Athosland liegt in Bernried
"Euward" – ein Kunstwort, in dem "Europa" und "Award" stecken. "Euward" – ein Preis für die Kunst von Menschen mit geistiger Behinderung. Bereits zum siebten Mal seit seiner Gründung im Jahr 2000 wurde er vergeben. Die besten Werke des "euward 7" sind bis 9. September in einer sehenswerten Schau im Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See ausgestellt. Herzstück der Schau: das Lebenswerk des Preisträgers Michael Golz – die in 44 Jahren entstandene gewaltige Landkarte seines imaginierten "Athoslands".
Auch für Michael Golz aus Mülheim an der Ruhr ist die Ausstellung eine Premiere: Seit 1974 arbeitet er an seinen "Athoslandkarten". Lange Zeit hat der 1957 geborene Golz sie geheim gehalten und in Aktenordnern mit sich herumgetragen. Ganz ausgebreitet hat er die Karte noch nie gesehen. Im August wird er auf der Galerie oberhalb des großen Ausstellungssaals im Buchheim-Museum an dem Projekt weiterarbeiten und steht dabei auch für Gespräche über sein Werk zur Verfügung.
Ein Film von Sally Büthe.
Kartiertes Leben
Über inzwischen fast 150 Quadratmeter erstreckt sich das Lebenswerk, das Michael Golz in 44 Jahren geschaffen hat. Dabei ist seine Karte nur eine Art Zugangsportal zu einer imaginierten Welt, zum Tagebuch eines Lebens: Schlüsselnummern auf der Karte verweisen auf weitere Handzeichnungen, die wie mit dem Zoom sich dem Boden des Athoslands immer weiter annähern und einen Blick auf immer weitere Details ermöglichen.
Die Landkarte steht im Zentrum der trefflich inszenierten Euward-Ausstellung, die den Ausflug nach Bernried am Starnberger See unbedingt lohnt. Präsentiert werden neben den vier Preisträgern auch Werke von 13 weiteren Wettbewerbsteilnehmern. Insgesamt reichten 250 Künstler aus 15 Ländern Arbeiten beim "euward 7" ein.
Keine Frage: Der inzwischen 18 Jahre alte Euward ist eine Erfolgsgeschichte. Aber ist der Kunstpreis so erfolgreich und "erwachsen", weil Inklusion in der Kunst und die Kunst von Menschen mit Behinderung heute selbstverständlich dazugehören? Oder vielleicht doch eher, weil dieser Preis weiterhin so ungewöhnlich, ja einzigartig ist? Diese Frage ist nur schwer zu beantworten.
Die Außenseiter der "Outsider Art"
Fest steht: Viele Euward-Einreichungen kommen aus einer etablierten und wachsenden "Szene", aus Ateliers für Künstler mit geistiger Behinderung aus ganz Europa wie dem Münchner Heilpädagogischen Centrum Augustinum (HPCA) des Euward-Initiators und Ausstellungskurators Klaus Mecherlein, dem Atelier Rohling in der Schweiz oder der Kunstwerkstatt Gmunden in Österreich. Für sie ist der Euward die erste und meist einzige Adresse.
Eine Art Kartierungsprojekt sind auch die Arbeiten des Tschechen Ota Prouza (geb. 1959), den die Jury mit dem zweite Preis bedacht hat. Aus verzerrter Vogelperspektive schafft er auf meterlangen Papierbahnen mit Farbstiftstrichen die Straßenschluchten einer imaginären Großstadt.
Prouza lebt seit mehr als 50 Jahren in einer Behinderteneinrichtung in Nordböhmen. Lesen und schreiben kann er kaum. Erst spät in seinem Leben wurde er als Künstler mit seiner unverwechselbaren Formensprache erkannt.
Als "wirkliche Outsider" jenseits gebahnter Kunstwege würdigte deshalb Kuratoriumsmitglied Monika Jagfeld, Kunsthistorikerin und Leiterin des Museums schweizerische Naive Kunst und Art Brut in St. Gallen, die Preisträger Golz und Prouza. Ihre Arbeiten hätten die beiden völlig unabhängig von jeglicher Begleitung oder Förderung begonnen und seien nur durch Zufall entdeckt worden. Sie rief dazu auf, "aufmerksam zu bleiben für jedes Kunstschaffen, das abseits entsteht, ohne dass es zuvor eine Zuordnung gibt".
Prinzip der inneren Notwendigkeit
Für Museums-Chef Daniel Schreiber entspricht die Euward-Kunst "ureigen", was der Sammler und Museumsgründer Lothar Günther Buchheim (1918-2007) suchte und wollte: Expressionismus. Die romantische Perspektive einer "rohen, unverbildeten Kunst ist aber Käse", so Schreiber. Viel treffender sei der Begriff "Outsider Art", Außenseiterkunst, weil das lediglich etwas über die Ausgangsbedingungen der Künstler aussage.
