Wir verlieren Sicherheiten. Wir verlieren den Glauben daran, dass sich Probleme lösen lassen. Wir verlieren die Gewissheit, dass das Leben unserer Kinder besser sein wird. Wir fühlen uns bedroht wie selten zuvor – von Kriegen, Abstieg, Katastrophen. Und immer wieder übergeben wir Menschen dem Tode, verlieren sie.

 Ausgehend von der persönlichen Erfahrung des Todes seines Vaters erzählt der Essayist Daniel Schreiber von einem Tag in Venedig und analysiert dabei unsere private und gesellschaftliche Fähigkeit Abschied zu nehmen.

 Schreiber berichtet von der Trauer um seinen an Krebs verstorbenen Vater, die er zwei Jahre lang erfolgreich verdrängt hat und die ihn nun doch heimsucht. Dabei berichtet er unverblümt von Gesprächen mit dem Vater, der in der Nachkriegszeit auf einem Hof in Ostdeutschland mit einem gewalttätigen Vater aufgewachsen ist. Am Ende stellt sich heraus, dass der Tyrann gar nicht sein leiblicher Vater war, aber das erfährt er erst im Alter von 50 Jahren. Der Vater entscheidet sich am Ende für eine Chemotherapie, die ihm vor allem für den Abschied von seiner Frau noch etwas Zeit bringt. Dann kapseln sich beide ab, mit wenigen Besuchsmöglichkeiten für die Kinder. Am Ende wird der Vater anonym bestattet.

Vom Tod des Vaters zu Klimawandel und Rassismus

Dabei kommt Schreiber vom Tod seines Vaters zu den universellen Themen Abschied, Trauer, Schmerz und Verluste. Er beschreibt, wie wir persönlich und wie unsere Gesellschaften heute mit dem Tod, dem Ende von Gewissheiten und Veränderungen umgehen.  Dabei konstatiert er, dass heute "Grundlegendes ins Wanken geraten" ist, dass wir von "Zeitenwenden" umgeben sind, "Apokalypsen" verkündet werden. Er streift den Klimawandel, Fremdenfeindlichkeit und Hass, aber natürlich passen auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die vielen andere Krisen dazu, die sich mittlerweile aneinanderreihen.

 Für den Umgang mit ihnen sucht Schreiber wieder Rat bei Philosoph*innen, Schriftsteller*innen und Wissenschaftler*innen, darunter der amerikanischen Klimaforscherin Summer Praetorius, die konstatierte, unsere Gesellschaften würden ihre Resilienz verlieren, also "die Fähigkeit, nach Störungen zu einem Gleichgewicht zurückzufinden." Er referiert den Journalisten und Politikwissenschaftler Francis Fukuyama der das "Ende der Geschichte" verkündete, also nach Ende des Kalten Krieges den endgültigen Siegeszug der liberalen Demokratie. Na ja, Pustekuchen, denn die Anzahl der Demokratien geht weltweit seit Jahren zurück. Donald Trump, rechte Populisten und die unkontrollierte Hetze über das Internet zeigen eine deutlich andere Entwicklung.  

Doch egal ob nun bei persönlichen Verlusten oder dem großen Verlust von Sicherheit, Schreiber geht auf den damit einhergehenden Schmerz ein, die Trauerarbeit, die Sigmund Freud erstmals beschrieb, und ihre verschiedenen Phasen. Er geht auf die "Trauerabwehr" ein, die Zeit des Verlorenseins und des Neu-Orientierens und schließt, dass wir die Zukunft annehmen müssen, wie sie ist - uns der Zuversicht wieder öffnen müssen, sorgsam sein sollen, aber nicht ängstlich.

Bringt uns das jetzt weiter?

Daniel Schreiber streift viele spannende Ideen, aber bleibt unerwartet assoziativ und oberflächlich. Zwar erwähnt er auch die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone des Beauvoir, aber auf ihr wundervolles Werk über die letzten Tage mit Jean-Paul Sartre "Die Zeremonie des Abschieds" geht er beispielsweise nicht ein. Und auch Schreibers persönliche Trauerbewältigung bleibt oberflächlich und wird immer wieder von Alltagsschilderungen in Venedig unterbrochen.

Klar, keine Stadt steht so nah am "Untergang" wie die italienische Lagunenmetropole. Der Ort seines Essays ist gut gewählt. Sicher, Thomas Mann machte dem morbiden Charme mit seinem Roman "Tod in Venedig" noch berühmter. Aber neben den Reisen durch die Philosophie und den Berichten aus dem Leben seines Vaters, müssen wir mit dem Erzähler ständig Zigaretten anzünden, zum Lichtschalter gehen und seine Freundin zum Yoga treffen. Wir begleiten ihn, während er Espresso aufkocht und erfahren en detail, was in venezianischen Restaurants serviert wird. Diese Beschreibungen nehmen in seinem Buch leider einen viel zu großen Raum ein. Wenn Schreiber, der auch Kunstkritiker ist, hingegen über die Kunst in der Accademia schreibt, wird es wieder spannend und tiefgründig.

Erzählende Sachbücher wie die von Daniel Schreiber sind seit Jahren gefragt. Natürlich ist es gut, Essayisten zuzuhören, ihren persönlichen Wegen zu folgen und mit ihnen auf unerwartete Ideen und zu anderen Betrachtungsweisen zu kommen. Aber Schreiber verliert sich in "Zeit der Verluste" zu häufig im Gewirr der venezianischen Gassen.

 

Daniel Schreiber (2023): Zeit der Verluste, Hanser Literaturverlag, Berlin, 144 Seiten, 22 Euro.

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