Zabih und Abdul sind aufmerksame Gastgeber. »Trinkst du Tee?«, fragt Zabih freundlich und gießt aus einer grünen Thermoskanne dampfenden Schwarztee ein. Abdul rückt einladend ein Tütchen mit Zuckerguss-Mandeln zurecht. Klein ist das Reich der beiden jungen afghanischen Männer hier im Kirchenasyl der Himmelfahrtsgemeinde München-Sendling: Stockbett, Tisch, Regal, vor der Zimmertür eine Nische mit Kocher, WC und Dusche. 16 Quadratmeter, aber es ist warm und sicher. Und das ist viel mehr, als Zabih und Abdul in Bulgarien erwarten würde. Dorthin, in ihr erstes Ankunftsland in Europa, sollen sie nach den Vorschriften der Dublin-III-Verordnung abgeschoben werden.
Doch mit Bulgarien haben die beiden, die im Winter 2015 über Iran, Türkei und die Balkanroute nach Deutschland kamen, schlechte Erfahrungen gemacht. Zabih berichtet, dass er dort 17 Tage unter elenden Bedingungen im Gefängnis saß, geschlagen wurde und all sein Geld abgeben musste. »Ich kann nicht zurück«, sagt der stille junge Mann und schüttelt sacht den Kopf. Abdul erzählt genauer: »In Bulgarien war ich 15 Tage im Gefängnis, meine Hände waren gefesselt, es gab kein Fenster, kein Essen, kein Trinken.« Der 22-Jährige trank das Wasser aus der Toilette. Er sei oft geschlagen worden und kam zweimal vor Gericht. Die Richterin habe ihm mit drei Jahren Haft gedroht, sollte er nach Bulgarien zurückkehren. Der Abschiebebefehl hat Abdul zurückkatapultiert in traumatische Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und Suizidgedanken.
Daheim gilt er als Christ und Verräter
Dass solche Erlebnisse kein Einzelfall sind, weiß Stephan Reichel, seit 1. Januar Koordinator für Kirchenasyl der bayerischen Landeskirche. Er hat ein Dossier zum Umgang mit Flüchtlingen in Bulgarien und Ungarn erstellt, das von Gewalt, Erniedrigung, Hunger, Durst, Kälte, Schmutz, Krankheit und Willkür handelt. Für Bulgarien könne man nicht sicher sagen, ob es sich dabei um staatlichen Vorsatz handele – für Ungarn hingegen schon. Mitte Januar erst hatte Ministerpräsident Viktor Orbán verkündet, dass Flüchtlinge in Ungarn künftig grundsätzlich in »fremdenpolizeiliche Schutzhaft« genommen werden sollen. »Das ist mit Blick auf EU-Recht grob rechtswidrig«, sagt Reichel. Er fordert, dass die Abschiebung nach Bulgarien und Ungarn ausgesetzt wird.
Bis jedoch eine politische Lösung gefunden ist, haben Gemeinden wie die Himmelfahrtskirche viel zu tun. 80 Personen befinden sich aktuell unter dem Schutz von 50 evangelischen Gemeinden in Bayern. 90 Prozent aller Kirchenasyle gelten Menschen, denen als Dublin-Fälle die Rückschiebung nach Bulgarien oder Ungarn droht. »Wir halten es für nicht verantwortbar, wenn Menschen, die durch ihre Fluchtgeschichte bereits traumatisiert sind, noch mal in eine so belastende Situation gebracht werden«, sagt Pfarrerin Andrea Borger. Der Kirchenvorstand der Himmelfahrtskirche habe bereits 2014 nach gründlichen Gesprächen beschlossen, in humanitären Notfällen Kirchenasyl zu gewähren. Rund zehn Personen haben in Sendling seither Zuflucht gefunden, mal für wenige Wochen, mal für mehrere Monate.
Derzeit sind es Zabih und Abdul, die das ehemalige Besprechungszimmer im Pfarramt bewohnen und sich die kleine Teeküche mit den Sekretärinnen teilen. Ihr Radius ist stark eingeschränkt – weiter als bis in den Garten dürfen sie nicht, sonst verlieren sie den Schutz der Kirche. »Das ist manchmal ein bisschen schwer«, sagt Zabih. Unter dem Bett lugt ein Expander hervor, mit dem die jungen Männer etwas Sport treiben. Der Computer auf dem Tisch ist ein wichtiges Fenster nach draußen. Via Mail und Facebook halten sie Kontakt zu Freunden und Familien – wenn möglich. »Mein Stiefbruder hat meinem kleinen Bruder den Kontakt zu mir verboten«, erzählt Zabih bedrückt. Weil er als Muslim Schutz im Kirchenasyl gesucht hat, gilt er daheim jetzt als Christ und Verräter. »Das ist schwer für mich«, sagt er.
