In der russischen Orthodoxie erzählt man sich noch immer die Geschichte von dem tölpelhaften Bauern aus der Moskauer Gegend, der sich eines Sonntags fein herausputzte und zum Dreifaltigkeitskloster nach Radonesch fuhr, um dort den hochberühmten Abt Sergij zu sehen und seinen Segen zu erbitten. Man sagte ihm, er möge ein wenig warten, Sergij grabe gerade die Erde am Zaun um. Tatsächlich erblickte der fromme Bauer dort ein eifrig arbeitendes Männlein in einer zerschlissenen Kutte.

Empört beschwerte sich der Besucher bei den Mönchen, man möge ihn nicht zum Narren halten er sei gekommen, einen Heiligen in Gold und Purpur zu sehen und nicht einen Klosterknecht in schäbiger Arbeitskluft. Wie immer in solchen Geschichten wurde der Ungläubige bald beschämt: Ein Fürst mit großem Gefolge traf ein und verneigte sich sogleich vor dem arbeitsamen Mönchlein bis auf den Boden. Zum schönen Schluss der Legende wird erzählt, wie der skeptische Besucher einige Jahre darauf selbst in das Dreifaltigkeitskloster eintrat und dort bis zu seinem Tod lebte.

Legenden ranken um seinen Geburtstag

Die Geschichte will zeigen, dass Sergij – im Abendland nennt man ihn Sergius – von Radonesch, einer der größten Heiligen Russlands, auch als prominenter Klostergründer und Fürstenberater ein armer, bescheidener Mönch geblieben ist.

Am häufigsten wird der 3. Mai 1314 als sein Geburtstag angegeben, doch es sind auch die Jahre 1322 und 1319 auf dem Markt der Legenden, die sich um ihn ranken. Aus einer vornehmen Bojarenfamilie im nordrussischen Rostow Welikij stammend und auf den Namen Warfolomej (Bartholomäus) getauft, fiel der Junge in der Schule nicht auf – im Gegenteil, er galt als unbegabt und einfältig, im Gegensatz zu seinen Brüdern. Nach der Legende träumte er früh schon von einer Existenz als Mönch und Einsiedler. Ein geheimnisvoller Mönch soll in der Familie aufgetaucht sein und ihm ein tiefes Verständnis der Heiligen Schrift vermittelt haben.

Bären, Wölfe und ein Einsiedlerkirchlein

Als die Eltern in den politischen Wirren jener Zeit verarmten, ihr Landgut verlassen mussten und nach Radonesch zogen, 50 Kilometer vor Moskau, konnte Sergij seinen Traum verwirklichen. Zusammen mit seinem Bruder Stephan – er war nach kurzer Ehe zum Witwer geworden – begann er ein Einsiedlerleben in den unwegsamen Wäldern, in der Gesellschaft von Bären, Wölfen und Füchsen. Das kleine Kirchlein, dessen Holzbalken die beiden Einsiedler selbst geschlagen hatten, wurde der Heiligen Dreifaltigkeit geweiht, damals absolut unüblich. Sergij hatte sich "das erhabenste, zugleich aber auch das abgründigste und unzugänglichste Geheimnis des christlichen Glaubens" (Ferdinand Holböck) für sein Gotteshaus gewählt.

Stephan hielt es in der Einsamkeit des Urwalds nicht aus, er wechselte in das Moskauer Theophanie-Kloster (das er später ebenfalls wieder verließ). Sergij blieb allein in den dschungelähnlichen Wäldern, fror im frostklirrenden Winter entsetzlich, fürchtete sich vor dem nächtlichen Geheul der Wölfe und Bären, gewann nach der Legende einen Bären zum Freund, rang mit den eigenen Abgründen und den Erscheinungen von Teufeln und Dämonen, wie es auch vom Mönchsvater Antonios in der ägyptischen Wüste und vielen anderen frommen Aussteigern der Antike berichtet wird – und scharte schließlich zwölf robuste Gefährten um sich, die sein Leben teilen wollten, in einer Eremitenkolonie.

Das Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad
UNESCO-Welterbe 70 Kilometer nordöstlich von Moskau: Das Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad wurde um 1340 vom heiligen Sergius von Radonesch gegründet; es ist eines der bedeutendsten religiösen Zentren der russisch-orthodoxen Kirche.

Sie rodeten den Urwald rings um die kleine Ansiedlung, pflegten ihren Gemüsegarten, lasen und meditierten Evangelium und Psalmen   – ihre einzige Lektüre – und freuten sich, als Sergijs Bruder Stephan aus Moskau zurückkam und seinen zwölfjährigen Sohn Feodor mitbrachte, der ebenfalls als Mönch in Radonesch eintrat und später das Simonow-Kloster in Moskau gründete.

