Vermutlich war es eines der letzten Telegramme, die der schwer kranke Erich Kästner verschickt hat. Der Text vom 13. Mai 1974 ist kurz: "Bin mit Kinderdorfbenennung einverstanden", schreibt der bekannte Autor. Nur wenige Wochen später - am 29. Juli vor 50 Jahren - stirbt Kästner an Speiseröhrenkrebs. Seit fünf Jahrzehnten also gibt es das "Erich Kästner Kinderdorf" in Unterfranken mit verschiedenen Häusern. Es ist jedoch mehr als der Name, der die Einrichtung mit dem Schriftsteller verbindet. Im Haus Steinmühle bei Oberschwarzach lagert ein Großteil von Kästners Nachlass aus seinem Münchner Reihenhaus.

Als sie das Telegramm aus München erreichte, war die Gründerin des Kinderheims überglücklich: "Wir sind heute immer noch genauso stolz wie am Anfang", sagt Gunda Fleischhauer, inzwischen 82 Jahre alt. Sie war es, die dem damals 75-jährigen Kästner im April 1974 einen fünfseitigen handschriftlichen Brief geschrieben und um die Verwendung seines Namens gebeten hatte. "Ich bin ein Nachkriegskind, alles lag in Trümmern, kaum einer wollte über die Nazi-Zeit sprechen. Kästners Texte haben mir Zuversicht gegeben - auch, weil er sich bewusst war, dass er nicht genug getan hatte, um die Machtergreifung der Nazis zu verhindern."

In der NS-Zeit emigriert Kästner nicht ins Ausland, unter mehreren Pseudonymen schreibt er weiter

Kästner, 1899 in Dresden geboren, war persönlich dabei, als die Nazis auch die meisten seiner Bücher am 10. Mai in Berlin als "undeutsche Literatur" öffentlich verbrannten. Der Autor von "Emil und die Detektive" (1929), "Pünktchen und Anton" (1931) oder "Das fliegende Klassenzimmer" (1933) war damals bereits weltbekannt. Anders als viele andere Schriftsteller, die vom NS-Regime faktisch mit Publikationsverboten belegt wurden, emigriert Kästner nicht ins Ausland. Unter mehreren Pseudonymen schreibt Kästner weiter, unter anderem auch Drehbücher für Kinofilme. Nach 1945 engagiert sich Kästner für Frieden und Abrüstung.

Zurück nach Oberschwarzach: Rund 15 Jahre betreiben Gunda Fleischhauer und ihre Mitstreiter nun schon ihr Kinderdorf - in dem traumatisierte Kinder und Jugendliche ein neues Zuhause finden. Dann erreicht sie 1991 ein Schreiben, das ihnen fast den Boden unter den Füßen wegzieht, vor ungläubiger Freude. Die langjährige Lebensgefährtin Kästners, Luiselotte Enderle, vermacht dem Kinderdorf einen Großteil des Inventars aus dem Münchner Reihenhaus: Tausende Bücher, persönliche Dinge, Möbel und vieles mehr. Nur seine Erstausgaben, Briefe und handschriftliche Notizen und Manuskripte gehen ins Deutsche Literaturarchiv nach Marbach.

"Wir wollten eine begehbare, lebendige Bibliothek gestalten", sagt Kinderdorf-Gründerin Fleischhauer

"Nie im Leben hatten wir mit so etwas gerechnet", erinnert sich Gunda Fleischhauer. Eine Begründung dafür, dass das Kinderdorf so reicht bedacht wurde, gab es damals nicht. Enderle verfügte in ihrem Testament nur, dass der Nachlass "zur Pflege des Namens Erich Kästners" sowie "der geistigen und körperlichen Pflege der Kinder" dienen soll. Der Freude des ersten Augenblicks folgte im Kinderdorf bald rege Betriebsamkeit. Denn: Kästners Haus in München musste schnell geräumt werden, das Gebäude nämlich sollte verkauft werden. Für das Kinderdorf eine logistische Herausforderung, das Erbe abzuholen und erst einmal einzulagern.

Drei Jahre wurde in der ehemaligen Tenne der Steinmühle gearbeitet, vieles davon in Eigenleistung, um dem Nachlass Kästners einen würdigen Ort zu geben. "Wir wollten eine begehbare, lebendige Bibliothek gestalten", sagt Fleischhauer. Die 1994 eröffnete Erich-Kästner-Bibliothek sei kein steriles Museum, in dem man das Erbe eines toten Dichters aufbewahrt. In der alten Tenne leben Kästner und Enderle ein Stück weit weiter. Hier eine venezianische Eckbank, dort Kästners Schreibtisch mit Lesebrille und Schreibmaschine. Daneben ein Stuhl mit seinem Koffer und Hut. Alles echt und original, nichts hinter dicken Absperrungen oder in Vitrinen.

"Erich Kästner ist hier zuhause", sagt Fleischhauer

"Das Kinderdorf trägt seinen Namen, weil er den Kindern zugewandt war. Man kann sagen: Sein lebendiger Geist ist hier zuhause. Erich Kästner ist hier zuhause", sagt Kinderdorf-Gründerin Fleischhauer. Und zu Kästner gehört auch seine Privatbibliothek. Darin finden sich auch die jährlichen Buchgeschenke von Kästners Vater an seinen Sohn oder besondere Bücher, etwa eine uralte Schmuckausgabe von Sir James Matthew Barries "Peter Pan". Ganz nebenbei entdecke man auch zutiefst Menschliches, sagt Fleischhauer. Neben Notizen in den Büchern hat sie einen - vermutlich als Lesezeichen zweckentfremdeten - Einkaufszettel gefunden.

Spannend ist die Bibliothek nicht nur für die Mitarbeiter oder die Kinder und Jugendlichen, die im Kinderheim leben. "Uns allen ist sehr bewusst, was für ein Schatz in unserer Mitte lagert", sagt Tanja Wehner, die heute im Kinderheim arbeitet und früher selbst dort gelebt hat. Immer wieder kommen Gäste vorbei. Viele Jahre etwa ein Münchner Kellner aus Kästners einstigem Lieblingscafé, weil er seinem Stammgast nahe sein wollte. Oder auch ein Student aus den USA, der zum Quellenstudium für seine Abschlussarbeit vorbeikam. Die häufigsten Gäste aber sind die Heimkinder selbst. "Für sie ist die Bibliothek ein Stück Heimat", sagt Wehner.

Information

Die Erich-Kästner-Bibliothek kann nur nach Anmeldung besucht werden. Tel: 09382/6954, E-Mail: steinmuehle@erich-kaestner-kinderdorf.de

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden