Ein Wagnis. Denn wer könnte schon den Mut haben, einen kleinen Ort im Hunsrück zum Ausgangspunkt einer Fernseh-Saga zu machen, und das in einem wahrhaft epochalen Maßstab? Aber auch: ein Wunder. Denn wer hätte geahnt, dass ein Filmwerk unter dem großgeschriebenen Titel "Heimat" ein solch umwerfender Erfolg werden würde, und dies bei Publikum und Kritik gleichermaßen? Und wer hätte vorhergesagt, dass dieses Werk auch im Ausland gefeiert werden würde?

"Heimat" ist das größte Werk des Regisseurs und Autors Edgar Reitz, der am 1. November 90 wird. Über 30 Jahre lang beschäftigte er sich intensiv mit dem, was er schlicht eine Chronik nannte - mehr als acht Jahrzehnte deutsche Geschichte als Geschichten, die ihren Ursprung in einem Hunsrück-Dorf mit dem fiktiven Namen Schabbach haben. Ausgestrahlt wurde "Heimat" ab Herbst 1984 in der ARD.

Das Projekt begann 1981 mit einem als Prolog verstandenen Dokumentarfilm ("Geschichten aus den Hunsrückdörfern"), dem im Abstand von drei Jahren dann die elf Teile der Serie "Heimat - eine deutsche Chronik" folgten. Sie waren das Herzstück des Ganzen und umfassen eine Zeitspanne von 1919 bis 1982. Erzählt wird die Familiengeschichte der Maria Simon und ihrer Familie, beginnend mit der Rückkehr des Dorfschmied-Sohnes Paul Simon aus dem Ersten Weltkrieg.

Edgar Reitz und der Hunsrück

So außerordentlich anders waren die von Kameramann Gernot Roll komponierten Bilder, so ungewöhnlich das Zeitmaß, so authentisch und gleichzeitig fern von jeglichem Platt-Realismus wirkten die Figuren, dass man gebannt eintauchte in eine ganz eigene Lebenswelt. Der im Hunsrück-Ort Morbach geborene Reitz erkundete diese auf eigentümliche Weise: Nie in sentimentaler Weise heimat-tümelnd, sondern in neugieriger, sicher oft auch staunender Fern-Verbundenheit.

Acht Jahre später folgte "Die zweite Heimat - Chronik einer Jugend", 2004 schließlich "Heimat 3 - Chronik einer Zeitenwende" und 2006 ein Epilog: "Heimat-Fragmente: Die Frauen". Und 2013 vollendete Reitz den Film "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht", eine Rückblende auf die Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Hunsrück war das eine Epoche großer Armut, die viele Menschen auswandern ließ. Das alles summiert sich in der heutigen Gesamtedition auf nahezu 60 Stunden.

Autobiografie Edgar Reitz

Im Jahr 1987 begann Edgar Reitz mit seiner Autobiografie, die jetzt zum 90. Geburtstag erschienen ist. Der Titel ist Programm: "Filmzeit, Lebenszeit". Es ist ein Erinnerungsbuch der ganz besonderen Art, denn tatsächlich verfügt Reitz über ein phänomenales Gedächtnis. Das alles führt zu überbordendem Reichtum an Zeitbeschreibungen, an Alltagsdetails, an Reflexionen. Im "Geschichtenkosmos" der "Heimat" sei er gefangen gewesen, offenbart Reitz:

"Ich erlebte zehntausend Fortsetzungen: eine wahre Achterbahn von Kämpfen und Zweifeln."

Die Arbeitsprozesse werden in allen Schritten seziert, die ganz privaten Wege nicht ausgespart. Der Vater von drei Kindern ist in dritter Ehe mit der Musikerin und Schauspielerin Salome Kammer verheiratet, einer Hauptdarstellerin der "Heimat"-Trilogie.

Geboren als Sohn eines Uhrmachers und einer Modistin hatte Reitz sich nach dem Abitur aufgemacht, um in München zu studieren - einer Stadt, der er mit Unterbrechungen treu geblieben ist. Von seinen Fächern Germanistik, Publizistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften finden sich viele Facetten in seiner Arbeit. Das reicht vom Theater bis zum Institut für Filmgestaltung, das er gemeinsam mit Alexander Kluge 1963 gründete. Reitz gehörte auch zu den Jungfilmern, die 1962 im "Oberhausener Manifest" Opas Kino für tot erklärten und den Anspruch erhoben, den "neuen deutschen Spielfilm zu schaffen".

Am Institut für Filmgestaltung - damals mit der noch heute legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm verbunden - lehrte Reitz Regie und Kameratheorie. Zuvor hatte er sich schon bei der Film-Firma "Insel-Film" intensiv mit den Themenbereichen Experiment und Entwicklung befasst und Filmerfahrungen im Dokumentarbereich gesammelt. Filmtheorie blieb für ihn wichtig, er lehrte sie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.

Regisseur Edgar Reitz und Produktionsfirma

Eine eigene Filmproduktionsfirma war Basis seiner Alltagsarbeit, zu der auch - wenige - Spielfilme gehören: von der "Stunde Null" über "Mahlzeiten", das 1966 auf den Filmfestspielen von Venedig als bestes Erstlingswerk ausgezeichnet wurde, bis zu "Der Schneider von Ulm", der ihn finanziell in die Bredouille brachte. Für Reitz war das sicher auch ein Anstoß für das "Heimat"-Projekt; mit Drehbuch-Koautor Peter Steinbach zog er sich für ein Recherchejahr in den Hunsrück zurück.

Zum ARD-Fernsehen, welches das einzigartige Werk stemmte, entwickelte Reitz, der kompromisslose Arbeiter, ein zunehmend streitbares Verhältnis. In seiner Autobiografie schrieb er: Er sei

"beseelt von dem Gedanken, dass man der kommerziellen Filmbranche etwas Bleibendes entgegensetzen müsse, dass es sich auch im Filmgeschäft lohne, sein Leben für Ideale einzusetzen."

Kein Zweifel, alle Auseinandersetzungen haben den künstlerischen Ertrag und den großen Erfolg nicht geschmälert, die Liste der Auszeichnungen ist lang. Edgar Reitz gelang ein einzigartiges erzählerisches Werk. Im "Spiegel" hieß es einmal über das fiktive Schabbach: "Ein deutsches Dorf, groß wie die Welt."

Filmtipp

Anlässlich des 90. Geburtstages wiederholt 3sat HEIMAT in der Remastered-Version:

Samstag, 29. Oktober 2022
21:45 Uhr
Fernweh (1919 – 1928)

23:45 Uhr
Die Mitte der Welt (1929 – 1933)

Montag, 31. Oktober 2022
22:25 Uhr
Weihnacht wie noch nie (1935)/Reichshöhenstraße (1938)

Mittwoch, 02. November 2022
22:25 Uhr
Auf und davon und zurück (1938 – 1939)/Heimatfront (1943)

Donnerstag, 03. November 2022
22:55 Uhr
Die Liebe der Soldaten (1944)/Der Amerikaner (1945-1947)

Freitag, 04. November 2022
22:25 Uhr
Hermännchen (1955 -1956)

Samstag, 05. November 2022
22:40 Uhr
Die stolzen Jahre (1967-1969)/ Das Fest der Lebenden und der Toten (Herbst 1982)