Kann man einen Untoten erschießen? Wenn Mary, die Amme der weiblichen Hauptfigur in der 1843 erstmals aufgeführten Wagner-Oper – die jüngste im Kanon der vom Meister als am Grünen Hügel aufführungswürdig erachtete – am Ende zum Gewehr greift und den rastlosen Seefahrer einfach abknallt, dann stellt sich diese Frage schon einmal rein technisch. Nach gut zwei Stunden ohne Pause schreckt man da auch als Besucherin oder Besucher noch einmal auf und wartet darauf, dass Tomasz Konieczny, der den "Holländer" in der zweiten Aufführung des "Holländers" bei den Bayreuther Festspielen am 8. August in Vertretung des erkrankten Michael Volle ausdrucksstark in Stimme und Gestik auf die Bühne bringt, doch noch aufsteht.

Und was jetzt Senta macht: Denn eigentlich hatte ihr Wagner ins Libretto geschrieben, dass sich die junge Frau für den "Holländer" vom Felsen ins Meer stürzt und den Seefahrer damit von seinem Fluch erlöst, nur alle sieben Jahre an Land kommen zu dürfen, nachdem er dem Schöpfer getrotzt und die Naturgewalten herausgefordert und verhöhnt hat. Nachdem Mary nun "Fakten geschaffen" hat, geht ihr selbst gewähltes Schicksal nicht mehr auf und sie kann nicht mehr die Erlöserin sein. Aber was macht Elisabeth Teige? Die norwegische Sängerin fällt ihrer Amme in die Arme – und alles scheint gut zu sein. Haben hier also starke Frauen über das Patriarchat gesiegt?

Ein bisschen Dürrenmatt im Rache-Szenario

Man kann zu diesem Schluss kommen in dieser Interpretation des Regisseurs Dmitri Tcherniakov, der Wagners Adaption der Sage vom Fliegenden Holländer, der mit seinem Gespensterschiff auf dem Meer um das Kap der guten Hoffnung irrt, noch eine Vorgeschichte hinzugedichtet hat, die während der Ouvertüre auf der Bühne als "seltsamer Traum des Herrn H." dargestellt wird. Darin sieht ein kleiner Junge seiner Mutter, einer Prostituierten, zu, wie diese sich immer wieder an Männer heranwirft, verstoßen und von der Gesellschaft ausgestoßen wird und sich schließlich erhängt. Vorher hatte ihr sogar der Pfarrer der kleinen Kirche, deren Turm während der sich mehrfach wandelnden Szenerie immer präsent ist, an der Türe abgewiesen.

Jahre später kommt der Junge wieder zurück – in Gestalt des erwachsenen "Holländers". Der scheint sich jetzt ein stückweit an der Gesellschaft in dem Fischerdorf rächen zu wollen. Er buhlt um Senta, die Tochter Dalands, der in der Traumsequenz vorher als einer der Liebhaber der Mutter eingeführt worden war. Da werden Anklänge an Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" wach. Daland empfängt den Fremden, ist begeistert vom Schwiegersohn in spe, vor allem, weil sich der als starker Anführer einer Schiffsmannschaft erweist. Dass es mit Erik da noch eine Jugendliebe Sentas gibt, die sich stets um die Verflossene bemüht, spielt für den Patron keine Rolle.

Senta als taffe Lady

Für Senta übrigens ebenso wenig. Die kennt von Mary das Lied vom "Holländer", verspottet allerdings im Zweiten Aufzug die singenden Mädchen, die ihren zur See gefahrenen Liebsten nachträumen, sondern inszeniert sich als taffe, selbstbestimmte junge Frau, die sich auch mal eine Zigarette anzündet und breitbeinig auf dem Stuhl sitzt. Dass Elisabeth Teige dabei aber mit einem glockenhellen und von durchdringender Kraft strahlenden Sopran singt, macht sie gleich noch sympathischer. Da ist also "was dahinter" – nicht nur Aufmüpfigkeit, sondern echte Substanz.

Diese beweist Senta auch im weiteren Verlauf des Stückes. Dem Werben des "Holländers" widersteht sie fortwährend reflektierend, aber nicht von vorne herein ablehnend – ganz im Gegensatz zu ihrem Verhalten gegenüber Erik, den sie nicht ernst zu nehmen scheint. Senta scheint hin und her gerissen zu sein zwischen Schicksal und Selbstbestimmung. Dass Mary, die sich während des Geschehens eher als brave Hausfrau zeigt, mit ihrem Schuss nicht nur selbst über diese Männerwelt emanzipiert, sondern Senta damit gleich noch eine Entscheidung abnimmt, kommt dann gerade gelegen. Im aktuellen Bayreuther "Holländer" haben die Frauen jedenfalls gewonnen.

Mitreißende Töne aus dem Orchestergraben

Auch musikalisch im Übrigen. Das gilt nicht nur für die grandiose gesangliche Leistung der weiblichen Hauptfigur. Auch im Orchestergraben schafft mit Oksana Lyniv eine Frau wunderbares. Die Musik strahlt frisch, die Tempi sind mit großer Sorgfalt gesetzt, die Dynamik mitreißend. Folgerichtig gelten ihr und Teige am Ende auch mit am meisten Applaus bei der zweiten Aufführung der romantischen Oper am 8. August.

Das hätte Richard Wagner mit Sicherheit genauso empfunden. Ob ihm angesichts des überraschenden Endes der "Bravo"-Ruf vielleicht im Halse stecken geblieben wäre, sei mal dahin gestellt. Aber man muss in Bayreuth eben mit nahezu allem rechnen.

INFO: Die Bayreuther Festspiele laufen noch bis zum 27. August. Bis zum 29. August ist in der RW21 Stadtbibliothek in Bayreuth zudem die Ausstellung "Bayreuther Festspiele - Neubeginn 1924" zu sehen, die sich auf die Wiedereröffnung der Festspiele durch Richard Wagners einzigen Sohn Siegfried im Jahr 1924 konzentriert, nachdem sie infolge des Ersten Weltkriegs für zehn Jahre unterbrochen werden mussten. Auf Wandtafeln aus Stoff werden dabei Themen wie ästhetische und technische Neuerungen bis hin zum Umgang mit Erotik beleuchtet.

Bayreuther Festspiele - Neubeginn 1924
In der RW21 Stadtbibliothek in Bayreuth ist noch bis zum 29. August die Ausstellung „Bayreuther Festspiele - Neubeginn 1924“ zu sehen.

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