Die blauen Pferde, der lauernde gelbe Tiger oder der rote Stier: Franz Marcs farbenfrohe Tierdarstellungen haben bis heute einen beinahe ikonografischen Stellenwert, seine Bilder kennen auch Menschen, die noch nie ein Museum von innen gesehen haben. Mit seinen expressionistischen Gemälden wurde er zu einem der bekanntesten und bedeutendsten deutschen Künstler der Klassischen Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Neben Wassily Kandinsky ist Franz Marc der wichtigste Vertreter der Künstlervereinigung "Der Blaue Reiter".
Weniger bekannt ist, dass der Künstler sich in seiner Jugend intensiv mit dem Protestantismus auseinandersetzte, Theologie studieren und Pfarrer werden wollte. Sein Interesse gründete in einem engen Kontakt zum ehemaligen Münchner Stadtvikar Otto Schlier, der ihn in der Münchner Matthäuskirche konfirmiert hatte. So schrieb er am 18. Juli 1897 als 17-Jähriger an Schlier: "Mein alter Vorsatz … Pfarrer zu werden, hat sich in der Reihe der Jahre nach manchem Zweifeln und Ungewissheiten nun doch immer mehr in mir gefestigt."
Diesem Zitat wurde auch in der Forschung der letzten Jahre zunehmend Beachtung geschenkt, doch weitgehend von seinem Kontext isoliert. Die Hintergründe, nämlich das religiöse und bildungsbürgerliche Umfeld des Künstlers in seiner Jugendzeit, blieben jedoch im Dunkeln.
Religiöses Elternhaus
Die religiöse Entwicklung Franz Marcs hatte ihren entscheidenden Ausgang in seinem Elternhaus. Die Mutter war calvinistisch geprägt, der Vater ein religiös ernster Katholik. Beide lebten ein liberales Christentum kulturprotestantischer Ausrichtung.
Dem Kulturprotestantismus ging es um die Vermittlung zwischen Christentum und Kultur. Die Amtskirche, kirchliches Christentum und klassische Gottesdienstbesuche in Kirchengebäuden spielten hier kaum eine Rolle. Dem Gedanken der Sittlichkeit, also einer christlichen Wertemoral, wurde eine besondere Bedeutung beigemessen.
Die Eltern schufen eine Atmosphäre, die für die Brüder Paul und Franz eine dementsprechende, gelebte Frömmigkeit zum festen Bestandteil des Alltags werden ließ. Der konservativen bayerischen Amtskirche stand man distanziert gegenüber. Man unterschied deutlich zwischen gelebter Frömmigkeit und verfasster Kirche.
Beide Söhne waren - wohl aus Rücksicht auf die Familie des Vaters - katholisch getauft, aber im protestantischen Geist der Mutter erzogen. Der Vater konvertierte 1895 zum Protestantismus. Vermutlich erfolgte zeitgleich die Konvertierung der Söhne.
Prägend für beide Söhne der Familie war ihre Konfirmandenzeit, insbesondere der Konfirmandenunterricht beim Münchner Stadtvikar Otto Schlier. Schlier, der sich den von den Eltern vorgegebenen Lebensmaximen privat wie beruflich verpflichtet fühlte, stand der gesamten Familie Marc sehr nahe. Beide Söhne besuchten ihn oft.
Trotz hervorragender Examina stand Schlier in München aufgrund seiner liberalen theologischen Haltung unter kritischer Beobachtung der konservativen bayerischen Amtskirche. Diese Differenzen bestimmten auch die Jahre der Tätigkeit in seiner neuen Gemeinde im oberfränkischen Schney bei Lichtenfels und gipfelten schließlich - nach harten Auseinandersetzungen mit dem bayerischen Oberkonsistorium - im Wechsel in die badische Landeskirche, die deutlich liberaler war.
Als Pfarrer Schlier 1893 München verließ, entstand in der Folge über die Dauer von sechs Jahren ein regelmäßiger Briefwechsel mit Franz Marc, der über dessen weitere religiöse Entwicklung Aufschluss gibt.
Franz Marc beschäftigte sich nach seiner Konfirmation mit geistlicher Literatur. Besonders begeisterte ihn die geistliche Biografie des im Alter von 15 Jahren verstorbenen Carl Stählin, des jüngsten Bruders des damaligen bayerischen Oberkonsistorialpräsidenten. Das Vorbild Stählins und das bildungsbürgerlich-kulturprotestantische Milieu dürften dazu beigetragen haben, dass Franz Marc Pfarrer werden wollte. Aber ganz sicher wollte er auch seinem Mentor Otto Schlier nacheifern.
