Athosland liegt in Bernried

"Euward" – ein Kunstwort, in dem "Europa" und "Award" stecken. "Euward" – ein Preis für die Kunst von Menschen mit geistiger Behinderung. Bereits zum siebten Mal seit seiner Gründung im Jahr 2000 wurde er vergeben. Die besten Werke des "euward 7" sind bis 9. September in einer sehenswerten Schau im Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See ausgestellt. Herzstück der Schau: das Lebenswerk des Preisträgers Michael Golz – die in 44 Jahren entstandene gewaltige Landkarte seines imaginierten "Athoslands".

Auch für Michael Golz aus Mülheim an der Ruhr ist die Ausstellung eine Premiere: Seit 1974 arbeitet er an seinen "Athoslandkarten". Lange Zeit hat der 1957 geborene Golz sie geheim gehalten und in Aktenordnern mit sich herumgetragen. Ganz ausgebreitet hat er die Karte noch nie gesehen. Im August wird er auf der Galerie oberhalb des großen Ausstellungssaals im Buchheim-Museum an dem Projekt weiterarbeiten und steht dabei auch für Gespräche über sein Werk zur Verfügung.

Trailer zur Lebensformen-Sendung vom 25. August 2018 (17 Uhr, Sat.1 Regional): Kurzinterviews mit »euward«-Initiator und Kurator Klaus Mecherlein sowie mit Schauspieler und »euward«-Schirmherr Edgar Selge.

Ein Film von Sally Büthe.

Kartiertes Leben

Über inzwischen fast 150 Quadratmeter erstreckt sich das Lebenswerk, das Michael Golz in 44 Jahren geschaffen hat. Dabei ist seine Karte nur eine Art Zugangsportal zu einer imaginierten Welt, zum Tagebuch eines Lebens: Schlüsselnummern auf der Karte verweisen auf weitere Handzeichnungen, die wie mit dem Zoom sich dem Boden des Athoslands immer weiter annähern und einen Blick auf immer weitere Details ermöglichen.

Die Landkarte steht im Zentrum der trefflich inszenierten Euward-Ausstellung, die den Ausflug nach Bernried am Starnberger See unbedingt lohnt. Präsentiert werden neben den vier Preisträgern auch Werke von 13 weiteren Wettbewerbsteilnehmern. Insgesamt reichten 250 Künstler aus 15 Ländern Arbeiten beim "euward 7" ein.

Keine Frage: Der inzwischen 18 Jahre alte Euward ist eine Erfolgsgeschichte. Aber ist der Kunstpreis so erfolgreich und "erwachsen", weil Inklusion in der Kunst und die Kunst von Menschen mit Behinderung heute selbstverständlich dazugehören? Oder vielleicht doch eher, weil dieser Preis weiterhin so ungewöhnlich, ja einzigartig ist? Diese Frage ist nur schwer zu beantworten.

