Der Sternenhimmel. Unendliche Weiten. Man steht und staunt. Die Augen wandern zwischen den Leuchtpunkten am Firmament und suchen nach den Linien, die ein Sternbild ergeben. Man fühlt sich klein und groß zugleich. Klein, weil der Blick in den Himmel spüren lässt, wie winzig unser Planet Erde ist und erst recht man selbst angesichts der Unendlichkeit des Universums. Aber man fühlt sich auch groß, weil man ein Teil dieses großen Ganzen sein darf. Die Ehrfurcht, die einen in solchen Augenblicken ergreift, ist für den Theologen Friedrich Schleiermacher das Wesen der Religion. Es sind die "himmlischen Funken", die entstehen, "wenn eine heilige Seele vom Universum berührt wird", schreibt er in seinem großen Werk "Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Er hat damit eine neue Dimension von Religion erschlossen.

Kirchenfernen den Glauben schmackhaft machen

Glaube besteht für Schleiermacher nicht darin, dass man starre Lehrgebäude aus Dogmen errichtet. Es geht auch nicht darum, sich an Gebote einer Heiligen Schrift zu halten und möglichst fromm zu leben. Religion ist vielmehr "Sinn und Geschmack fürs Unendliche". Diesen Sinn hat jeder Mensch, der eine ausgeprägt, der andere noch unentdeckt. Aber alle kennen den Moment, den Schleiermacher so beschreibt: "Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion." Das ist Glück.

Henriette Herz (1764-1847) und Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834)
Henriette Herz und Friedrich Schleiermacher: Im Salon der Henriette Herz (1764-1847), die aus einer portugiesisch-jüdischen Familie stammte, kam das gebildete Berlin zusammen. Ihren "zärtlichen Freund" nannte Henriette Herz den evangelischen Theologen, der das Gefühl als Erkenntniskraft betonte und zur Freundschaft mit Frauen begabt war. Von ihnen, denen er eine besondere Kompetenz in der Liebesfähigkeit zuschrieb, fühlte er sich verstanden und sie sich von ihm. 1817 ließ sich Henriette Herz taufen und konvertierte zum protestantischen Glauben. (Gemälde von Anton Graff, 1792; daneben ein posthum entstandenes Jugendbildnis Schleiermachers von Emil Eugen Sachse, 1854).

Wir schreiben das Jahr 1796. Der 30-jährige Schleiermacher wird Prediger an der Charité in Berlin. Die Charité war damals ein eher vernachlässigtes Krankenhaus. Aber für den jungen Theologen ist es ein Sprung. Der gebürtige Breslauer hat nach seinem Theologiestudium in Halle zunächst als Hauslehrer in Schlobitten in Ostpreußen gearbeitet. Danach war er Hilfsprediger in Landsberg/Warthe. Jetzt also endlich eine richtige Pfarrstelle, und das in Berlin.

Der Salon der Henriette Herz

Zwei Sätze ändern Schleiermachers Leben. Er erhält eine Einladung, auf der steht: "Ich habe den Auftrag, Sie zu befragen, ob Sie morgen zum Tee und Abendessen bei Professor Herz sich einfinden können? Hoffentlich werden Sie keine Abhaltung haben." Das ist Schleiermachers Eintrittskarte in den literarischen Salon der Henriette Herz. Die junge Ehefrau des genannten Professor Herz versammelt in ihrem Haus in der Spandauer Straße Künstler, Literatinnen und Philosophen. Die Brüder Humboldt, Jean Paul, Ludwig Börne und Rahel Levin (später Varnhagen) gehören zu ihren Gästen. Henriette Herz stammt aus einer portugiesisch-jüdischen Familie und wird zu Schleiermachers Seelenfreundin. In ihrem Salon lernt er den Vordenker der Frühromantik, Friedrich Schlegel, kennen. Der stachelt ihn an mit der Bemerkung, Schleiermacher habe mit seinen knapp 30 Jahren noch nichts Rechtes geleistet.

Der Satz sitzt. Innerhalb eines halben Jahres schreibt Schleiermacher sein erstes großes Werk, das zu einem Jahrhundertbuch wird. 1799 erscheinen seine Reden über die Religion. Er will "den Gebildeten unter ihren Verächtern" zeigen, dass Religion anders ist als das, was sie von ihr halten.

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834) und die Berliner Charité (1740)
Geprägt von Pietismus und Aufklärung: 1796 wurde der 30-jährige Schleiermacher Prediger an der Charité in Berlin. Hier bekam er Zugang zum literarischen Salon der Henriette Herz.

Die theologische Enge der Pietisten beklemmt den jungen Mann

Geprägt ist Schleiermacher zum einen vom Pietismus, der frommen Reform- und Erweckungsbewegung. Schleiermachers Vater, ein preußischer Feldgeistlicher, schickt seinen Sohn in die Schule bei den pietistischen Herrnhutern, erst in Niesky in der Oberlausitz und dann in Barby in Sachsen-Anhalt. Die theologische Enge und strenge Moralität der Pietisten beklemmen den jungen Mann. Er entdeckt die Aufklärung und Kants Forderung: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Schleiermacher hat Mut und denkt die christliche Religion neu als "vernünftigen Glauben".

