Ganz große Themen also, die Intendant Johannes Kaetzler und sein Team im 76. Spieljahr auf die Bühne vor den Arkaden des romanischen Kreuzgangs des ehemaligen Benediktinerklosters bringen.
Friedrich Dürrenmatts 1956 uraufgeführtes "Der Besuch der alten Dame" ist vom Autor selbst als eine "tragische Komödie" bezeichnet worden. So lustig ist das Geschehen eigentlich gar nicht. Denn Claire Zachanassian, mit überzeugender Wucht als ebenso kühle wie fragile Blonde von Maike Bollow dargestellt, kommt im gesetzteren Alter in ihr ehemaliges Heimatdorf Güllen (sprechender Name, der auf einen Sündenpfuhl hinweist) zurück, um sich an der Bevölkerung zu rächen, die sie einst als junges, ungewollt schwangeres Mädchen verstoßen hat. Vor allem aber an Kindsvater Alfred Ill (wiederum sprechender Namen – "ill" = englisch: "krank"), der damals zwei Männer bestochen hatte, vor Gericht auszusagen, ebenfalls mit Claire geschlafen zu haben.
Nur die Pfarrerin mordet nicht mit
In der Folge musste Claire Güllen verlassen, ihr Neugeborenes an ein christliches Werk abgeben, wurde Prostituierte und kam über Umwege und mehrfachem Heiraten zu viel Geld. Eine Milliarde will sie hälftig der mittlerweile desaströsen Güllener Wirtschaft und den Bürgerinnen und Bürgern schenken – Voraussetzung: Ill muss sterben. Ein zutiefst unmoralisches Angebot, dessen Faszination sich die Güllener aber nicht gänzlich entziehen können – trotz erster Empörung und Bekundungen zu Moral und Menschlichkeit.
Am Ende wird Ill (von Andreas Wobig hervorragend in seiner langsam anwachsenden Verzweiflung dargestellt) umkommen – umringt von einer Menge an Menschen, aus der er nicht lebend heraus kommt. Nur der Pfarrer, in der Fassung für die Kreuzgangspiele von Kirsten Schneider in wunderbarer Zerrissenheit gespielt, bleibt außen vor und beobachtet diese Szene nur. So stand es bei Dürrenmatt allerdings nicht im Originaltext.
"Mir ist diese Figur persönlich sehr nahe, ich wollte sie auch schützen", bekennt Intendant Johannes Kaetzler, der bei diesem Stück auch die Regie führt. Der Geistliche sei die einzige Figur, die Wahrheit über den kommenden Mord spricht und sie Ill ins Gesicht sagt. Noch eine dramaturgische Zuspitzung: Die alte Dame Claire, die von sich sagt, mit ihrem Geld sich alles kaufen zu können, setzt sich in einer Szene den Revolver an das Kinn und überlegt kurz, sich selbst zu richten und damit ihrer eigenen Lebenstragik und womöglich dem, was sie noch anrichten wird mit ihrer Milliarde, ein Ende zu setzen.
"Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheuerer als der Mensch", wird sie am Schluss sagen. Und damit die Debatte noch einmal eröffnen, wie weit der Mensch geht, wenn er Reichtum oder zumindest wirtschaftliche Freiheit wittert und dabei seine Überzeugungen über Bord wirft.
Acht Mörder im Zug
Auch das zweite zentrale der Stück der Kreuzgangspiele, Agatha Christies "Mord im Orientexpress" wird diese Frage anhand der Tötung des Kindsmörders Samuel Ratchett aufwerfen. Unter welchen Bedingungen ist ein Mord vertretbar?
"Wir suchen immer nach Verbindungen zu den Stücken", meint Johannes Kaetzler. Und auch wenn die beiden Stücke als Drama einerseits, Krimi andererseits so unterschiedlich erscheinen – die gemeinsame Klammer bietet die Frage nach dem, was Schuld nach sich zieht und wie wiederum an ihrer Sühne schuldig gewordene mit dieser Verantwortung umgehen.
Detektiven-Ass Hercule Poirot – mit herrlichem belgischen Akzent süffisant als selbstverliebter, blitzgescheiter Schnösel vom Gerd Lukas Storzer gespielt – hat es mit einem Toten in einem Zug zu tun. Und der Mörder muss nach wie vor unter den Gästen sein. Wie ein Puzzle setzt er die so unterschiedlichen Verdächtigen – darunter eine Prinzessin, eine Gräfin, aber auch ein Schaffner und vermeintlich zufällig Mitreisende – zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Sie alle hatten einen Grund, Ratchett zu töten. Und sie alle kommen am Ende davon – weil Poirot den Mord von gleich acht Täterinnen und Tätern zwar als solchen nachweisen kann, es aber noch eine andere Erklärung für den Tod des Mitreisende geben könnte, der wiederum der Polizei letztlich als Wahrheit aufgetischt wird.
Den Ort des Geschehens beim Inszenieren "mit einspüren"
Zweimal also Situationen, in denen geplagte und entehrte Menschen mit einem Mord davon kommen. Und das vor der Kulisse der Stiftskirche an einem seit rund 1200 Jahre bestehenden Kirchenorts, der seit der Reformation protestantisch ist? Johannes Kaetzler, selbst in einer protestantisch praktizierenden Familie aufgewachsen, fühlt sich dem Ort zutiefst verbunden, der auf ihn "keinen Zwang" ausübe.
"Ich spüre dort das Gewesene, den genius loci", sagt der in Hamburg lebende Theatermann. Man müsse beim Inszenieren den Ort des Geschehens immer "mit einspüren", erklärt der 69-Jährige, der drei Jahre lang bei der schwedischen Film-Legende Ingmar Bergmann in die Lehre ging. Er merke aber auch, wenn die Mauern sich gegen etwas wehren, was vor ihnen stattfinden soll.
Zum Festspielprogramm gehöre daher auch selbstverständlich der Theatergottesdienst, dieses Jahr am 4. August, der auf eine Initiative der evangelischen Kirchengemeinde zurückgeht. "Der Gottesdienst ist dann auch zugleich ein Fest, bei dem noch einmal gefeiert wird, dass alles gut gegangen ist", bekennt der Intendant, der seine ersten Gehversuche als Regisseur als 15-Jähriger bei der Inszenierung eines Krippenspiels unternommen hat.
Theater an sich trage immer eine Metaphysik in sich. "Dieser Bedeutungsüberschuss rührt auch immer an dem wie auch immer zu definierendem ,Wunderbaren´. Das kann auch den Glauben beinhalten", erklärt Kaetzler. In seiner Arbeit umklammern sich Religion und Theater.
Kein Mord, aber viel Naturidyll bei "Ronja Räubertochter"
Auch wenn es hier "unter die Räuber" geht, wird bei der Adaption von Astrid Lindgrens Kinderbuch-Klassiker "Ronja Räubertochter" nicht gemordet. Und nicht einmal geraubt. Allerhöchstens besetzt, wenn Räuberhauptmann Borka mit seiner Frau Undis und Sohn Birk sich in einen einst durch Blitzschlag abgetrennten Gebäudeteil der Mattisburg einnisten, die eigentlich Räuberhauptmann Mattis mit seiner Bande bewohnt, zu der freilich auch Tochter Ronja gehört.
Juliane Krug spielt mit ungestümer Lebensfreude dieses wilde Naturmädchen, das sich in seiner erblühenden Jugend eine gewisse kindliche Naivität erhalten hat und sich beginnt, von ihrem übermächtigen Vater zu emanzipieren, nachdem sie Birk trifft und sich langsam, aber sicher in ihn verliebt. Eine Geschichte, die an Shakespeares "Romeo und Julia" erinnert, die aber am Ende gut ausgeht: Die zerteilte Burg fällt durch ein erneutes Naturereignis zusammen, wird dadurch wieder eins und schafft somit auch die Verbindung dieser zwei Räuberfamilien.
Was Theologen wie schon aus der Sicht Ronjas als "feminstische Utopie" gedeutet haben (siehe dazu Ina Praetorius Text in der Sammlung "
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