»euward 7«: Blick in die Ausstellung im »Buchheim Museum der Phantasie« in Bernried.
»euward 7«: Blick in die Ausstellung im »Buchheim Museum der Phantasie« in Bernried.
Die »Athosland«-Karte von Michael Golz im Buchheim-Museum Bernried von oben (Ausschnitt).
Dieser Blick bietet sich dem Künstler Michael Golz auf sein Werk, wenn er von der Galerie im Buchheim-Museum herunter sieht: Im August wird Golz dort arbeiten und mit Besuchern über seine »Athosland«-Karte ins Gespräch kommen.
Buchheim Museum der Phantasie Bernried - Galerie über dem großen Saal.
Auf der Galerie über dem großen Saal mit der Euward-Ausstellung wird Preisträger Michael Golz vom 5. bis zu 12. August an seinem »Athosland«-Projekt arbeiten.
»euward 7« 2018 - Ausstellung im Buchheim Museum der Phantasie in Bernried - Karte »Athosland« von Michael Golz.
Herzstück der »Euward«-Ausstellung 2018 Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See ist das Lebenswerk des Preisträgers Michael Golz – die in 44 Jahren entstandene gewaltige Landkarte des imaginierten »Athoslands«. Der »Euward« ist ein Preis für die Kunst von Menschen mit geistiger Behinderung. Seit seiner Gründung im Jahr 2000 wurde er nun zum siebten Mal vergeben.
Michael Golz - Detail der Athoslandkarte
Ausschnitt aus der fast 150 Quadratmeter großen »Athosland«-Karte von Michael Golz. Sie ist das Herzstück der »euward 7«-Ausstellung im Buchheim-Museum Bernried im Sommer 2018.
»Athosland« von Michael Golz.
»Athosland« besteht aus unzähligen Einzelblättern - und noch mehr Details.
»Athosland« von Michael Golz.
»Athosland« von Michael Golz.
Michael Golz - Athosland-Detail Rockshow '84
Schlüsselnummern auf der »Athosland«-Karte von Michael Golz verweisen auf weitere Handzeichnungen, die wie mit dem Zoom sich dem Boden des Athoslands immer weiter annähern und einen Blick auf immer mehr Details und Geschichten ermöglichen.
euward 7 - Ota Prouza 1
Großformatiges, abstraktes Figurenwerk auf langen, endlos scheinenden, schwebenden Bändern – das sind die Arbeiten des Künstlers Ota Prouza, der seit mehr als 50 Jahren in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung im tschechischen Brtníky lebt. Oben ist die Arbeit in voller Länge oder vielmehr Breite, unten ein Detail aus ihr abgebildet.
euward 7 - Ota Prouza 2
Ota Prouza lebt seit mehr als 50 Jahren in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung im tschechischen Brtníky. Oben ist eine weitere seiner Arbeiten in voller Breite, unten ein Detail aus ihr abgebildet.
euward 7 - Ota Prouza 3
Ota Prouza lebt seit mehr als 50 Jahren in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung im tschechischen Brtníky. Oben ist eine weitere seiner Arbeiten in voller Breite, unten ein Detail aus ihr abgebildet.
Die »Verkehrsbahnen« von Ota Prouza, wie sie im Buchheim-Museum ausgestellt sind. Links: Klebearbeiten von Wolfgang Bauer aus dem Atelier Pater-Rupert-Mayer-Zentrum in Regensburg.
Die »Verkehrsbahnen« von Ota Prouza, wie sie im Buchheim-Museum ausgestellt sind. Links: Klebearbeiten von Wolfgang Bauer aus dem Atelier Pater-Rupert-Mayer-Zentrum in Regensburg.
Clemens Wild - drei Frauen (Sabine, Anjuli, Susan)
»Erinnern Sie sich?«: Sabine, eine reitende Kollegin aus der Werkstatt »rohling«; Anjuli, eine in der Werkstatt hängengebliebene Migrantin; Susan, eine Sonderpädagogin aus dem »Krähennest« - drei Frauengeschichten von Clemens Wild.
Clemens Wild: »Ich bin Anna«.
»Ich bin Anna, ich bin verdingt worden«: Cartoon-artig gezeichnete, mit Text ausgefüllte Sozialreportagen über Menschen aus seinem Alltag produziert der Schweizer Clemens Wild.
Clemens Wild: »My Name Is Olga«.
»My name is Olga ... on Sundays I walk to church in next town«: Cartoon-artig gezeichnete, mit Text ausgefüllte Sozialreportagen über Menschen aus seinem Alltag produziert der Schweizer Clemens Wild.
Tim ter Wal: Stahlwerk am Hafen.
Eine ganze Hafenstadt im fotografisch detaillierten Blick hat der Niederländer Tim ter Wal minutiös hingestrichelt.
Tim ter Wal: Alte Fabrik.
»Erschütternde Detailfülle«: Tim ter Wal, Alte Fabrik.
Rob van den Boom - Flugzeuge
Rob van den Boom aus Purmerend in den Niederlanden arbeitet in »Fred's Kunstatelier & Kadoshop«.
Geert Savelberg - Autos
Geert Savelberg aus Maastricht in den Niederlanden arbeitet im Atelier »Ut Glaashoes«.
Geert Savelberg - Verkehr
Verkehr ist das Thema von Geert Savelberg aus Maastricht.
Christian Rebhan - Rollatoren
Arbeiten von Christian Rebhan aus der Kunstwerkstatt Gmunden am Traunsee im Salzkammergut.
Bilder von Markus Buchser.
Arbeiten von Markus Buchser aus der Kreativwerkstatt Bürgerspital in Basel. In Bernried zu sehen sind die Werke von 17 Künstlerinnen und Künstlern aus ganz Europa.
Bild von Markus Buchser
Bild von Markus Buchser aus Basel. Insgesamt reichten 250 Künstlerinnen und Künstler aus 15 Ländern Arbeiten beim »euward 7« ein.
Buchheim Museum der Phantasie Bernried: das Fußballtor im Museumspark.
»Buchheim Museum der Phantasie« in Bernried am Starnberger See: das Fußballtor im Museumspark.
Blick auf das »Museum der Phantasie« von Lothar Günther Buchheim und auf den Starnberger See.
Blick auf das »Museum der Phantasie« von Lothar Günther Buchheim und auf den Starnberger See.
Buchheim Museum der Phantasie Bernried - Blick auf den »Steg«
»Buchheim Museum der Phantasie« in Bernried: Blick aus der »euward«-Ausstellung auf den »Steg«, der aus dem Museum zum Starnberger See führt. Entworfen hat den Museumsbau der Architekt Günter Behnisch, der einst auch das Olympiastadion in München entwarf. Sein Anliegen: die Natur in das Museum zu holen und das Museum in die Natur einzufügen.

