Als sich am 21. August 1968 die Nachricht herumspricht, dass am frühen Morgen sowjetische Panzer nach Prag eingerollt sind, bäumen sich die Tschechen noch einmal auf. Sie verdrehen Wegweiser an den Straßen, damit die fremden Soldaten nicht auf die zentralen Plätze finden. Sie parken einen Militärflughafen zu, damit keine Maschinen mit weiteren Soldaten mehr landen können.

Kampflos wollten sie ihre Freiheit nicht aufgeben, die sie sich in den Monaten zuvor erobert hatten: Der "Prager Frühling", das waren Reformversuche der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, die Menschen weit über das Land hinaus die Hoffnung auf einen anderen Kommunismus gaben – auf einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", wie damals das Schlagwort hieß. Auf eine Politik ohne Unterdrückung, ohne Zensur, ohne politische Verfolgung. Nachdem im März die Zensur abgeschafft worden war, hatte sich innerhalb kurzer Zeit eine kritische Öffentlichkeit gebildet.

Der Frühling war zu Ende

Aber dass sie keine Chance haben würden gegen die militärische Übermacht, ahnten die Tschechoslowaken schon früh. Während die Menschen über einige Monate hinweg regelrecht aufgeatmet hatten angesichts des politischen Tauwetters, wurde es den Kommunisten in Moskau schnell zu bunt. In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 schließlich begannen Truppen des Warschauer Pakts mit der Besetzung des Landes – der Frühling war zu Ende.

"Jeder in meiner Generation weiß noch ganz genau, wo er gewesen ist, als die Nachricht vom Einmarsch der Panzer kursierte", sagt Tomas Kraus. 14 Jahre alt war er damals, heute ist er Generalsekretär der Föderation der Jüdischen Gemeinden Tschechiens. Ausgerechnet in West-Berlin hielt er sich damals auf, mit seiner Mutter war er zu Besuch bei Freunden. Im Radio bekamen sie mit, was daheim in Prag geschah.

Als der Eiserne Vorhang fiel

Er erinnert sich noch an die langen Debatten mit Freunden aus Deutschland und aus Prag: Sollten sie im Westen bleiben, oder sollten sie den Schilderungen glauben, dass der Prager Frühling weitergehen werde? Sie entschieden sich für die Rückkehr. "Zweimal konnte ich noch in den Westen reisen, mein letzter Besuch war zu Weihnachten 1969", sagt er heute: "Danach haben sie die Grenzen von einem Tag zum nächsten geschlossen, und ich kam 20 Jahre lang nicht mehr aus dem Land."

So wie Tomas Kraus ging es vielen Tschechen: Der Prager Frühling und sein jähes Ende sind ein einschneidendes Ereignis im Leben aller, die ihn mitbekamen – von der Tragweite für viele fast gleichbedeutend mit dem Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989.

Die Hoffnungen waren groß: "Vieles schien darauf hinzuweisen, dass es vielleicht doch möglich sein würde, den humanen Gehalt der Ideen des Sozialismus zu retten, ihn von den Deformationen, die er in Russland erfahren hatte, zu befreien", schrieb Eduard Goldstücker in seiner Biografie. Der Prager Germanistik-Professor, der im Jahr 2000 starb, war eine der Schlüsselfiguren des Prager Frühlings: Als Kommunist der ersten Stunde und hochrangiger Diplomat seines Landes fiel er in Ungnade und wurde von seinen eigenen Genossen zu jahrzehntelanger Haft verurteilt.

Der stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung, Generalleutnant Siegfried Weiß, beim NVA Truppenbesuch.
Der stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung, Generalleutnant Siegfried Weiß, beim NVA Truppenbesuch.

Die stalinistischen Säuberungen, denen damals viele kommunistische Funktionäre zum Opfer fielen, ließen Goldstücker nicht am Kommunismus zweifeln – im Gegenteil: Er glaubte fest an einen reformierten, einen besseren Sozialismus, der ohne Brutalität und Gewalt auskommen würde. Als er vorzeitig aus der Haft entlassen und rehabilitiert wurde, wurde er Professor und Präsident des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands.

Dort, auf den Sitzungen der Autoren, keimte die Kritik am Regime am stärksten: Schriftsteller wie Pavel Kohout oder Vaclav Havel traten zu Beginn der 1960er-Jahre immer öfter mit weitreichenden Forderungen auf.

Als "jüdisch-bourgeois" geächtet

Manchen gilt eine internationale Wissenschaftler-Konferenz über Franz Kafka als eigentlicher Ausgangspunkt des Prager Frühlings. Goldstücker veranstaltete sie im Jahr 1963. Kafka wurde vom Staat offiziell als jüdisch-bourgeoiser Schriftsteller tituliert und war geächtet. Dass jetzt Wissenschaftler aus aller Welt ausgerechnet in die Tschechoslowakei kamen, um über ihn zu diskutieren; dass sie sogar offen der vorherrschenden Lesart widersprachen – das nahmen in der aufgeheizten Gesellschaft sogar diejenigen wahr, denen Kafka ansonsten herzlich egal war.

