Im Jahr 1921 begibt sich an der Universität Göttingen Unerhörtes: Ein Außenseiter ohne alle akademischen Weihen wird auf einen theologischen Lehrstuhl berufen, der weder über Doktortitel noch Habilitierung verfügende Schweizer Pfarrer Karl Barth, der die Bauern- und Arbeitergemeinde Safenwil im Aargau betreut.

Die Göttinger Fakultät müsse von allen guten Geistern verlassen sein, lästern viele Kollegen und fühlen sich bestätigt, als der ungebärdige Neuling seinen "Römerbrief"-Kommentar herausgibt, ein auf jeden wissenschaftlichen Apparat verzichtendes und in einem aufgeregt-prophetischen, hemdsärmeligen Stil geschriebenes Buch, das eher an die expressionistische Literatenszene erinnert als an solide bibeltheologische Arbeit.

Kirchenvater des 20. Jahrhunderts

Doch Barths Paulus-Auslegung schlägt bei den Studenten und den Pfarrern draußen wie eine Bombe ein. Bis heute begründet die kantig-widerborstige Theologie dieses Werks – zusammen mit der später erschienenen monumentalen "Kirchlichen Dogmatik" – Barths Ruf als "Kirchenvater des 20. Jahrhunderts".

Gegen die Versuchung des liberalen Kulturprotestantismus, bloß noch eine biedere Bürgerreligion zu verkünden, angepasst und gefällig, klagt er den Ärgernis-Charakter des Evangeliums ein.

Gott darf nicht zu einem guten Kumpel verharmlost, zu einem braven Garanten bürgerlicher Wohlanständigkeit domestiziert werden,

das ist Barths Sorge. Er zieht gegen das peinliche Bündnis von Thron und Altar zu Felde, gegen die widernatürliche Allianz von Gott und etablierten Mächten, Monarchen und Bankiers, Fabrikherren und Besitzbürgern.

Sein Gott ist zunächst einmal der ganz Andere, Unfassbare, unbegreiflich Fremde. "In Jesus erwehrt sich Gott aller zudringlichen Vertraulichkeit, aller religiösen Unverschämtheit", schreibt Barth und prägt die Kurzformel "Gott ist im Himmel und du auf Erden!" Nur wer vor diesem Gott bis ins Mark erschrickt, vermag seine frei und souverän geschenkte Liebe als das Wunder zu erfahren, das sie ist.

In einem kraftvollen Rundumschlag gegen Pietisten, Mystiker und Moralisten – die allesamt über Gott verfügen, ihn sich gewogen machen wollen, mit Gefühl, Ekstase und guten Werken – stellt Karl Barth ein neues Dogma auf: Religion ist Sünde, "Atheismus ist das eigentliche Wesen der Kirche". Denn: Religion versucht Gott in einem hybriden Brückenschlag zu vereinnahmen, auf die menschliche Ebene zu ziehen.

Besessene Visionäre haben keine Zeit für Zwischentöne

Gewiss kann man über solche Akzentsetzungen streiten – die Theologen tun es bis heute – und fragen, ob der in Jesus Mensch gewordene Gott nicht gerade auf seine Distanz zur Welt verzichtet und sich mit den Menschen bedingungslos gemein gemacht hat. Gewiss kann man Barths Rede von der "senkrecht von oben" in die Menschenwelt einbrechenden Gnade kritisieren und seine drastische Herabminderung des Menschen zum "Hohlraum" und "Einschlagstrichter" für Gottes Offenbarung. Vergisst er dabei nicht, dass alle menschliche Existenz – christlich gedacht – erst in der Begegnung mit Gott ihre letzte Tiefe erhält und wie sehr sich der Mensch nach einer Liebe sehnt, die bleibt und nicht enttäuscht? Aber produktive Denkansätze sind immer einseitig. Besessene Visionäre haben keine Zeit für Zwischentöne.

Später hat Karl Barth dann auch die Menschlichkeit dieses bestürzend fremden Richtergottes stärker akzentuiert: Gott sei Gott gerade durch seine ungeschuldete Liebe. "Gott ist der von ihm geschaffenen Welt nicht nur fern, sondern auch nah, nicht nur fern ihr gegenüber, sondern (auch) gebunden an sie." In Christus wird der unnahbare Gott berührbar.

Auch da erweist sich Barth freilich wieder als Provokateur. Denn sein Beharren auf der zentralen Rolle des Mensch gewordenen Gottes verbindet er mit scharfzüngiger Kritik an gefährlichen "Konkurrenzgöttern": Bei den Katholiken sei es der unfehlbare Papst, bei den Protestanten das fromme Ich – Menschen statt Christus als letzte Instanz.