Das Pfarrhaus im oberfränkischen Schney schreckte Marc ab
Einen ersten Dämpfer bekam Marcs Berufswunsch durch die Erfahrungen bei seinem Besuch bei Familie Schlier im Pfarrhaus in Schney im September 1897. Es war alles so anders, als er es mit Schlier in München erlebt hatte. Marc bekam Einblick in beinahe ärmliche Verhältnisse und erlebte die Reaktionen einer nicht immer freundlichen Gemeinde.
Der harte und arbeitsreiche Pfarrersalltag unterschied sich sehr von der protestantischen Salonkultur in München. Dort hatten montagabends Treffen mit einem Personenkreis um Schlier stattgefunden, bei denen die aktuellen politischen, kulturellen und sozialen Themen der Zeit im Horizont der Theologie diskutiert wurden. Diese Form der Religionsausübung in privaten Zirkeln war typisch für den bildungsbürgerlichen Protestantismus.
Nach seinem Ausflug ins oberfränkische Land beschäftigte sich Franz Marc zunehmend mit den christlichen Zeitschriften Zeit, Hilfe und Christliche Welt. Ihn interessierte die christlich-soziale Frage und der dafür stehende Pfarrer Friedrich Naumann. Wohl deshalb beschäftigte ihn auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Christentum und Politik. Der umtriebige Theologe Naumann scheint jedoch für Marc eine abschreckende Wirkung gehabt zu haben - ein weiterer Grund für die Abwendung vom Pfarrberuf.
Ein Übriges bewirkte der Konflikt Schliers mit seinem Dienstherrn in München, dessen Dimension dem Jugendlichen zunehmend bewusst wurde. Zweifellos haben sowohl bei Franz Marc als auch bei seiner Familie die Differenzen Schliers mit der Landeskirche und insbesondere dessen Vorwurf, es ginge der Kirche mehr um Form als um Inhalte, die Distanzierung zur der Amtskirche weiter gefördert.
Bald nach dem Besuch in Schney stellte sich für Franz Marc auch die Frage der Vereinbarkeit des Christentums mit den Ideen Nietzsches, der damals zur Standardlektüre des Bildungsbürgertums gehörte.
In dieser Zeit formulierte Franz Marc am 28. Dezember 1898 gegenüber Pfarrer Schlier die Absage an den Pfarrberuf: "Pfarrer werd' ich keiner, auch nicht einmal ein Schiffbrüchiger. Ich nehme gleich den Landweg. Ich fühle mich dabei besser, sicherer, freier. Meines Gewerkes bin ich Philologe… Auf die Modeberühmtheit eines verpfuschten Pfarrers verzichte ich noch lieber. Und was wäre es viel anderes? Dazu ist mir mein Christentum zu gut und wert." Eine Abwendung vom Christentum, wie in der Forschung oftmals behauptet wird, ist damit widerlegt.
In den letzten Briefen Franz Marcs an Pfarrer Schlier ist dennoch eine vorsichtige Distanzierung zu Christentum und Religion spürbar. Noch im April 1900 las Franz Marc die Christliche Welt und zeigte sich begeistert über einen Artikel des Herausgebers Martin Rade, in dem das persönliche Glaubensleben im Zentrum stand. Auch im letzten ausführlichen Brief vom Juni 1900 ist das Christentum noch einmal Thema.
Wenn Marc fragt, "vielleicht verstehe ich es [das Christentum] nicht mehr?", ist damit jedoch keine Abwendung von der christlichen Religion verbunden. Es darf nicht übersehen werden, dass er niemals Anhänger des Christentums in Form der zu seiner Zeit gängigen kirchlichen Religion oder gar im Sinne heutiger Vorstellungen von gelebtem Christentum war. Er bewegte sich vielmehr mit dem Kulturprotestantismus in einer spezifischen Strömung innerhalb des bildungsbürgerlichen Protestantismus mit speziellen Formen der Religionsausübung.
Marcs Kritik bezieht sich auf die institutionalisierte Form der Religion. Der Ruf des Künstlers nach einer "Kunstreligion" einige Jahre später verweist ebenfalls auf die kulturprotestantische Prägung seiner Jugend. Ist doch der Gedanke von Kunst als Religion nur eine Abwandlung des Grundanliegens des Kulturprotestantismus der Versöhnung zwischen Christentum und Kultur.