Leider gab es Streit: Der unstete Stephan machte Sergij einen Teil seiner Mönchsgemeinschaft abspenstig. Der friedliebende Sergij setzte ihm kaum Widerstand entgegen, zog sich in die Einsamkeit zurück und wurde am Ende zurückgeholt. Man wollte ihn zum Metropoliten von Moskau machen, doch Sergij lehnte ab.

Zugang zum göttlichen Licht

Im Lauf der Jahre gründete er 20 Klöster (seine Schüler vermehrten sie um weitere 20), dazu Klosterschulen und Einrichtungen zur Verbesserung der Landwirtschaft. Seine Mönchsregel fand auch in anderen russischen Klöstern Eingang. Vor allem seinem 1340 errichteten Dreifaltigkeitskloster in Radonesch kommt für die Kolonisierung Nordrusslands große Bedeutung zu.

Sergij ermunterte den Moskauer Großfürsten, gegen die muslimischen Tataren zu kämpfen, warb aber auch für eine nach innen konzentrierte, asketische Spiritualität, die in der Einsamkeit und mit dem ständig wiederholten Herzensgebet Zugang zum göttlichen Licht findet. In Deutschland haben der kürzlich gestorbene Abt von Niederaltaich, Emmanuel Jungclaussen, oder auch der evangelische Meditationspfarrer und Sonntagsblatt-Autor Andreas Ebert diese Gebetsform bekannt gemacht, bei der man ständig eine einfache Formel wie etwa "Herr Jesus Christus, hab Erbarmen mit mir!" wiederholt.

Dreifaltigkeitskloster wurde zum Wallfahrtsort

Am 25. September – nach dem Kalender der Ostkirche ist es der 8. Oktober – 1392 starb Abt Sergij 78-jährig; bereits 1448 sprach man ihn heilig. Sein Dreifaltigkeitskloster wurde zum Wallfahrtsort und brachte 150 Tochtergründungen hervor. "Das Angesicht des Heiligen leuchtete wie Schnee", wird von seinem Leichnam berichtet, "es war nicht so wie gemeinhin bei den Toten, sondern wie bei einem Lebenden oder bei einem Engel Gottes."

In Sergijs Lebenszeit endete die Herrlichkeit von Byzanz, während der Balkan unter osmanische Herrschaft kam und die Goldene Horde der Tataren Russland knechtete. Auf Sergijs Aufforderung hin nahm der junge Großfürst Dmitrij, zunächst hatte er gezögert, den Kampf gegen die Tataren auf, bezwang sie zum ersten Mal in der Geschichte Russlands und zerstörte damit den Mythos von ihrer Unbesiegbarkeit. Jahrhundertelang galt dieser Sieg als von Sergij vermittelter Gnadenerweis Gottes; zusammen mit seiner schlichten, innigen Spiritualität gab er den in panischer Angst aus Kiew, Wladimir, Susdal und Rjasan in die Wälder der oberen Wolga geflohenen Volksmassen wieder so etwas wie Lebensmut und Perspektiven.

"Russlands Baumeister und Lehrer"

So gesehen war Sergijs Leben auch verbunden mit der damals einsetzenden "Sammlung der russischen Erde" durch die Großfürsten von Moskau. Im 16. Jahrhundert spielte Sergijs Kloster ebenfalls eine entscheidende Rolle als symbolischer Ort russischer Unabhängigkeit, als die Polen 16 Monate lang Moskau belagerten.

Das Dreifaltigkeitskloster von Sergijew Possad (früher Sagorsk) umfasst heute drei Kathedralen, die Moskauer Geistliche Akademie, eine wundertätige Quelle und Sergijs silbernen Reliquienschrein. Hierher wallfahren jedes Jahr Tausende und Abertausende aus allen Gegenden Russlands. Der Pilgerstrom ließ sich auch in der Zeit bolschewistischer Herrschaft nicht stoppen, die staatlichen Behörden machten das Beste daraus und präsentierten westlichen Touristen und Staatsgästen die prächtige Klosterstadt mit ihren goldenen Kuppeln und der berühmten Dreifaltigkeitsikone des Malermönchs Andrej Rubljow.

Russlands heutiger starker Mann Wladimir Putin würdigte den heiligen Sergij 2014 als eine Ikone der nationalen Wiedergeburt und als "Russlands Baumeister und Lehrer": "Er hat einen patriotischen, nationalen und moralischen Wiederaufstieg inspiriert; die von ihm errichteten Klöster waren nicht nur geistliche Zentren, sondern echte Festungen, die das Land bewachten", sagte Putin. Und fügte hinzu: "Sergius’ Erbe ist ein Schlüssel für das Verständnis Russlands."