Barths Kirchenkarriere war so untypisch wie der ganze Mann: Aus einer reformierten Schweizer Theologenfamilie stammend, verließ er nach seinen Studien – in Bern, Berlin, Tübingen und Marburg – die Hochschule, um in einer kleinen Gemeinde mit viel Industrieproletariat Seelsorge zu betreiben und sich den Sozialdemokraten anzuschließen. Die eigentliche Herausforderung sei es gewesen,

"mich zurechtzufinden zwischen der Problematik des Menschenlebens auf der einen und dem Inhalt der Bibel auf der anderen Seite. Zu den Menschen, in den unerhörten Widerspruch ihres Lebens hinein sollte ich ja als Pfarrer reden, aber reden von der nicht minder unerhörten Botschaft der Bibel, die diesem Widerspruch des Lebens als ein neues Rätsel gegenübersteht".

Als Hilfsprediger in Genf hatte er eine seiner ehemaligen Konfirmandinnen geheiratet, eine talentierte Violinistin. 1921 der überraschende Ruf nach Göttingen, dann Lehrstühle in Münster und Bonn. Barth über seinen Römerbrief-Kommentar: "Blicke ich auf meinen Weg zurück, so komme ich mir vor wie einer, der, in einem dunklen Kirchturm sich treppaufwärts tastend, unvermutet statt des Geländers ein Seil ergriffen, das ein Glockenseil war, und nun zu seinem Schrecken hören musste, wie die große Glocke über ihm soeben und nicht nur für ihn bemerkbar angeschlagen hatte."

Staunende Kollegen bescheinigten dem Buch, es habe in einer neuen Sprache die Grundbotschaft der Reformation, ihre Sicht von Gott, vom Menschen und vom Glauben, wiederentdeckt. Barth selbst sprach gern vom ganz neuen "Ton vom Ostermorgen" in der Bibel, der die alte von Frustration und Todverfallenheit bestimmte Welt überwinde, aber von der angepassten Betriebsamkeit und Gesinnungsmoral der Kirchen übertönt werde.

Wortführer der Bekennenden Kirche

Fünf Jahre später kostete ihn sein Kampf gegen die Gleichschaltung der Gewissen und die von den Nationalsozialisten erfundenen "Deutschen Christen" den Lehrstuhl. Mit seiner Schrift "Theologische Existenz heute" war er zum Wortführer der "Bekennenden Kirche" geworden. Barth hatte 1934 auch den Entwurf zur "Barmer Erklärung" geliefert, in der die zur "Bekenntnissynode" versammelten Vertreter von achtzehn Landeskirchen ihre Treue zu Jesus Christus als einziger Offenbarung Gottes "im Leben und im Sterben" erklärten: "Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Wort Gottes auch noch andere Ereignisse, Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung erkennen."

Bei den "Deutschen Christen" hat Barth sogleich die ihm so verhasste Bürgerreligion gewittert, die den wehrlosen Gott jedem beliebigen Weltbild anpasst, aus dem jüdisch-christlichen Schöpfer aller Völker einen germanischen Ober-Wotan macht und ihn mit einer martialischen Kriegstheologie für die eigenen Eroberungsarmeen in Dienst nimmt.

Den von der Beamtenschaft verlangten Eid auf Hitler wollte Karl Barth nur mit dem Zusatz leisten "soweit ich es als evangelischer Christ verantworten kann". Daraufhin wurde er im November 1934 von seinem Professorenamt suspendiert. Er ging zurück nach Basel; von dort aus rief er die Tschechen zum militärischen Widerstand gegen den drohenden deutschen Einmarsch auf: "Jeder tschechische Soldat, der dann streitet und leidet, wird es auch für uns – und ich sage es heute ohne Vorbehalt: er wird es auch für die Kirche Jesu Christi tun, die in dem Dunstkreis der Hitler und Mussolini nur entweder der Lächerlichkeit oder der Ausrottung verfallen kann."

Mut zum politischen Widerstand

Es mag merkwürdig klingen, aber die oft hämisch belächelte und mit frommer oder feministischer Empörung bekrittelte Ménage-à-trois, in der Barth seit 1925 mit etwas schlechtem Gewissen und viel Behagen lebte, heizte seinen Mut zum politischen Widerstand kräftig an. Und zwar so sehr, dass er sich als Vierundfünfzigjähriger bei der Schweizer Bundeswehr zum Volkssturm meldete, bei der V. Bewachungskompanie; schließlich erwartete man ernsthaft den Einmarsch deutscher Truppen.

