Schon im Urtext findet man religiöse Motive und Anspielungen, in Nürnberg am Ende gar eine Szene, die an Golgatha erinnert. Zwischendrin – ein steppendes Pferd, genderfluide Huren und jede Menge Hits.

Bertolt Brecht wuchs in Augsburg in einer Zeit und einem Umfeld auf, die ihn sowohl religiös als auch gesellschaftlich prägten, was sich später in seinem Werk widerspiegelte. 1912 wurde der Autor in der unweit des Brecht-Hauses gelegenen Barfüßerkirche konfirmiert. Sein Verhältnis zur Religion war ambivalent. Er sah die Kirche als Institution, die bestehende Machtverhältnisse stützte, und distanzierte sich von ihrer Lehre.

Berühmt geworden ist dagegen seine Antwort auf die Frage nach dem für ihn wichtigsten Buch der Weltliteratur:

"Sie werden lachen, die Bibel!"

Brechts religiöse Sozialisation

Brechts Vater, Berthold Friedrich Brecht, war Katholik, während seine Mutter, Sophie Brezing, Protestantin war. Diese konfessionelle Mischung prägte Brechts frühe Erziehung. Die Familie war bürgerlich geprägt, und Brechts Mutter war besonders religiös, was zu einer moralisch geprägten Atmosphäre in der Familie beitrug. Ihr Einfluss zeigt sich in Brechts späterer Beschäftigung mit Themen wie Gnade, Mitgefühl und Menschlichkeit.

Die Dreigroschenoper wurde 1928 in Berlin uraufgeführt und ist eine Adaption von John Gays "The Beggar’s Opera" aus dem 18. Jahrhundert und. Die Handlung spielt im Londoner Unterweltmilieu und dreht sich um den charismatischen Gangster Macheath, genannt Mackie Messer. Er heiratet Polly Peachum, sehr zum Ärger ihres Vaters, Jonathan Peachum, der die Bettler Londons kontrolliert. Es entspinnt sich eine Geschichte voller Intrigen, Verrat und Machtspiele, mit Themen wie Korruption, Klassenunterschiede und Heuchelei. Einige der Lieder, wie die "Moritat von Mackie Messer" oder "Die Seeräuber-Jenny" sind weltbekannt geworden.

Weniger berühmt, dafür aber umso eindringlicher ist da der "Morgenchoral des Peachum", der in seiner harten Wortwahl dem frommen Rezipienten wohl beim ersten Hören den Atem stocken ließ: "Wach auf, du verrotteter Christ! Mach dich an dein sündiges Leben. Zeig, was für ein Schurke du bist. Der Herr wird es dir dann schon geben", heißt es da. Brecht machte also "keine Gefangenen", wenn er seine Nummernoper als pures Spiegelbild einer schon damals in seinen Augen degenerierten Gesellschaft konzipierte – was aber beim Anschauen Spaß macht, weil das Augenzwinkern jederzeit überzeugt.

Unverstellte Lust am Geld, Sex und Schäbigkeit

Seit knapp 100 Jahren wird immer wieder versucht, die Dreigroschenoper als ein gesellschaftskritisches Werk zu betrachten, welches das Publikum dazu anregen soll, bürgerliche Strukturen zu hinterfragen, anstatt sich emotional in die Geschichte hineinziehen zu lassen. Wer Brecht kennt, weiß aber, dass der Autor genau mit diesen Erwartungshaltungen spielt und es liebte, in alle Richtungen interpretiert zu werden, bewusst Widersprüche stehenzulassen. Jens-Daniel Herzog entzaubert moralische Interpretationsversuche. "Die Dreigroschenoper feiert die unverstellte Lust am Geld, am Sex, an der Gemeinheit und Schäbigkeit, aber ihren Figuren geht es gut damit, und deshalb auch uns", schreibt er. Dionysische Zustände also im viktorianischen London, wo die Szenerie zu spielen scheint. 