Die Aufklärung ist ihm allerdings zu vernunftbesessen. Für Schleiermacher ist Religion nicht reine Kopfsache, sondern eine "eigene Provinz im Gemüte". Aus der Romantik schöpft er den Sinn für das Geheimnisvolle in der Welt. Er richtet sich an die Kirchenfernen, die die Zukunft ausschließlich im kulturellen und technischen Fortschritt sehen: "Es ist euch gelungen, das irdische Leben so reich und vielseitig zu machen, dass ihr der Ewigkeit nicht mehr bedürfet." Sie verachten Religion, weil sie als steile Metaphysik oder als Moral daherkommt. Schleiermacher hält dagegen: "Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl."

Gemeinschaft, Freundschaft, Liebe

Anschauung meint, das Verbindende in allem wahrzunehmen. Ich gehöre zum All und darf nicht fehlen. Wenn ich erkenne, dass ich ein Teil des Ganzen bin, dann weiß ich mich mit allen verbunden. Zur Religion gehören für Schleiermacher deshalb Gemeinschaft, Freundschaft und Liebe. Die Ehrfurcht vor dem Universum trifft auf das Staunen über das Wunder der Liebe. So verstanden hilft Religion, dass Menschen frei und friedlich miteinander leben.

Das Verbindende ist stärker als das, was trennt. Darum zerfällt für Schleiermacher die Menschheit nicht in Mann und Frau. Er schreibt: "Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm." Dieser Mensch ist seiner Zeit weit voraus.

Religion ist Anschauung und Gefühl. Gefühl ist ein Organ des Erkennens, ein eigenständiges Seelenvermögen. Später beschreibt Schleiermacher dieses Gefühl genauer, nämlich "dass wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, (...) als in Beziehung mit Gott bewusst werden". Sein Rivale Georg Wilhelm Hegel spottet: Dann sei der Hund der beste Christ, weil er das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit am meisten in sich trage. Aber Schleiermacher geht es um das Bewusstsein: Ich bin endlich und trotzdem ein Teil des Unendlichen. Das macht empfänglich dafür, dass alles Sein zusammengehört.

Religion "ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl"

Jesus Christus verkörpert für Schleiermacher dieses absolute Bewusstsein von sich selbst und von Gott. Christus lebt aus dem Wissen, dass das Göttliche im Sterblichen, das Ganze im Einzelnen erscheint. Das macht Christus zum Vermittler und Erlöser. Das Universum kommt im Christentum für Schleiermacher "am meisten und am liebsten" zum Ausdruck. Aber das Christentum ist nicht die einzige Religion. Denn das Ganze hat die Eigenschaft, dass man es von verschiedenen Seiten anschauen kann.

Was wir heute Selbstverwirklichung nennen, klingt bei Schleiermacher so: "Immer mehr zu werden, was ich bin, das ist mein einziger Wille." Das ist kein Egotrip, sondern die Erkenntnis: Was ich bin, geht mir selbst voraus. Es ist unverfügbar, aber ich kann es immer mehr entdecken.

Das, was meine Stelle im All bestimmt, nennen viele Gott. Schleiermacher spricht vom Universum und nicht von Gott. Der Gottesbegriff war für ihn "eine Richtung der Fantasie". Zwei seiner Spitzensätze: "Gott ist nicht alles in der Religion." Und: "Nicht der hat Religion, der an eine Heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf und wohl selbst eine machen könnte." Die Bibel und die kirchlichen Dogmen spiegeln wider, wie Menschen dem Unendlichen begegnet sind. Man dürfe sie aber nicht mit der Religion selbst verwechseln. Theologische Begriffe wie Wunder oder Offenbarung sind für ihn nur der Versuch, religiöse Erfahrungen auf das Unendliche zu beziehen.

30.000 folgten seinem Sarg

Den Wunsch nach Unsterblichkeit hält Schleiermacher für "ganz irreligiös, dem Geist der Religion gerade zuwider". In der Religion gehe es doch darum, dass die "Umrisse unserer Persönlichkeit (...) sich allmählich verlieren sollen ins Unendliche". Aber anstatt eins mit dem Universum zu werden, wollen viele Menschen "nichts sein als sie selbst und sind ängstlich besorgt um ihre Individualität". Schleiermacher denkt an den Satz von Jesus: "Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es erhalten, und wer es erhalten will, der wird es verlieren."

Schleiermachers Verständnis von Religion hat praktische Konsequenzen. Im Religionsunterricht sollen junge Menschen nicht Katechismen auswendig lernen, sondern ihren Sinn fürs Unendliche entdecken. Die Kirche soll nicht vom Staat abhängig sein und nicht geteilt in Pfarrer und Laien. Schleiermacher sah in Pfarrern keine Glaubensverwalter, sondern religiöse "Virtuosen".

Berlin blieb Schleiermachers Dreh- und Angelpunkt. Er war einer der Gründungsprofessoren der Universität und beliebter Prediger an der Berliner Dreifaltigkeitskirche. Dort gehörte der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck zu seinen Konfirmanden. Er wurde zum protestantischen Kirchenvater des 19. Jahrhunderts. Karl Barth, der große Theologe des 20. Jahrhunderts, hat die Theologie Schleiermachers bekämpft. Die eigene religiöse Erfahrung als Herzstück des Christentums, das war Barth viel zu sehr vom Menschen her gedacht, wo doch nur Gott selbst sich dem Menschen offenbart. Aber auch Barth stellte fest: "Es ist tatsächlich so, dass wir mit dem Mann noch lange nicht fertig sind."

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher starb 1834 mit 65 Jahren. Beim Trauerzug in Berlin sollen bis zu 30.000 Menschen seinem Sarg gefolgt sein.