Die gelernte Krankenschwester, Sozialpädagogin und Stenotypistin Charlotte von Kirschbaum, genannt "Lollo", hatte zuerst Barths Theologie und dann den Mann Karl Barth lieben gelernt. Sie stenografierte seine Predigten mit, lernte mit zäher Energie und erstaunlicher Begabung in ein paar Jahren Latein, Griechisch und Hebräisch, sammelte Tausende und Abertausende von Notizen, Quellenzitaten und Querverweisen für Barths gerade entstehende vierzehnbändige "Kirchliche Dogmatik" – und zog 1929 in das Haus von Karl Barth und seiner Ehefrau Nelly ein.

Die Dreiecksbeziehung war nicht immer einfach, funktionierte aber überraschend gut, weil sich alle Beteiligten mochten und respektierten und die Situation nicht als Katastrophe, sondern als interessante Aufgabe betrachteten (lediglich die Kinder übten später harsche Kritik). Karl Barth dachte nicht daran, das Leben zu dritt nach außen hin als engelhafte Josefsehe zu verkleistern, sondern bekannte freimütig, es handle sich um eine "durchaus irdische Liebe", freilich begleitet von demütigem "Beten füreinander" und bisweilen von einer "von allen dreien zu tragenden Traurigkeit".

Hilfe für den ins KZ Sachsenhausen verschleppten Pastor Niemöller

"Lollo" unterstützte ihn jedenfalls ebenso energisch wie erfinderisch bei seinen nicht ungefährlichen Widerstandsaktivitäten. Sie knüpfte zahllose Kontakte zu Mitgliedern der "Bekennenden Kirche", engagierte sich im "Freien Deutschland", einer Schweizer Bewegung, die – misstrauisch von den Behörden beobachtet – den Umsturz und eine neue demokratische Regierung in Deutschland vorzubereiten suchte, und organisierte Hilfe für den ins KZ Sachsenhausen verschleppten Pastor Niemöller.

Barths Studenten nannten ihn mittlerweile "Karl den Großen" oder, mit respektvoller Zärtlichkeit, "Väterchen". Nach Kriegsende beteiligte er sich an der Debatte um den geistigen Neuaufbau Deutschlands und an der Gründung des Ökumenischen Weltrats der Kirchen. Der prophetische Auftrag der Kirche beinhalte immer ein politisches Wächteramt und gleichzeitig einen sozialen Samariterdienst, sagte er auf der Weltkirchenkonferenz von Amsterdam 1948, wo er das Hauptreferat hielt. 1963 lud ihn das römische Sekretariat für die Einheit der Christen ein, als Beobachter am Konzil teilzunehmen; wegen Krankheit konnte er der Einladung nicht folgen, reiste dann aber später noch zu Papst Paul VI. und seinem obersten Glaubenswächter, Kardinal Ottaviani.

Noch als alter Herr nervte er das Establishment

In seiner zweiten Heimat Deutschland, wo er mittlerweile Gastvorlesungen in Bonn und Münster hielt, kämpfte "Väterchen" gegen alte Nationalsozialisten und neue Kalte Krieger, gegen Wiederbewaffnung und Konsumfetischismus. Frommen Vergangenheitsverdrängern warf er vor, "der politischen Verantwortung in die Tiefe der Religiosität zu entwischen". Er konnte es nicht mehr hören, wenn Theologen schaudernd erzählten, damals hätten sie "dem Satan in die Augen geblickt". Barth: "Warum redet ihr immer nur von Dämonen? Warum sagt ihr nicht konkret: Wir sind politische Narren gewesen?"

Noch als alter Herr nervte er das Establishment. Statt sich durch Remilitarisierung auf neue Kriege vorzubereiten, solle man lieber alles daran setzen, "durch Wiedervereinigung und Neutralisierung" eine "solide Brücke" zwischen Ost und West zu errichten, schrieb er den Bonner Politikern ins Stammbuch. Daraufhin erklärte Bundespräsident Theodor Heuss 1958, wenn die westdeutschen Buchhändler wirklich dem zweiundsiebzigjährigen Karl Barth ihren "Friedenspreis" verleihen sollten, werde er nicht zur Feier kommen. Den Preis bekam dann Barths Basler Philosophenkollege Karl Jaspers.

Am 10. Dezember 1968 starb Karl Barth. Seine Freundin und Muse Charlotte von Kirschbaum sollte ihn um sieben Jahre überleben, geistig stark verwirrt. Der greise Karl Barth hatte sie jeden Sonntag im Pflegeheim nahe Basel besucht. Ein Jahr später starb auch seine Ehefrau Nelly. Alle drei ruhen im Familiengrab.