Die Außenseiter der "Outsider Art"

Fest steht: Viele Euward-Einreichungen kommen aus einer etablierten und wachsenden "Szene", aus Ateliers für Künstler mit geistiger Behinderung aus ganz Europa wie dem Münchner Heilpädagogischen Centrum Augustinum (HPCA) des Euward-Initiators und Ausstellungskurators Klaus Mecherlein, dem Atelier Rohling in der Schweiz oder der Kunstwerkstatt Gmunden in Österreich. Für sie ist der Euward die erste und meist einzige Adresse.

Eine Art Kartierungsprojekt sind auch die Arbeiten des Tschechen Ota Prouza (geb. 1959), den die Jury mit dem zweite Preis bedacht hat. Aus verzerrter Vogelperspektive schafft er auf meterlangen Papierbahnen mit Farbstiftstrichen die Straßenschluchten einer imaginären Großstadt.

Prouza lebt seit mehr als 50 Jahren in einer Behinderteneinrichtung in Nordböhmen. Lesen und schreiben kann er kaum. Erst spät in seinem Leben wurde er als Künstler mit seiner unverwechselbaren Formensprache erkannt.

Als "wirkliche Outsider" jenseits gebahnter Kunstwege würdigte deshalb Kuratoriumsmitglied Monika Jagfeld, Kunsthistorikerin und Leiterin des Museums schweizerische Naive Kunst und Art Brut in St. Gallen, die Preisträger Golz und Prouza. Ihre Arbeiten hätten die beiden völlig unabhängig von jeglicher Begleitung oder Förderung begonnen und seien nur durch Zufall entdeckt worden. Sie rief dazu auf, "aufmerksam zu bleiben für jedes Kunstschaffen, das abseits entsteht, ohne dass es zuvor eine Zuordnung gibt".

Prinzip der inneren Notwendigkeit

Für Museums-Chef Daniel Schreiber entspricht die Euward-Kunst "ureigen", was der Sammler und Museumsgründer Lothar Günther Buchheim (1918-2007) suchte und wollte: Expressionismus. Die romantische Perspektive einer "rohen, unverbildeten Kunst ist aber Käse", so Schreiber. Viel treffender sei der Begriff "Outsider Art", Außenseiterkunst, weil das lediglich etwas über die Ausgangsbedingungen der Künstler aussage.

Mit einem Sonderpreis hat die Jury die Arbeiten des niederländischen autistischen Künstlers Tim ter Wal ausgezeichnet. Seine aus Kindheitserinnerungen aus dem Gedächtnis geschaffenen Bleistiftzeichnungen von Industrielandschaften sind von einer "geradezu erschütternden Detailfülle" (Mecherlein).

Auf ihnen – wie bei den meisten anderen ausgestellten Arbeiten – versinkt der Blick nach innen, in die "innere Notwendigkeit" der Künstler und ihrer Kunstproduktion. Der russische Künstler Wassily Kandinsky, Mitbegründer des "Blauen Reiter", formulierte das "Prinzip der inneren Notwendigkeit" vor 100 Jahren als Grundlage modernen, expressiven Kunstschaffens.