Mit einem Sonderpreis hat die Jury die Arbeiten des niederländischen autistischen Künstlers Tim ter Wal ausgezeichnet. Seine aus Kindheitserinnerungen aus dem Gedächtnis geschaffenen Bleistiftzeichnungen von Industrielandschaften sind von einer "geradezu erschütternden Detailfülle" (Mecherlein).
Auf ihnen – wie bei den meisten anderen ausgestellten Arbeiten – versinkt der Blick nach innen, in die "innere Notwendigkeit" der Künstler und ihrer Kunstproduktion. Der russische Künstler Wassily Kandinsky, Mitbegründer des "Blauen Reiter", formulierte das "Prinzip der inneren Notwendigkeit" vor 100 Jahren als Grundlage modernen, expressiven Kunstschaffens.
Menschliche Gestalten, kommunikative Perspektiven, wie sie die Arbeiten des Schweizers Clemens Wild (geb. 1964; dritter Preis) zeigen, sind in der Ausstellung seltener. Wilds kommentierte Bilder von Frauenfiguren aus seiner Heimumgebung schaffen ein Panoptikum von Putzfrauen, Sozialarbeiterinnen, Kunsttherapeutinnen, Heimbewohnern und ihren teils reportagehaft wiedergegebenen, teils skurril imaginierten Lebensgeschichten. So entsteht eine Sozialreportage, die in einer ganz eigenen Sprache von Ausgrenzung und Diskriminierung erzählt.
Was heißt eigentlich Inklusion?
Auch wenn die Kunst dieser Künstler ganz einfach als Kunst "funktioniert" – Inklusion ist und bleibt das Euward-Thema. Ein inklusives Konzept verfolgt deshalb auch der vierteilige Katalog zur Ausstellung und für die drei Preisträger. Um möglichst vielen Menschen einen Zugang zur Kunst und den Arbeiten der Ausstellungen zu eröffnen, haben Menschen im Alter zwischen 10 und 94 Jahren, mit Autismus, Lernbehinderung oder ohne, Studenten, Grafiker, Menschen mit kunstgeschichtlicher Bildung und ohne, daran mitgearbeitet, wie Klaus Mecherlein nicht ohne Stolz berichtet.
Schauspieler Edgar Selge hat bereits zum zweiten Mal nach 2014 die Schirmherrschaft über den Kunstpreis übernommen. Das Thema Inklusion liegt Selge beim Euward am Herzen: im ganz konkreten, aber auch in einem weiteren, politischen Sinn. "Diese Bilder spiegeln sehr scharfsichtig das Gefühl des Fremdseins in unserer Welt, sie provozieren sinnlich und emotional", sagt Selge bei der Ausstellungseröffnung über die im Buchheim-Museum gezeigten Werke.
Sympathie für "andere" Perspektiven
Selge stammt aus einem kirchlich-evangelischen Elternhaus und bezeichnet sich selbst als religiös. Selge ist damit vielleicht kein Außenseiter im Theater- und Schauspielbetrieb, aber doch einer mit Sympathie für "andere" Perspektiven. Zur Euward-Preisverleihung in Bernried ist auch seine Frau Franziska Walser, Tochter des Schriftsteller-Granden Martin Walser, an seiner Seite. Die beiden haben sich auf der Schauspielschule in München kennengelernt und sind seit inzwischen fast 40 Jahren ein Paar.
Im März ist Selge 70 Jahre alt geworden. Wer ihn wie jüngst in den Münchner Kammerspielen bei seinem Ein-Mann-Abend "Unterwerfung" nach dem Roman von Michel Houellebecq erlebt, ist fasziniert von der enormen auch physischen Präsenz des Schauspielers. Um wachsende Spaltungen, Demokratiemüdigkeit, religiöse Leerflächen in den westlichen Gesellschaften geht es in dem Stück, für das Selge bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Über den Euward sagt der Schauspieler: "Diese Bilder ermutigen mich, sie zeigen mir, dass alles, was mir wirklich wichtig ist, etwas ist, das ich mit anderen Menschen teile." Und er ergänzt: "Diese europäische Ausstellung ist ein guter Anlass, noch einmal grundsätzlich neu über Inklusion und Ansätze für ein kommunikativeres Zusammenleben nachzudenken."
INFO & TERMINE
Info
"Buchheim Museum der Phantasie", Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr
www.buchheimmuseum.de
Termine
4.-12. August: Michael Golz arbeitet tagsüber auf der kleinen Galerie im Museum
5. August, 15 Uhr: Alexandra von Gersdorff-Bultmann im Gespräch mit Michael Golz (Übersetzung in Gebärdensprache)
26. August, 15 Uhr: Dr. Markus Landert im Dialog mit Michael Golz. Expertenführung (Übersetzung in Gebärdensprache)
9. September, 15 Uhr: Verleihung des Publikumspreises und Musik, Finissage (Übersetzung in Gebärdensprache)