Herzogs Interpretation legt den Fokus auf Unterhaltung und Humor, wobei sie die satirischen und gesellschaftskritischen Elemente des Originals in einer modernen und publikumsnahen Darbietung hervorhebt. Durch die Nutzung des umbauten Orchestergrabens rücken die Darstellerinnen und Darsteller näher an das Publikum heran, was eine intensivere Interaktion ermöglicht: Das Geschehen spielt sich im Staatstheater auf und vor der Bühne ab, manchmal sogar zwischen den Zuschauerreihen.

Jens-Daniel Herzog
Jens-Daniel Herzog, Staatsintendant und Operndirektor.

Ein Pferd als heimlicher Star

Findet die Hochzeit von Mackie und Polly im ersten Akt in einem Pferdestall statt, taucht das dazugehörige Pferd dann gleich mehrfach nochmal auf. Zwei talentierte Stepptänzer haben sich in dem Rappen versteckt und geben diesem die Sporen, während das Publikum sich den Bauch vor Lachen hält. Schmunzeln ist auch angesagt, wenn die überzeichneten Prostituierten in Mackies Bordell auch mal Schnurrbart tragen und gerade die Herren in den vorderen Reihen anschmachten.

Die Inszenierung integriert Schauspielerinnen und Schauspieler des Ensembles, darunter Nicolas Frederick Djuren und Lisa Mies als Celia Peachum, die mit prägnantem Gesang und starker Bühnenpräsenz überzeugen. Die Sopranistinnen Veronika Loy als Polly Peachum und Caroline Ottocan als ihre Gegenspielerin Lucy schwelgen sogar im flirrenden Belcanto. Bedenkt man, dass die Dreigroschenoper eigentlich nicht zwingend von sängerischen Höchstleistungen leben "muss", ja, Brecht seine Texte sogar bewusst im schnodderigen Stil angelegt hat, ist das unterm Strich mehr, als man in der Regel für sein Geld an der Theaterkasse erwarten kann.

Die Sprache der Dreigroschenoper bedient sich oft religiöser Bilder und Begriffe wie Sünde, Erlösung, Barmherzigkeit oder Himmel, die aber ironisch und verfremdet genutzt werden. Die Szene, in der Jonathan Peachum seine Bettler in ihren Rollen als Bein- oder gar Kopfloser "orchestriert", erinnert fast an eine religiöse Zeremonie, entlarvt aber zugleich seine manipulative Ausbeutung. Die berühmte Ballade "Die Seeräuber-Jenny" enthält Anklänge an eine apokalyptische Vision, in der die Unterdrückten Rache üben und die Weltordnung umkehren. Dies könnte als Umkehrung biblischer Vorstellungen von Gerechtigkeit interpretiert werden.

Rettung in letzter Minute

Mackie Messer wird in letzter Minute vor seiner Hinrichtung errettet. Nicht durch göttliche Gnade, sondern durch die willkürliche Entscheidung eines Königs. Dies parodiert die Idee von Erlösung und stellt sie als absurd und ungerecht dar. In der Nürnberger Darstellung ist diese überraschende Schlussszene maßlos überzeichnet. Djuren, der ohnehin schon immer wieder eine akrobatische Meisterleistung kopfüber hängend an dem während der gesamten Aufführung zentralen Riesenrad abliefert, muss noch einmal in diese sich drehende Knochenmühle. Sein Abgang wirkt wie eine Kreuzigungsszene mit viel Pathos. Die Rettung dann – so beiläufig wie absurd.

Insgesamt erleben die Gäste der Nürnberger Dreigroschenoper eine äußerst kurzweilige  Nummernrevue, die zwei Stunden Netto-Spielzeit vergehen wie im Flug. Ein abwechslunsgreiches Bühnenbild schmeichelt das Auge, die sängerischen Leistungen auf der Bühne und aus dem Orchestergraben das Ohr.

Aufführungen finden jeden Monat bis Anfang Juni statt.

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