Das Singen hat er in den Genen: Seit 98 Jahren ist die Familie von Hartmut Küfner eng verbunden mit dem Chor der evangelischen Himmelfahrtskirche Sendling, der am Pfingstsonntag seinen 100. Geburtstag feiert. "Meine Eltern, Paten, Tanten, Onkel, Schwestern, alle waren im Chor", berichtet der 76-Jährige.

Küfners Vater war als 19-Jähriger dem Chor beigetreten, die schöne Stimme hatte er wohl von der Mutter geerbt. "Als Tenorsänger fand ich hier nicht nur Freude an der Kirchenmusik, sondern auch gute Freunde", schrieb er im hohen Alter in seine Lebenserinnerungen. Auch Sohn Hartmut ist, fast 100 Jahre später, gern dabei: "Ich habe Spaß am Singen und lerne gern was Neues", sagt er.

Blinder Kirchenmusiker als Gründungskantor

Mit seinen 100 Jahren gehört der Chor der Himmelfahrtskirche zu den ältesten evangelischen Chören in München. Bei seiner Gründung 1918 griff die Gemeinde, damals noch Filialstelle der Bischofskirche St. Matthäus, zu einem Trick: Weil der blinde Kirchenmusiker Richard Effert nicht als Organist angestellt werden konnte, bekam er für zwei Jahre die Mesnerstelle.

Chorausflug 1922.
Musik und Geselligkeit: Eine Aufnahme vom Chorausflug 1922.
Chorausflug 1956.
Der Chor als Familienunternehmen: Die Kinder der Sängerinnen und Sänger waren immer dabei, hier beim Chorausflug 1956.
Richard Effert.
Der blinde Organist Richard Effert leitete den Chor bis 1943. Als erster Kantor in München führte er Bachkantaten im Gottesdienst auf - heute längst Tradition in vielen Gemeinden.
Heinz Schnauffer.
Kantor Heinz Schnauffer war im Hauptberuf Aufnahmeleiter beim Bayerischen Rundfunk. Bis 1982 leitete er den Chor in Sendling und machte die Himmelfahrtskirche zum "Tonstudio": Noch heute spielen Deutsche Grammophon und BR hier zahlreiche CDs ein - mit prominenten Musikern wie der Geigerin Hilary Hahn.
Klaus Geitner.
Seit 1983 ist Klaus Geitner Kantor an der Himmelfahrtskirche Sendling. Er plante den Bau der Eule-Orgel, erfand vor 10 Jahren die "Orgelnacht" und führt mit dem 108-köpfigen Chor immer wieder musikalische Großprojekte wie das Requiem von Verdi auf.
Chor 1956.
Von der kleinen Besetzung (hier 1956 auf der Empore unter Leitung von Heinz Schnauffer) bis zur ...
Chor Requiem Brahms.
... Mammutbesetzung beim Brahms-Requiem hat der Chor in seiner 100-jährigen Geschichte viel erlebt.

Bis 1943 wirkte Effert als Kantor in Sendling. Was heute gut evangelische Tradition ist, geht auf ihn zurück: Seit 1921 führte Effert Bachkantaten im Gottesdienst auf – als erster Kantor in München gab er damit der Kirchenmusik eine zentrale Rolle bei der Verkündigung des Evangeliums.

Danach begann mit der Ära des Organisten Heinz Schnauffer auch Hartmut Küfners aktive Zeit im Chor. Schon 1946, beim ersten Chorausflug nach Ende des Zweiten Weltkriegs, ist er als 4-jähriger Knirps auf dem Gruppenfoto zu sehen. "Der Chor war eine Gemeinschaft, alle Kinder waren mit dabei", erinnert sich der Sänger.

Größter Münchner Chor nach Kriegsende

Küfner tippt mit dem Finger auf das Schwarz-Weiß-Foto: "48 erwachsene Chormitglieder nur ein Jahr nach Kriegsende – das war damals der größte Chor in München." Schon am 22. Juli 1945 sang der Chor wieder eine Bachkantate, damals im "Asyl" in der Auferstehungskirche Westend, und führte im gleichen Jahr das komplette Weihnachtsoratorium von J. S .Bach auf.

Chor Osteroratorium 2016.
Große Aufführung: der Chor singt 2016 J.S.Bachs Osteroratorium.

Hartmut Küfner trat mit 16 Jahren, gleich nach dem Stimmbruch, selbst in den Chor ein und erlebte dessen Aufstieg in die Musikwelt Münchens. Denn Kantor Heinz Schnauffer war im Hauptberuf Aufnahmeleiter beim Bayerischen Rundfunk (BR).

Hillary Hahn in Himmelfahrt

Und weil die im Krieg zerstörte Himmelfahrtskirche nach ihrem Wiederaufbau quasi aus Versehen über eine exzellente Akustik verfügte, war es ein Leichtes, nicht nur den BR, sondern auch die Deutsche Grammophon Gesellschaft bis heute immer wieder zu zahlreichen Aufnahmen mit prominenten Musikern wie der Geigerin Hilary Hahn in die Kirche zu locken. An über 230 BR-Ausstrahlungen wirkte der Chor von Himmelfahrt bis 1980 mit. Noch heute steht regelmäßig der Übertragungswagen des BR auf dem Vorplatz.

Klaus Geitner hat in seinen nun 35 Jahren in Sendling große Projekte wie das Brahms- und Verdi-Requiem gestemmt; er hat die Sendlinger "Orgelnacht" als musikalisches Format für Nachtschwärmer etabliert und selbst bei Plattenaufnahmen mitgewirkt. Dennoch sieht sich der gebürtige Münchner mit Blick auf den Chor nicht als Künstler, sondern als soliden Musikhandwerker.

"Man braucht ein Händchen für Menschen und einen langen Atem für große Projekte, einen Mix aus Strenge, Zielstrebigkeit und Lockerheit", sagt der 58-Jährige. Immer wieder sei er erstaunt über das Phänomen "Chor": "Manche Stimmen sind klangschön, andere sind besonders sicher – jede ist ein Baustein für den Gesamtklang, alle ergänzen sich."

Chor als zweite Heimat

Für Hartmut Küfner ist der Chor noch heute eine zweite Heimat. Dass keins seiner Kinder im Chor singt, bedauert er ein wenig. "Ein Interesse am Singen hat am ehesten noch mein Sohn, aber der lebt seit zehn Jahren in Italien", sagt er. Doch an Weihnachten stimmt die Familie "Stille Nacht" an. "Da muss ich immer aufpassen, dass es nicht in schräge Tonlagen abdriftet", sagt Küfner und lacht.