Nur wenige evangelische Kirchen haben eine derartige Symbolkraft wie die Friedenskirche von Swidnica Schweidnitz im polnischen Niederschlesien. Friede und Hoffnung, Trauer und Versöhnung, Verzweiflung und Stolz – hier kommt alles zusammen.
Durch das Dickicht aus Efeu, Brennnesseln und Brombeeren windet sich ein Trampelpfad, eine braune Schlange im grünen Unterholz. Links und rechts ragen Grabsteine aus dem Grün: mal aufrecht, mal schief, manche in Trümmern. Ab und zu die rostigen Zäune einer Einfriedung oder ein Stumpf, der von Efeu überwuchert wird.
Hier ein herrenloses Marmormedaillon, dort ein kopfloser Engel, der eine Steintafel hält: "Ruhestätte Familie Sölter – Starke". Es gibt Gräber ohne Grabsteine und Grabsteine ohne Gräber, Einfriedungen ohne Ketten. 1943 wurde hier laut Grabstein der Postassistent Hermann Kutsche beigesetzt, aber wo? Der Grabstein liegt im Nirgendwo.
Die Anarchie des Verfalls, die auf diesem Friedhof herrscht, ist ungewöhnlich. Normalerweise sind Friedhöfe Orte der liebevollen oder doch wenigstens der stolzen Erinnerung. Wenn es aber keine Angehörigen in der Stadt mehr gibt, keine Nachbarn, keine Freunde?
Symbol für das Schicksal der Stadt
Der alte evangelische Friedhof von Swidnica, das einmal Schweidnitz hieß, ist ein anrührendes Symbol für das Schicksal der Stadt und des ganzen Landes Niederschlesien, das nach 1945 fast seine komplette deutsche Bevölkerung verlor und eine ganz neue polnische gewann. Von 17.000 Evangelischen waren auf einmal nur ein paar Handvoll übrig, und die Pflege der Friedhöfe gehörte nicht zu ihren vordringlichen Aufgaben, denn sie hatten vor allem ein anderes Erbe zu wahren, ein Erbe, das zu den großartigsten baulichen Zeugnissen des europäischen Protestantismus überhaupt gehört und folgerichtig seit 2001 auf der Liste des UNESCO-Welterbes geführt wird: Die Friedenskirche, polnisch: kosciol pokoju, "Zur Heiligsten Dreifaltigkeit", die sich mitten aus dem grünen Teppich des verwitternden Gräberfelds erhebt.
UNESCO-Welterbe
Mit einer Länge von 44 Metern und einem Fassungsvermögen von 7.500 Personen ist sie die größte Fachwerkkirche der Welt, ein Gotteshaus, das aus konfessionellem Zwist geboren und keinesfalls mit einem Anspruch auf die Ewigkeit gebaut wurde. "Es ist ein Wunder, dass in dieser Kirche seit 360 Jahren Gottesdienste gefeiert werden", sagt daher Pfarrer Waldemar Pytel. So, wie der Friedhof von Swidnica viel eindringlicher als andere Friedhöfe die Vergänglichkeit allen menschlichen Tuns symbolisiert, ist die Friedenskirche mehr als alle anderen Kirchen ein stolzes Symbol der Hoffnung auf Zukunft.
Weite Teile Schlesiens, das damals zur böhmischen Krone gehörte, schlossen sich der Reformation an. Im Westfälischen Frieden von 1648 musste Kaiser Ferdinand III. in Schlesien ein vorerst einzigartiges Zugeständnis machen: Man erlaubt den Protestanten, in den drei Erbfürstentümern Glogau, Jauer und Schweidnitz je eine sogenannte Friedenskirche zu errichten.
Spätere Ausführungsbestimmungen der Staatskanzlei in Prag, von wo aus Schlesien verwaltet wurde, definierten diesen neuen Typus des Kirchenbaus: Als Baumaterial durfte ausschließlich Holz, Sand, Lehm und Stroh verwendet werden, Türme und überhaupt das äußere Angesicht einer Kirche, auch die bei den Protestanten besonders wichtige Schule neben der Kirche, waren verboten. Gebaut werden durfte nur außerhalb der Stadtmauern.
Die Friedenskirche "Zur Heiligsten Dreifaltigkeit"
Am schnellsten waren die Glogauer: Die dortige Friedenskirche war bereits 1652 fertig, wurde aber prompt zwei Jahre später vom Sturm schon wieder umgeblasen. Kein Wunder: Infinitesimalrechnung und Computersimulation waren noch nicht erfunden, und Architekten und Baumeister arbeiteten nach dem Prinzip "trial and error". An eine Fachwerkkonstruktion dieser Größenordnung hatte sich bislang noch niemand herangewagt. Die im zweiten Versuch neu erbaute Holzkirche brannte 1758 ab, der steinerne Nachfolgebau überlebte den Zweiten Weltkrieg nicht.
