Die belarussische Theologin und Menschenrechtsaktivistin Natalia Vasilevitsch hat die Kirche in ihrem Heimatland aufgerufen, sich für die Opfer der staatlichen Gewalt einzusetzen. "Wir erwarten von Kirchenvertretern jetzt vor allem, dass sie Verfolgten beistehen", sagte sie dem Sonntagsblatt. Das in Freising ansässige katholische Hilfswerk für Mittel- und Osteuropa, Renovabis, würdigte unterdessen das Engagement der Kirchen in Belarus, sich in die politische Lage einzubringen.

Vasilevitsch, die zurzeit an der Universität Bonn arbeitet, hält jedoch die von Kirchenvertretern in Belarus geforderte Einrichtung eines Runden Tisches, der die Wahlergebnisse ermitteln und die Zukunft des Landes planen soll, für unrealistisch. Es sei nicht möglich, dass der autokratisch regierende Präsident Alexander Lukaschenko Gespräche mit der individuell agierenden Opposition führen könne.

Die Mehrheit der Belarussen gehört der Orthodoxen Kirche an. Sie ist traditionell eng mit dem Staat verbunden. Vasilevitsch beobachtet aber auch hier ungewöhnlich unterschiedliche Meinungen: während manche Bischöfe Lukaschenko bereits zum Wahlsieg gratuliert hätten, distanzierten sich andere Geistliche auf Facebook ausdrücklich von dieser Haltung.

Für Sonntag haben Kirchenvertreter zu Gebeten für ein Ende der Gewalt im ganzen Land aufgerufen. In der westbelarussischen Stadt Grodno haben Geistliche nach Informationen der Aktivistin Opfer der Gewalt des Staates besucht. Andere Geistliche nähmen mit Plakaten wie "Stoppt die Gewalt!" an den Demonstrationen teil, sagte Vasilevitsch.

Der Geschäftsführer von Renovabis, Markus Ingenlath, begrüßte den Vorstoß der katholischen Bischöfe, sich mit konkreten Vorschlägen zur politischen Situation zu äußern. "Es scheint, als würden die Kirchen ökumenisch handeln, um den Druck auf das Regime zu erhöhen", sagte er.

Orthodoxe Kirche und Belarus

Der katholische Erzbischof der belarussischen Hauptstadt Minsk, Tadeusz Kondrusiewicz, hatte einen Runden Tisch über die Zukunft des Landes angeregt. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung von Belarus sind katholisch. Protestanten bilden eine noch kleinere Minderheit. Kondrusiewicz hat sich in den vergangenen Jahren bereits für eine Annäherung des Landes an Europa und für Verständigung ausgesprochen.

Es sei "bemerkenswert", dass sich katholische Geistliche so eindeutig zur politischen Lage positionierten, betonte Renovabis-Geschäftsführer Ingenlath. Die Hilfsorganisation unterstützt in dem Land soziale Projekte wie ein Kinderdorf in der Stadt Gomel, die von der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl stark betroffen ist, sowie Einrichtungen für alte Menschen. Zudem leistet die Organisation finanzielle Hilfe für Kirchenbauten.

Theologin Vasilevitsch zu Corona

Den für viele politische Beobachter unerwarteten Aufschwung der Opposition hält die Theologin Vasilevitsch für eine Folge des Umgangs von Belarus mit der Corona-Pandemie. "Da die Regierung das Virus lange geleugnet und keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hat, wurden die Menschen selbst aktiv, kauften Masken und informierten sich gegenseitig", berichtete Vasilevitsch. Die Notwendigkeit und der Erfolg dieser Selbsthilfe habe sich dann im Wahlkampf auf die Unterstützung der Kandidatin Swetlana Tichanowskaja ausgeweitet.

Der Ausgang der Präsidentenwahl in Belarus vom vergangenen Sonntag ist bisher nicht bekannt. Während die Regierung von einem Sieg des seit 26 Jahren amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko spricht, halten oppositionelle Kräfte das Ergebnis für gefälscht. Die OSZE war nicht zur Wahlbeobachtung zugelassen worden. Bei Demonstrationen kam es zu blutigen Auseinandersetzungen. Tausende Menschen wurden festgenommen und nach eigenen Aussagen misshandelt.