Das Musikfest ION verwandelt vom 27. Juni bis 6. Juli erneut die Nürnberger Altstadt in eine Bühne für geistliche Musik. Unter dem Motto "Wo ist Frieden?" präsentiert das Festival ein stilistisch offenes Programm mit internationalen Künstlerinnen und Künstlern in den historischen Kirchen der Stadt. Intendant Moritz Puschke erzählt, was ihn antreibt – und warum es ihn freut, wenn Menschen verändert aus einem Konzert kommen.
Herr Puschke, Sie haben einmal gesagt, bei der ION müsste der "Elias" von Mendelssohn genauso auf dem Programm stehen können wie ein Pop-Projekt. Erklären Sie doch mal Ihre Festival- Philosophie genauer.
Moritz Puschke: Das klingt jetzt vielleicht simpel, aber ich will einfach viele Menschen direkt erreichen. Für mich ist Musik immer schon auch Kirchenmusik. Oder besser: Musik in Kirchen, die eine spirituelle Erfahrung ermöglichen kann. Das war für mich ja nie abgetrennt von aktueller Musik oder von dem, was irgendwie relevant ist oder populär. Das hat sich nur so auseinanderentwickelt. Denken Sie an das 17. und 18. Jahrhundert. Da war das ja auch die Musik der Zeit. Die Choräle waren die Top-Hits, die jeder kannte. Eigentlich finde ich es ganz normal, wenn sich Kirchenräume wieder mehr öffnen zum Sound der Gegenwart und hin zu Liedern und Songs, mit denen sich die Menschen im Alltag beschäftigen.
Weil es vielleicht auch immer wieder dieselben Themen sind, die berühren?
Frieden, Zuversicht, Trost, Hoffnung, Einkehr, die Sehnsucht nach spiritueller Erfahrung – diese Themen sind gegenwärtig und werden von ganz vielen Musikern jeden Alters immer wieder gesucht und in neuen Songs oder in neuen Werken beschrieben. Aber diese Themen sind natürlich auch in den traditionellen, kanonischen Werken zu finden. Jede Generation richtet neue Fragen an ihre Zeit. Da ist es für mich nur logisch, dass sich auch die Musik bewegt und neu befragt wird. Neues kommt hinzu, anders wirkt überholt und kann mal ein paar Jahre ruhen... Ich fühle mich eigentlich immer wie ein Sammler, der danach schaut, wo diese ganzen Themen gerade gespielt werden. Wer befasst sich damit? Wer zweifelt? Wer fragt? Wer hat eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Thema Kirche, mit dem Thema Räume? Und bestenfalls werde ich dann zum Schatzsucher und finde Musikerinnen und Musiker oder Ensembles, die Lust darauf haben, sich auf diese Themen einzulassen. Und das kann dann ein Spezialensemble für Frühbarock sein oder ein Singer/Songwriter, ein Chor oder ein Jazz-Quartett.
Und diese Leute kommen immer wieder gerne nach Nürnberg?
Auch das klingt möglicherweise einfach, aber es ist so: Nach Nürnberg zum Musikfest ION kommen Leute, die Lust haben mit mir zu reden, die mehr wollen, als nur mit einer Stellprobe ein Konzert zu spielen, sondern die vielleicht schon im Winter vorher vorbeikommen darauf achten, was da eigentlich für Gegebenheiten und Räume sind. Und die auch noch mal überlegen: Die Stücke, wie ich sie bisher gespielt habe oder das Werk, wie ich das bisher aufgeführt habe – wenn ich das in Nürnberg aufführe beim Musikfest ION, dann lasse ich mich vielleicht noch mal ganz auf was ganz anderes ein, passe meine Interpretation an und mache ein echtes Nürnberger Ereignis da draus. Und wenn diese Vertrautheit der Künstlerinnen und Künstler mit der Stadt, den Räume und uns als Team erreicht ist, dann kann den Besucherinnen und Besuchern voller Überzeugung, mit Freude und Lust sagen: Du musst zum Musikfest ION zum Konzert kommen, nach St. Sebald oder nach St. Lorenz, denn hier passiert was, das so gut und einzigartig ist in der Interpretation und was Dich möglicherweise tief berühren wird –vollkommen unabhängig davon, ob, wie und was du glaubst. Ich sage letztlich dem Publikum das Gleiche wie den Künstlerinnen und Künstlern: Du bist willkommen, lass Dich auf den Raum und die Musik ein, genieße die Begegnungen und Gefühle im Konzert und sei dabei, wenn es in Nürnberg im Sommer 10 Tage Festivalrausch gibt.
