und bin gespannt auf die Impulse, die er uns geben wird.