Mit dem Ende des Militärjahrs begann ein neuer Abschnitt im Leben Franz Marcs. Er ließ das Elternhaus hinter sich. Der Kontakt zu Pfarrer Schlier brach weitgehend ab - wohl weniger aufgrund der Differenzen, als aufgrund des eigenen Lebens, das er nun lebte.
Die Spuren der bürgerlich-kulturprotestantischen Prägung sind auch in den Werken Franz Marcs sichtbar: Der Regenbogen im Gemälde "Turm der blauen Pferde" (1913, verschollen) hat nicht nur eine kompositorische oder farbgestalterische Funktion: Als Zeichen des Bundes zwischen Gott und Mensch im Rahmen der Sintfluterzählung war der Regenbogen Franz Marc aufgrund seiner religiösen Bildung mit Sicherheit bekannt.
Ein demütiger Turmbau zu Babel
Ein Beleg hierfür könnte die Verwendung dieses Regenbogens beim Holzschnitt "Versöhnung" sein, einer Illustration von Else Lasker-Schülers Gedicht "Versöhnung". Im Gedicht ist von einem Regenbogen nicht die Rede. Franz Marc fügt ihn als Veranschaulichung und konkretes Symbol der Versöhnung hinzu. Überträgt man dies, markiert der Regenbogen im Gemälde "Turm der blauen Pferde" ebenfalls das aus 1. Mose 9, 12-17 übernommene biblische Symbol für den Bund und damit die Versöhnung Gottes mit den Menschen.
Möglich wäre zudem, dass der "Turm der blauen Pferde" seinen Ursprung in der biblischen Erzählung des Turmbaus zu Babel (1. Mose 11) findet. Nicht der verderbte Mensch, der aggressiv und machtstrebend auf gleiche Ebene mit Gott kommen möchte, wird hier symbolisiert, sondern das reine, geistige Wesen - bei Franz Marc in vielen Darstellungen ein blaues Tier, oftmals ein Pferd, das demütig nach dem Kontakt mit dem Göttlichen strebt und dankbar dem Regenbogen als Zeichen dieses Kontakts entgegensieht, den Kopf in dessen Richtung reckend.
In den Kriegsjahren ab 1914 lebte der Kontakt zwischen dem Künstler und dem Mentor seiner Jugend, inzwischen Stellvertretender Dekan in Heidelberg, doch noch einmal auf. Zu dem in der letzten Feldpostkarte Franz Marcs an Schliers Ehefrau vom März 1915 angekündigten Treffen kommt es aber nicht mehr. Franz Marc wird am 4. März 1916 in der Nähe von Verdun auf einem Erkundungsritt von einem Granatsplitter tödlich verletzt.
MARCS FARBEN
EXPRESSIONISMUS bringt nicht das auf Leinwand, was der Künstler sieht, sondern was er empfindet. Franz Marcs sehr individueller Expressionismus, der Elemente des Kubismus und des Futurismus aufweist, hat den Mut zu abstrahierenden Formen und irrationalen Farben.
IN DEM FARBENZAUBERER und visionären Vordenker Wassily Kandinsky fand er einen Freund, der ihn inspirierte. Kandinskys Ideen - "Ein Bild muss klingen" - veränderten seine Sicht der Dinge radikal. Marc: "Ich suche mein Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge zu steigern, suche mich pantheistisch einzufühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft."
FARBEN VERKÖRPERN für ihn Kräfte: "Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig", schrieb er an seinen Freund August Macke. "Gelb das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich. Rot die Materie, brutal und schwer und stets die Farbe, die von den anderen beiden bekämpft und überwunden werden muss! Dem Grün müssen stets noch einmal Blau (der Himmel) und Gelb (die Sonne) zu Hilfe kommen, um die Materie zum Schweigen zu bringen." Die Formen, so beharrte Marc, müssten "ungeheuer stark und klar" sein, "damit sie die Farben aushalten".
EINEN WALD, EIN PFERD wollte er nicht so schildern, "wie sie uns gefallen oder scheinen, sondern wie sie wirklich sind", schrieb er. Die Frage, die ihn umtrieb, hieß: "Wie sieht ein Pferd die Welt oder ein Adler, ein Reh oder ein Hund?"
BUCHTIPP
Gabriele Kainz: Der Briefwechsel zwischen Franz Marc und Pfarrer Otto Schlier in den Jahren 1894-1900. Eine Studie zum protestantischen Hintergrund des Künstlers. Dissertation, 342 Seiten, ISBN 978-3-374-04283-8, 48 Euro, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2015.