Jeden Vormittag kommen Ehrenamtliche, um zwei Stunden mit den beiden Deutsch zu üben. Einer von ihnen ist Heinz Gramel, den sie respektvoll »Herr Lehrer« nennen. Der 67-Jährige mit dem aufgezwirbelten Schnauzer ist seit Juni 2016 Teil des zwölfköpfigen Helferteams, vorher war er in Himmelfahrt nicht aktiv. »Wir können die große Politik nicht beeinflussen, sondern nur im Kleinen helfen«, sagt der pensionierte Lehrer. Nicht zu wissen, ob seine Schützlinge in Deutschland bleiben können, findet er hart. Abdul und Zabih sind ihm ans Herz gewachsen. Gramel hofft, dass auch er bei ihnen Spuren hinterlässt – und sei es durch solide Deutsch-Kenntnisse, die ihnen auch anderswo nützlich sein können.
»Der Unterricht ist eine glückliche Zeit«, sagt Abdul und lächelt. Auch den Rest des Tages pauken die beiden oft Deutsch – Zabih zieht ein liniertes Buch aus dem Regal, Seite um Seite eng beschrieben, auf Deutsch mit Übersetzung ins Farsi. »Ich muss Deutsch lernen, damit ich arbeiten kann«, sagt der gelernte Schweißer. Abdul wiederum malt sich die vielen schrecklichen Erlebnisse seiner Flucht von der Seele. Zwei seiner Bilder schmücken das Zimmer: ein Wolf, der den Mond anheult, und eine Deutschlandfahne mit dem Schriftzug »Love«. Daneben prangt ein Foto von Andrea Borger – das Gemälde, das Abdul davon angefertigt hat, hängt in der Pfarrerswohnung.
Die freiwillige Zwangsgemeinschaft in Himmelfahrt hat Zabih und Abdul zu Freunden gemacht. Die Aufgaben sind klar verteilt: »Zabih kocht sehr, sehr gut, dafür mache ich sauber«, sagt Abdul. Die Mini-Hausordnung, die sie bei ihrem Einzug unterschrieben haben, brauchen die beiden nicht. Streit gibt es selten, nur einmal hätten sie zwei Tage lang nicht miteinander gesprochen. »Aber dann mussten wir beide über einen Film lachen, und haben wir uns wieder vertragen«, sagt Abdul und sieht Zabih freundlich an. Für beide neigt sich die Zeit im Kirchenasyl dem Ende zu. Abduls Überstellungsfrist ist bereits abgelaufen, er wartet jetzt auf die Zuteilung zu einer Gemeinschaftsunterkunft. Zabih muss noch einen Monat ausharren, bevor zumindest Bulgarien keine Gefahr mehr für ihn ist.
Unausgesprochen schwebt die Hoffnung in dem kleinen Zimmer, dass ihren Asylanträgen in Deutschland stattgegeben wird. Zabih hatte in Afghanistan als Schweißer für die Amerikaner gearbeitet. Die islamistischen Taliban sperrten ihn dafür ein; seine Enthauptung war für den folgenden Tag angesetzt. Ein Freund befreite ihn und musste selbst dafür sterben. Zabih floh, doch von den Islamisten hat er es schriftlich, dass sie ihn umbringen, wenn er zurückkommt. Abdul wurde schon als Achtjähriger von den Taliban geschlagen, weil sie ein Englischbuch bei ihm fanden. Später waren seine Probleme so groß, dass er floh – mit Bussen, Pick-ups, zu Fuß, barfuß, ohne Essen, von Räubern überfallen, von Schleppern erpresst. Auch Abdul muss in seiner Heimat um sein Leben fürchten.
Hoffen, bangen, warten
Doch ob ihr Antrag Erfolg haben wird, steht in den Sternen. Der Bundesinnenminister hält manche Gebiete in Afghanistan für sicher genug, um Flüchtlinge dorthin abzuschieben. Flüchtlingsorganisationen und auch die evangelische Kirche sind anderer Ansicht. Die bayerische Landessynode hatte bei ihrer Herbsttagung gefordert, die Abschiebung in das Land am Hindukusch auszusetzen. Und Landesbischof Bedford-Strohm hatte nach der ersten Sammelabschiebung am 14. Dezember gesagt: »Solange es erhebliche Zweifel an der dortigen Sicherheit gibt, bleiben Abschiebungen nach Afghanistan problematisch.«
Diese Zweifel hat das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen in seinem jüngsten Bericht vom Dezember 2016 bekräftigt: Die Sicherheitslage in Afghanistan habe sich seit April 2016 »insgesamt nochmal deutlich verschlechtert«. Das Konzept der Bundesregierung, von »sicheren« und »unsicheren« Gebieten zu sprechen, lehnt das UNHCR ab: »Die Sicherheitssituation verändert sich ständig.« Dennoch seien die Anerkennungszahlen für afghanische Flüchtlinge in Deutschland von 78 Prozent in 2015 auf 60 Prozent in 2016 zurückgegangen. Für Abdul und Zabih beginnt also bald eine neue Zeit von Hoffen, Bangen und Warten.