Der Festival-Gast soll also in einer viel tieferen Form berührt werden als gewöhnt?
Ich muss die Leute ja irgendwo erwischen mit etwas, das sie aus ihrem Alltag rausholt, das sie berührt oder bewegt oder aufrüttelt. So habe ich es im letzten Festival erlebt. Ob bei "Knockin‘ on heaven’s door", gesungen von Wolfgang Niedecken oder beim Brahms-Requiem mit Frieder Bernius: Die Kirchen waren bis auf den letzten Platz gefüllt und viele Menschen waren zu Tränen gerührt. Sie sind verändert aus dem Konzert gegangen. Das interessiert mich, die Leute abzuholen und zu sagen: "Hey, lass Dich mal auf zwei Stunden Musik in dieser Kirche ein, lass Dich auf diese Räume ein und auf die besonderen Interpretationen. Du kriegst hier einen Niedecken oder einen Bernius, sag ich jetzt mal ganz frech, in Deutschland sonst nirgends wie beim Musikfest ION".
Es gibt dann ja noch die Mitsingprojekte für Kinder und Erwachsene. Wie wichtig sind die für das Festival?
Sehr wichtig. Immer wieder begeistern mich die jungen Interpreten, Schülerinnen und Schüler, die bei "Sing Bach" oder "Sing Beethoven" mitgemacht haben. Jedes Jahr 250 Kinder aus heterogenen Bevölkerungsschichten, multireligiös und multinational, mit allen Eltern und Geschwistern und Verwandten. Jedes Jahr zwei Aufführung á 600 Gäste, also 1200 pro Jahrgang, die bisher nichts mit Kirchenmusik zu tun haben, die das ihr ganzes Leben lang nicht vergessen. Ich denke an das Projekt mit Mendelssohns "Lobgesang", dirigiert von Ingrid Kasper. 500 Leute, große Literatur, Nürnberger Symphoniker, tolle Starsolisten und eine Landeskirchenmusikerin dirigiert zwei Proben, dann kommt schon Aufführung mit hunderten Sängerinnen und Sängern in der Gustav-Adolf-Gedächtniskirche in der Nürnberger Südstadt. Das ist doch unglaublich, oder? Ich habe die Projektteilnehmer auch gefragt, wo sie herkommen. Da waren Leute aus Nürnberg und ganz Bayern dabei, aber auch aus Thüringen und Hessen. Die nahmen 250 Kilometer und mehr nach Nürnberg auf sich, um dieses Gemeinschaftserlebnis zu haben, gerade in Zeiten, in denen die Kantoreien zu Hause vielleicht etwas in der Krise sind oder allgemein das Chorsterben im ländlichen Raum diesen Menschen keinen direkten Zugang zum Singen mehr ermöglicht. Oder sie sind irgendwie auf der Suche nach einem anderen musikalischen Erlebnis. Dann entsteht so eine Community, die sich gegenseitig anstachelt und sich an dem großen Klang berauscht. Es ist auch nicht so, dass ich unseren Gästen irgendetwas Niedrigschwelliges und Leichtes anbiete. Auch nicht den Kindern. Da muss man richtig was dafür tun, man schwitzt, kommt an seine Grenzen. Ich glaube, diese Herausforderung suchen viele Leute. Und sie suchen Gemeinschaft in diesen Zeiten. Und die bieten wir den Menschen an, mitunter auf unkonventionelle Art und Weise. Und was mein Team und ich an Rückmeldungen bekommen, direkt nach dem Konzert, in Emails später oder in Kommentaren unseren Social-Media-Kanälen belegt: Gemeinschaft, Glück, Nähe, Qualität, Teilhabe und atemberaubende Räume sind die Hauptgründe dafür, dass sich unsere Besucherinnen und Besucher bei uns wohl fühlen.
Schlägt sich das auch in den Ticketverkäufen nieder?
Oh ja! Wir haben die Verkäufe im Vergleich zu den Jahren vor meiner Intendanz verdreifacht. Und das gegen den bundesweiten Trend. Es gibt immer mehr Leute, die mehrere Konzerte besuchen. Unsere Gäste kommen natürlich aus Nürnberg, aber reisen immer mehr aus Bayern und dem gesamten Bundesgebiet an. Letztes Jahr hatten wir herzliche Begegnungen mit Gästen aus Kanada und Neuseeland. Die Entwicklung des Festivals ist sehr beglückend. Am Ende des Tages ist Relevanzwichtig, das steht so auch in jedem Förderantrag drin. Und Relevanz zeigt sich auch darin, ob die Konzerte voll sind oder nicht.
