Jahrzehntelang hat Wagners einziges komisches Stück herhalten müssen für Umdeutungen und Vereinnahmungen. Für den Meister selbst war die mittelalterliche Stadt und die Gesellschaft um den Dichter Hans Sachs noch das Sinnbild einer verklärten Ära, in der sich die Künste und ein neues Gesellschaftsbewusstsein, nicht zuletzt aus dem Geiste der Reformation heraus entwickeln konnten. Nationale Gesinnungen nahmen zumindest das ihrer Ansicht nach Urdeutsche Element der "Meistersinger" gerne für ihre Propaganda her. Sie machten das Satyrspiel rund um das gesangliche Ringen des verarmten Ritters Walther von Stolzing (stimmlich und schauspielerisch überragend dargestellt von Klaus Florian Vogt) und des Meistersinger-Juden Sixtus Beckmesser zu einem Kampf von Gut gegen Böse, von edler Kunst gegen Kunstgebaren und letztlich zum Fanal, den Juden an sich zu deklassieren. Immerhin: Nürnberg ist seit der Uraufführung im Jahr 1868 - die im Übrigen im Nationaltheater München stattfand - auf der ganzen Welt bekannt.
Der ganze Hass in einer Figur
Nun hat Wagner in die Figur des schon etwas älteren Sixtus Beckmesser, der als "Merker" der Meistersinger den peinlich korrekten Ablauf eines Meistersingerliedes überwacht und sich bei seinem eigenen Gesang sowohl uninspiriert als auch letztlich dämlich darstellt, alles reingepackt, was er hasst: Der ohnehin argwöhnisch gesehene Jude, der sich in seiner assimilierten Form vom restlichen Volke kaum noch unterscheiden lässt, unter seiner Fassade aber eben immer noch ein Jude ist, kommt als Nörgler an der "wahren Kunst" Walthers (natürlich ein alter ego Wagners) daher, der selbst meint, künstlerisch etwas leisten zu können und dabei kläglich versagt und sich lächerlich macht. Diese augenscheinlich antisemitische Färbung haben die Nazis natürlich dankend aufgenommen, seither haben die "Meistersinger" ihren Ruf weg.
Kosky, der ganz nebenbei der erste jüdische Regisseur ist, der auf dem Grünen Hügel inszenieren darf, setzt diesem Zug zwei plakative Elemente entgegen: Zum einen taucht in der berüchtigten Prügelszene, bei der das Volk im Sängerwettstreit außer Rand und Band gerät, ein Miniatur-Wagner mit riesigem, zur jüdischen Fratze umgedeuteten Kopf auf, der kurz darauf als überdimensionaler Ballon aufgeblasen wird. Zum anderen spielt der dritte Akt im Saal 600 des Nürnberger Justizgebäudes - dem Ort, an dem die Nazi-Verbrecher sich vor dem Gericht der Alliierten verantworten mussten.
Saal 600 statt Haller Platz
Damit ist auch der einzige Spielort mit tatsächlich Nürnberger Bezug gegeben. Akt 1, der eigentlich in der Katharinenkirche spielt, die zu Wagners Zeiten noch keine Ruine war, spielt sich im Haus Wahnfried ab. Akt 2 ist nicht Hans Sachs` Stube, sondern schon ein Vorbote des im dritten Akt auftauchenden Gerichtssaals, in dem das Mobiliar aus Wagners Haus auf dem Flohmarkt verramscht wird. Warum also der von Wagner als Schauplatz favorisierte, Mitte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend unbebaute Haller Platz dem Saal 600 weichen muss, hat Kosky erklärt, indem er das Geschehen der "Meistersinger" als dauernden Gerichtsprozess ansieht, in dem ständig einer über den anderen richten will.
Johannes Martin Kränzle bildet mit seiner Darstellung des Beckmesser in diesem Schlamassel sogar ein versöhnliches Element. Er spielt den Juden nicht so böse, dass er zur Karikatur der nazistischen Karikatur wird, aber auch nicht so verharmlosend, dass man dem Regisseur eine angezogene Handbremse attestieren kann. Kränzles Beckmesser ist lächerlich, kann aber auch über sich selbst lachen. Eine einmalige schauspielerische Leistung, die wenigstens ebenso eindringlich ist wie Michael Volles Hans Sachs - die eindeutig längste und schwierigste Partie der "Meistersinger".
Die Auflösung erscheint am Ende ebenso banal wie brachial: Wenn Hans Sachs, jetzt als Richard Wagner verkleidet, den erfolgreichen Werber Walther "Ehret eure deutschen Meister" anmahnt, dann wird im Hintergrund ein komplettes Orchester - der Chor selbst - auf die Bühne gefahren. Letztlich überwindet die Kunst selbst also alles völkische Denken und eint alle. Ein schönes Happy End, das einen jedoch noch lange über dessen Zustandekommen grübeln lässt.