In Jauer wartete man die ersten Erfahrungen aus Glogau klug ab und ließ dann den Breslauer Ingenieurleutnant Albrecht von Säbisch die Planung machen. Die dortige Friedenskirche, ein schlichtes, aber riesiges einschiffiges Langhaus für 6.000 Menschen, wurde 1655 eingeweiht, und offenbar hatte von Säbisch die Glogauer Pleite gut studiert, denn auch die Friedenskirche von Jauer hat bis zum heutigen Tag überlebt – schlichter und gegenwärtig auch von weniger Leben erfüllt als die Schweidnitzer Schwester, auch ihres Umfelds aus Friedhof und Nachbarhäusern beraubt, aber, immerhin: zwei Jahre älter.
Inzwischen hatten auch die Schweidnitzer das Geld beisammen, unter anderem eingesammelt bei einer Betteltour durch Europas Norden. Von Säbisch entwickelte aus den gemachten Erfahrungen das Fachwerkprinzip weiter: Ein dem Langhaus beigefügtes Querschiff sorgte nicht nur für mehr Platz, sondern auch für mehr Stabilität. Am 24. Juni 1657 fand nach zehnmonatiger Bauzeit der erste Gottesdienst in dem neuen Gebäude statt, dessen Grundfläche mit 1.090 Quadratmetern zwar etwas kleiner ausfiel als die von Jauer, das aber durch von Säbischs kluge Raumaufteilung sage und schreibe 7.500 Menschen Platz bot – 1.500 mehr als im Nachbarort.
Die Dimensionen entsprachen, am Rande bemerkt, keineswegs protestantischer Hybris: Sonntag für Sonntag kamen aus den Dörfern des Umlands viele Tausend Menschen zu Fuß zum Gottesdienst und waren dabei manchmal fünf oder sechs Stunden unterwegs. Man musste mehrere Gottesdienste halten, um alle Besucher aufnehmen zu können, eng und dicht gedrängt.
Zeiten des Massendrangs sind vorbei
Nun, die Zeiten des Massenandrangs sind, wen wundert's, lange vorbei. Welche evangelische Kirche kennt heute noch derlei Enge, den Heiligabend vielleicht ausgenommen? Doch kaum irgendwo fällt der Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart so brutal aus wie in der hölzernen Weite dieses Raums. Die Weltgeschichte war nicht gnädig mit dem schlesischen Protestantismus: Nach 1945 mussten fast alle Deutschen und damit fast alle Evangelischen das Land verlassen. Die Polen, die nachkamen, waren katholisch. Die Evangelisch-Augsburgische Kirche in Polen hat nur etwa 75.000 Mitglieder, von denen die Mehrheit in Schlesien lebt.
Zur Gemeinde der Friedenskirche gehören heute rund 130 Menschen, und das ist schon ein starker Zuwachs gegenüber den späten 1980ern, berichtet Pfarrer Waldemar Pytel, seit Kurzem auch Bischof der Diözese Breslau. Damals wurden die letzten in Swidnica verbliebenen Deutschen immer weniger, und von den Polen verabschiedete sich alle paar Wochen eine junge Familie für immer gen Westen: "Ich sagte zu meiner Frau: Wir werden irgendwann die Letzten sein."
Der Pfarrer sitzt im kleinen Garten des "Barock-Café", das im einstigen Torhaus des kleinen Evangelischen Bezirks untergebracht ist, leutselig im Umgang mit den anderen Gästen, diplomatisch bei heiklen Themen, wie etwa der Ökumene, aber immer beseelt von der Liebe zu dem einzigartigen Gotteshaus, das er zu hüten hat. Pytel war der erste Pfarrer, der nach 1945 hier ordiniert wurde. Der Gottesdienst am 1. Advent 1986 dauerte drei Stunden, und das bei minus 1 Grad.
Weinen oder aufmachen für die Menschen
"Wir hatten zwei Möglichkeiten: alles abschließen und weinen, weinen, weinen. Oder alles aufmachen und die Menschen zu uns einladen", sagt Pytel, und man kann aus der blitzblank sanierten Kirche und dem einladenden Areal mit Café, Hotel und kleinem Museum schnell schließen, zu welchem Schritt er sich damals entschlossen hat. Längst liegt der von einer Mauer umfriedete Kirchhof samt Kirche, Pfarrhaus, Glockenturm, ehemaliger Schule und Nebengebäuden nicht mehr vor den Toren der Stadt, sondern ist von allen Seiten von ihr eingeschlossen, eine grüne und friedliche Insel.