Worin liegt dieser Erfolg wohl begründet?
Dass ein Typ wie ich, der einfach das macht, was ich als was ganz Normales empfinde, so einen Erfolg hat, das kann ich nur schlecht erklären, weil das bedeuten würde, man könnte es irgendwie covern. Ich bin stilistisch offen. Ich lade tolle Leute ein. Ich bin selbst begeistert und stecke mit dieser Begeisterung alle an. Ich begeistere gern das Publikum und ich bin mit meinem ganzen Team im Grunde rund um die Uhr sichtbar und im Dialog mit den Gästen. Das ist eine Art Pandemie des Glücks und der Begeisterung! Nürnberg bietet meiner Idee eines lebendigen, zeitgemäßen und vielfältigen Festivals sehr gute Bedingungen. Natürlich ringen wir mit Förderern um Geld und es ist jedes Jahr eine große Anstrengung, mit vergleichsweise bescheidenen Mitteln ein bundesweit konkurrenzfähiges Programm anbieten zu können. Aber was wir eben in besonderem Maße haben, sind Zeit und Räume. Wir wollen ermöglichen, dass Künstlerinnen und Künstler intensive Beziehungen zur Stadt und zu den Kirchen als ihren Konzertorten aufbauen. Denn das spüren dann unsere Gäste im Konzert, dass hier höhere Intensität ist. Das führt auch dazu, dass ich mit bestimmten Ensembles immer wieder zusammenarbeite. Und ja, ich bin mir ganz sicher, dass das ein total nachhaltiger Effekt ist.
Gibt es aber auch Grenzen, No-Gos oder ähnliches?
So ein Festivalprogramm muss mit Liebe gemacht sein, und solange das gilt, gibt es eigentlich keine Grenzen. Es muss Authentizität rein. Und natürlich nehme ich für mich in Anspruch, nach jetzt 25 Jahren im Musikgeschäft, nachdem ich selbst in Vokalensembles gesungen haben, CDs aufgenommen habe und in Bands gespielt habe: Ich weiß, was gute Musik ist, und ich erkenne Qualität und Intensität. Ich beschäftige mich seit 25 Jahren täglich mit Musik. Bevor ich jemanden einlade oder anspreche, ob der zu diesem großartigen Festival kommen kann, scanne ich die Persönlichkeit. Was sind das für Typen? Wie kommen die rüber? Wie äußern die sich? Was haben die für Programme? Da geht's ja auch um mehr als um die Frage, ob es nur gute Musiker sind. Manche passen auch einfach nicht zu uns und zu der Stadt. Ich finde auch nicht, dass das was Besonderes ist. Ich meine, wenn man Geld anvertraut bekommt und in solchen tollen Räumen wie diese Nürnberger Kirchen veranstalten kann, dann ist es doch auch meine Pflicht zu sagen, dass ich mit einem hohen Qualitätsbewusstsein agiere. Und schließlich werfe ich noch einen Begriff in den Ring: Hingabe. Ich habe am Bremer Dom bei dem Dirigenten und Kirchenmusiker Wolfgang Helbich gelernt. Der hat mir immer gesagt, er wolle diese absolute Hingabe, diese Seele. Er wollte jeden im Orchester und jeden im Chor zu 100% bei sich haben. Man kann mal einen falschen Ton singen. Das war verzeihlich, wenn er das Gefühl hatte, dass wirklich alle voller Inbrunst da sind. Das Publikum spürt das, auch wenn es das vielleicht gar nicht konkret in Worte fassen kann: Aber wenn ein Künstler seine eigene Seele rein gibt ins Konzert, dann gerät auch die Seele der Zuhörer in Schwingung. Und da sind wir dann wieder bei der spirituellen Dimension von Musik in Kirchen.
Was bleibt von einer ION – außer diesem Hochgefühl – an Bereicherung für den musikalischen Kanon?