Die Welle der Veränderungen ergriff auch das kommunistische Regime. Als im Januar 1968 der Reformer Alexander Dubcek das Amt des kommunistischen Parteichefs übernahm, stieß er weitreichende Liberalisierungen an, unter anderem in der Wirtschaftspolitik. Weniger Doktrin und Staatsbevormundung, mehr Eigenverantwortung – so ließ sich der Kern der Reformen beschreiben.

Das Ideal von einem freien Leben

"Es wurde immer klarer, dass eine erfolgreiche Wirtschaftsreform nicht ohne politische Veränderungen durchführbar war", erinnerte sich später Eduard Goldstücker. "Allmählich wurde die zentrale Idee des Prager Frühlings sichtbar: der Versuch, dem Land die Möglichkeit zu geben, wie ein Staatswesen des 20. Jahrhunderts zu funktionieren. Das konnte der damaligen sowjetischen Führung, die unfähig war, sich der primitiven stalinistischen Abwegigkeiten zu entledigen, nicht genehm sein."

Nach der gewaltsamen Niederschlagung der Reformbewegung setzte die lange Phase der sogenannten Normalisierung ein – jene, die zu den tristesten in der kommunistischen Herrschaftszeit zählt.

Eines aber ist geblieben: das Ideal von einem freien Leben, das die Tschechen und Slowaken einige Monate lang kosten konnten. "Unsere Generation hat 1968 das erste und einzige Mal erlebt, dass man wirklich in Freiheit leben kann", sagte der Prager Philosophie-Professor Jan Sokol später. Er war damals 33 Jahre alt. Für die weitere Geschichte der Tschechoslowakei und vor allem für den Fall des Eisernen Vorhangs sei das Jahr 1968 ein wichtiger Wegbereiter gewesen: "Diese Erfahrung der Freiheit ist etwas ganz Entscheidendes."

1918 und 1968

Das Jahr 1968 geht im Tschechien von heute beinahe unter: Überschattet wird das Gedenken an den Prager Frühling vor allem vom Jahr 1918, als die Tschechoslowakei gegründet wurde – ein demokratischer Staat, der vielen Tschechen heute als Ideal gilt.

Mit der Erinnerung an den Prager Frühling taten sich die Tschechen indes schwer. Die Liberalisierung, an die sich viele Zeitzeugen mit romantischer Verklärung erinnern, wird heute oft als Grabenkampf zwischen zwei Lagern innerhalb der kommunistischen Partei gesehen. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage belegt, dass fast die Hälfte der Tschechen im Alter von 18 bis 26 Jahren nicht weiß, was im Jahr 1968 geschehen ist.

Chronologie: Der Prager Frühling

27. Mai 1963 Die Kafka-Konferenz in Liblice bei Prag gilt als Auftakt für den Prager Frühling. Literaten aus dem In- und Ausland diskutieren das Werk Franz Kafkas, der in der Tschechoslowakei als "bourgeoiser Autor" gilt und verfemt ist.

31. Oktober 1967 Studentenproteste in Prag werden von prügelnden Polizisten aufgelöst. Die KPC gibt den Studenten allein die Schuld an der Eskalation. Als sich gegen diese Lesart öffentlich Protest regt, ist die Machterosion der Partei mit Händen zu greifen. Im Zentralkomitee (ZK) brechen offen Meinungsverschiedenheiten um Reformen und um die Slowakeipolitik aus.

5. Januar 1968 Das ZK wählt Alexander Dubcek zum Ersten Sekretär. Dessen Vorgänger Antonín Nowotný behält vorerst das Amt des Staatspräsidenten, mit dem jedoch kaum reale Macht verbunden ist.

4. März 1968 Die Abschaffung der Zensur führt zu einer explosionsartigen Ausweitung der kritischen Öffentlichkeit. Kommunikation läuft nun nicht mehr nur von oben nach unten. Rundfunk und Zeitungen berichten über das Justizunrecht der 1950er-Jahre und über Vetternwirtschaft in der KPC.

5. April 1968 Das ZK der KPC beschließt ein "Aktionsprogramm". Darin gibt die Partei ihren Führungsanspruch zwar nicht auf, räumt aber ein, dass sie nicht mehr die "Vertreterin der ganzen Skala sozialer Interessen sein" könne. Das Programm garantiert Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

27. Juni 1968 Der Schriftsteller Ludvik Vaculik veröffentlicht sein "Manifest der 2000 Worte", das Dutzende Intellektuelle unterschreiben. Darin heißt es, eine weitere Demokratisierung sei nur außerhalb der KPC möglich. Der sowjetische Staatschef Breschnew spricht nun von "Konterrevolution" – ein Wort, das er bis dahin stets vermieden hatte.

20. August 1968 Um 21 Uhr marschieren sowjetische, polnische, ungarische und bulgarische Truppen in die CSSR ein. Dubcek muss im April 1969 als KPC-Chef zurücktreten, nachdem es antisowjetische Ausschreitungen in der CSSR gegeben hatte.

12. November 1968 Breschnew verkündet auf dem Parteitag der polnischen Kommunisten seine "Breschnew-Doktrin": Die UdSSR werde auch künftig notfalls militärisch eingreifen, wenn sie die Interessen des sozialistischen Lagers bedroht sehe. Die Warschauer-Pakt-Staaten hätten nur eine begrenzte Souveränität.