Menschliche Gestalten, kommunikative Perspektiven, wie sie die Arbeiten des Schweizers Clemens Wild (geb. 1964; dritter Preis) zeigen, sind in der Ausstellung seltener. Wilds kommentierte Bilder von Frauenfiguren aus seiner Heimumgebung schaffen ein Panoptikum von Putzfrauen, Sozialarbeiterinnen, Kunsttherapeutinnen, Heimbewohnern und ihren teils reportagehaft wiedergegebenen, teils skurril imaginierten Lebensgeschichten. So entsteht eine Sozialreportage, die in einer ganz eigenen Sprache von Ausgrenzung und Diskriminierung erzählt.

Was heißt eigentlich Inklusion?

Auch wenn die Kunst dieser Künstler ganz einfach als Kunst "funktioniert" – Inklusion ist und bleibt das Euward-Thema. Ein inklusives Konzept verfolgt deshalb auch der vierteilige Katalog zur Ausstellung und für die drei Preisträger. Um möglichst vielen Menschen einen Zugang zur Kunst und den Arbeiten der Ausstellungen zu eröffnen, haben Menschen im Alter zwischen 10 und 94 Jahren, mit Autismus, Lernbehinderung oder ohne, Studenten, Grafiker, Menschen mit kunstgeschichtlicher Bildung und ohne, daran mitgearbeitet, wie Klaus Mecherlein nicht ohne Stolz berichtet.

Schauspieler Edgar Selge hat bereits zum zweiten Mal nach 2014 die Schirmherrschaft über den Kunstpreis übernommen. Das Thema Inklusion liegt Selge beim Euward am Herzen: im ganz konkreten, aber auch in einem weiteren, politischen Sinn. "Diese Bilder spiegeln sehr scharfsichtig das Gefühl des Fremdseins in unserer Welt, sie provozieren sinnlich und emotional", sagt Selge bei der Ausstellungseröffnung über die im Buchheim-Museum gezeigten Werke.

Sympathie für "andere" Perspektiven

Selge stammt aus einem kirchlich-evangelischen Elternhaus und bezeichnet sich selbst als religiös. Selge ist damit vielleicht kein Außenseiter im Theater- und Schauspielbetrieb, aber doch einer mit Sympathie für "andere" Perspektiven. Zur Euward-Preisverleihung in Bernried ist auch seine Frau Franziska Walser, Tochter des Schriftsteller-Granden Martin Walser, an seiner Seite. Die beiden haben sich auf der Schauspielschule in München kennengelernt und sind seit inzwischen fast 40 Jahren ein Paar.

Im März ist Selge 70 Jahre alt geworden. Wer ihn wie jüngst in den Münchner Kammerspielen bei seinem Ein-Mann-Abend "Unterwerfung" nach dem Roman von Michel Houellebecq erlebt, ist fasziniert von der enormen auch physischen Präsenz des Schauspielers. Um wachsende Spaltungen, Demokratiemüdigkeit, religiöse Leerflächen in den westlichen Gesellschaften geht es in dem Stück, für das Selge bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Über den Euward sagt der Schauspieler: "Diese Bilder ermutigen mich, sie zeigen mir, dass alles, was mir wirklich wichtig ist, etwas ist, das ich mit anderen Menschen teile." Und er ergänzt: "Diese europäische Ausstellung ist ein guter Anlass, noch einmal grundsätzlich neu über Inklusion und Ansätze für ein kommunikativeres Zusammenleben nachzudenken."

INFO & TERMINE

Info

"Buchheim Museum der Phantasie", Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr 
www.buchheimmuseum.de

Termine

4.-12. August: Michael Golz arbeitet tagsüber auf der kleinen Galerie im Museum

5. August, 15 Uhr: Alexandra von Gersdorff-Bultmann im Gespräch mit Michael Golz (Übersetzung in Gebärdensprache)

26. August, 15 Uhr: Dr. Markus Landert im Dialog mit Michael Golz. Expertenführung (Übersetzung in Gebärdensprache)

9. September, 15 Uhr: Verleihung des Publikumspreises und Musik, Finissage (Übersetzung in Gebärdensprache)