Wir bereichern durch kulturelle Vielfalt. Das ist vielleicht ein abgedroschener Begriff, aber Vielfalt heißt eben programmatische und stilistische Offenheit, eine heterogene Auswahl an Interpreten. Da kommen junge und alte, welche am Anfang mit einem herrlichen Energieüberschuss und welche, die in ihren Interpretationen nach vielen Jahren zu einer gewissen Gelassenheit und Reduktion gefunden haben. Bei uns gibt es beispielsweise alle paar Jahre eine h-Moll Messe von Bach in großer Reinheit und in einer Werktreue, die wahrscheinlich Bachs Idee sehr nahekommt. Aber bei uns gibt es auch einmal eine h-Moll Messe in der kammermusikalischen bearbeiteten Version mit Improvisationsteil zwischendurch, mit einem Schweizer Rapper, der seine Glaubenszweifel anspricht. Manche provoziert das. Aber warum sollte man das nicht, wie 2022 geschehen, junge Leute zwischen 25 und 30 machen lassen, die also am Anfang ihrer Musikerkarriere stehen? Die waren völlig drin in der Materie, durch lange Proben hatten sie aus ihrer Perspektive das Werk durchdrungen und es voller Hingabe auf die Bühne gebracht. Und sie sagten: Kann man so eine h-Moll-Messe nicht auch anders interpretieren, kann man nicht sich dieses diese Partitur nehmen, destillieren und nachsehen, was steckt da eigentlich drin? Aber noch mal: Das geht nur mit Überzeugungstätern auf der Bühne, denen man das auch abnimmt. Und mein Job ist, das vorher schon den Leuten zu erzählen. Im Bereich der Kommunikation und der Werbung haben wir uns ja völlig verändert. Früher wurde ein Faltblatt herausgegeben oder ein Programmheft. Wir erzählen aber das ganze Jahr hindurch auf Instagram und Facebook Geschichten. Wir sind den ganzen Tag dabei, den Leuten auch Rede und Antwort zu stehen für ihre Fragen und immer wieder Impulse zu geben, warum sie nächstes Jahr im Sommer herkommen müssen. Wenn ich einfach nur ein Plakat an die Kirche hängen würde, dann verkaufe ich vielleicht 70 Karten. Wenn ich 700 Karten verkaufen will, dann muss ich ein dreiviertel Jahr überlegen, wie ich Menschen aus verschiedenen Zielgruppen über verschiedene Medien anspreche. Die vielfältige Nürnberger Stadtgesellschaft zu erreichen und ein nachhaltiges Erlebnis zu erschaffen, erfordert auch von mir und meinem Team eine riesengroße Vielfalt im Entwickeln von Geschichten und von Vermarktungsideen, weil ich sonst diese Menschen gar nicht erreiche. Es reicht nicht, einfach Enthusiasmus zu haben, sondern man muss den auch kanalisieren.
Die ION hat auch immer ein Motto. Welches steht in 2025 an?
Es lautet "Wo ist Frieden?", in der Art: "hast Du heute schon den Frieden gesucht?" Frieden bekommen wir nur, wenn wir ihn suchen. Und 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in Nürnberg, mit der Geschichte der Stadt und unseres Festivals im Kopf stellen wir uns, den Künstlern und dem Publikum die Frage: Hast Du heute schon den Frieden gesucht? Das Programm, dass wir nun bald veröffentlichen und in den Verkauf geben, kommt meinem ideal eines genre-offenen, vielgestaltigen Festivals in Kirchen schon ziemlich nah: Zur Eröffnung kommt VOCES8 endlich wieder zu uns. Deren Klang ist einfach zum Niederknien. Und sie sind in Nürnberg verliebt und entwickeln ganz eigene Programme für die Kirchen, die sie nun auch schon kennen. Wenn dann das Licht durch die bunten Kirchenfenster von St. Sebald bricht und der Klang durch die Hallenkirche strömt, ist Gänsehaut garantiert. Wenige Tage später tritt an gleicher Stelle der Schauspieler Charly Hübne rauf. Er verbindet seine Version von Franz Schuberts "Winterreise" mit ikonischen Songs von Nick Cave! Die Orgel-Queen Anna Lapwood aus der Londoner Royal Albert Hall gibt ihr Nürnberg-Debüt. Die hat allein auf Tiktok eine halbe Millionen Follower – mit Orgel! Und für mich als Beatles-Fan gibt es eine absolute Sensation auf der Bühne der Kulturkirche im Nürnberger Szeneviertel Gostenhof. Dort stehen tatsächlich die Rock- und Soullegende Inga Rumpf, Gustav Peter Wöhler und Catt gemeinsam auf der Bühne für "Imagine Peace. A Night for John Lennon." Stefanie Hempel, Musikerin aus Hamburg und Deutschlands größte Beatles-Kennerin, hat diese All-Star-Band zusammengerufen. Zum 85. Geburtstag von John Lennon gibt es zwei rauschende Tribute-Abende. Aber im gleichen Festival kann man sich zurücklehnen und die Klangpracht von Palestrina und Bach mit dem Windsbacher Knabenchor genießen. So gefällt mir das.

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