Die Zeitenwende von 1989 steckte den gesellschaftlichen Rahmen für den kleinen, aber stetigen Aufbruch, den die Gemeinde nun erlebte. Wenn Pytel sein Evangelisationszelt vor der Kirche aufbaute, kamen neugierige Familien, einmal, zweimal, dann schickten sie ihre Kinder in den evangelischen Religionsunterricht. Die Bachwoche, die jedes Jahr im Juli stattfindet, hat längst Strahlkraft über die Friedenskirche hinaus erlangt, von wo sie ausging. Das barocke Kleinod unter den Linden ist dann schon mal Schauplatz für Mozarts Oper "Don Giovanni" – wenn auch nur in konzertanter Aufführung. Und geduldig erklärt Pytel den erstaunten römisch-katholischen Polen, dass es keine Bedingung für Protestanten ist, deutsch zu sein: "Es ist ja auch keine Bedingung für Katholiken, Römer zu sein."
Sanierung geht nicht weiter
Das deutsch-polnische Friedensgebet, das Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl 1989 hier sprachen, rief die Friedenskirche zurück in die Erinnerung der Welt. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz in Fulda schickte ein Team, das die Kirche mustergültig fotografierte, vermaß und außen auch generalsanierte. Die Krönung war die Aufnahme der Kirche in den Katalog des UNESCO-Weltkulturerbes. 2002 wurde die beginnende Innensanierung jäh abgebrochen – in Berlin war das Geld ausgegangen, und binnen zweier Monate mussten die Denkmalschützer ihre Zelte abbrechen.
Auf den Emporen der Friedenskirche ist dieser plötzliche Abgang bis heute gegenwärtig. Bänke sind unter Plastikplanen verräumt, Bretter gestapelt, Geländer abmontiert. An den Decken kleben kleine Streifen von Krepp-Papier mit Kartierungsangaben, die eine oder andere verstaubte Werkbank mit den Resten der letzten Holzbearbeitung steht noch im Eck.
Weil den Denkmalpflegern dieser ungeordnete Rückzug selber peinlich war, unterhielten sie noch zehn Jahre lang ein Büro in einem Haus neben der Kirche – das ließ wenigstens auf Rückkehr hoffen, auch wenn dort nie jemand arbeitete. "Von diesem Schlag hat sich die Friedenskirche ganz schwer erholt", sagt Stephan Aderhold, der auf dem Förderticket des Deutschen Kulturstaatsministeriums seit einigen Jahren das Archiv sortiert. Als das Denkmalpflege-Büro 2012 endgültig geschlossen wurde, sicherte er den herrenlosen Computer, auf dem die genaue Kirchenkartierung von 1992 gespeichert war.
Es bedurfte eines dreitägigen Kraftakts und der Unterstützung eines Computer-Experten, um die Daten nach fünfmaligem Umformatieren in die Gegenwart moderner Textverarbeitungsprogramme zu katapultieren.
Lichtblick: Eine Stiftung aus Norwegen hat zugesagt, die große Orgel auf der Westempore zu sanieren, die seit vielen Jahren brachliegt.
Schweidnitz war eine deutsche Stadt, und die Friedenskirche ist die markanteste Erinnerung daran. Die Kirchenbücher, die Kirchenbibliothek, auch die Bibelsprüche auf den Emporen sind in deutscher Sprache. Die Gemeinde und ihre Sprache aber sind längst polnisch, und der Übergang war nicht so abrupt, wie man das aus den Geschichtsbüchern vermutet: Einige wenige Deutsche, die für das Funktionieren der Stadt unverzichtbar waren, durften ja bleiben, für die Evangelischen von ihnen blieb die Friedenskirche das wichtigste Gemeinschaftsdach. Wenn hier am Sonntag Gottesdienst gefeiert wurde, kamen alle.
Nach und nach zogen sie fort oder starben. Heute ist noch eine einzige Frau übrig geblieben, die vor 1945 in der Friedenskirche getauft wurde und bis heute in der Stadt lebt, Dorothea Bock-Drozdowicz (79). Jahrzehntelang blieb sie der Kirche verbunden, als Kirchenvorsteherin und Organistin. Inzwischen hat ihre polnische Enkelin das Orgelspielen in der Friedenskirche begonnen. Kein Kulturbruch kann so radikal sein, dass sich nicht eine Linie der Kontinuität findet.