In einer Kirche, in der Theologendynastien weniger die Ausnahme als die Regel sind, ist eher er die Ausnahme: Norbert Ellinger, 1963 in einem Dorf bei Weißenburg geboren, kommt aus einer Arbeiterfamilie. Sein Vater schaffte in einer Brauerei, die Mutter kam von einem Bauernhof. Gemeinsam mit seinem Bruder gehört ihm noch ein Acker in Mittelfranken. Der ist verpachtet, aber "verkaufen werden wir den auf keinen Fall", sagt Ellinger. Die Musik, die zu Hause lief, war "mehr so Heintje als Bach", er sei ein "sozialer Aufsteiger durch die Bildungsreform von Willy Brandt". Als Gymnasiast und Internatsschüler des Windsbacher Knabenchors kam er mit der sogenannten Hochkultur in Kontakt. In der ganzen großen Familie war er der Erste, der studierte.

Viele Perspektiven auf die Seelsorge

Norbert Ellinger bringt viele Perspektiven auf die Seelsorge mit – nicht nur wegen seiner Herkunft. Seine Frau, eine Sonderschullehrerin, ist katholisch. Die beiden haben fünf Kinder: Die jüngste ist zwölf, der älteste 29. Eines ihrer Kinder ist mehrfach schwerstbehindert.

Nach dem Vikariat in Neufahrn bei Freising war Norbert Ellingers erste Pfarrstelle in Brasilien, wo er – außer in Neuendettelsau und Tübingen – auch studiert hat. In Brasilien verliebt hatte er sich 1983, als er zum Lutherjahr mit den Windsbachern dort vier Wochen auf Tournee war. Die Befreiungstheologie hat ihn fasziniert: In São Paulo studierte und erlebte er eine Kirche unter den Bedingungen einer Diktatur. Gerechtigkeit war das leitende Thema: Bleibt die Kirche konform mit den herrschenden Verhältnissen? Oder ergreift sie Partei für die Armen? "Die Kirche in Deutschland war damals noch weitgehend unpolitisch", sagt Ellinger. "Das hat sich gedreht. Fast schon zu sehr."

Zu viel "Strukturen", zu wenig Seelsorge

So, wie es im spirituellen Leben eines Menschen eine Pendelbewegung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit gebe, könne man das auch an der Kirche insgesamt beobachten. Ähnlich wie sein Vorgänger in der Sprechstunde, Waldemar Pisarski, beklagt auch Norbert Ellinger, dass die Seelsorge heute in der Kirche zu kurz kommt. Wenn manche Gemeinden im letzten Jahr bis zu zehn Prozent ihrer Gemeindemitglieder verloren haben, komme man um die Frage "Warum gehen die?" einfach nicht mehr herum, meint Ellinger. Gesprochen werde auf den Synoden über Strukturen und Politik. Alles wichtige Themen, die da verhandelt werden, doch die Kirche sollte auch Selbstkritik üben. Müsste nicht der Kontakt zu den Menschen für die Kirche und ihr Personal oberste Priorität haben?

Sechs Jahre war Norbert Ellin­ger in Rio de Janeiro Pfarrer der brasilianischen Kirche. Zu brasilianischem Gehalt und den einheimischen Kollegen gleichgestellt, nur die Rente wurde in Deutschland eingezahlt. 1999 kam die Familie nach Deutschland zurück. Ellinger übernahm die Leitung des Collegium Oecumenicum in Freimann. Als Begleiter von Theologiestudierenden wohnte er mit auf dem Campus. Außerdem gehörte zu seinen Aufgaben der Kontakt zu den zahlreichen Auslandsgemeinden in München, zu Finnen, Chinesen, Indonesiern und vielen anderen. Auch in seinen zwölf Jahren als Freimanner Gemeindepfarrer ging diese Arbeit weiter. Die Hoffnungskirche ist bis heute für ihre internationalen Gottesdienste und Feste bekannt.

Vom Studium bis zur "Münchner Insel"

Zur Seelsorge und besonders zum weiten Feld der Psychologie hat ihn ein Tübinger WG-Mitbewohner gebracht. Einem ersten Kurs in "Klientenzentrierter Gesprächsführung" nach Carl Rogers folgten über sein Pfarrerleben hinweg viele weitere Ausbildungen. In der Kommunikationspsychologie beispielsweise, bei Friedemann Schulz von Thun, der das auch Laien bekannte "Vier-Ohren-Modell" oder "Nachrichtenquadrat" formulierte – die Sache mit den vier Kommunikationsebenen, die in jeder zwischenmenschlichen Äußerung stecken. 75 Prozent des Erfolgs in der Seelsorge, sagt Ellinger, seien "gelingende Kommunikation und nicht geschliffene theologische Argumentationsfähigkeit". Ausbildungen hat er auch in der Online-Beratung und als Notfallseelsorger; er ist zertifizierter "Systemischer Supervisor und Coach" sowie bei der Akademie St. Paul ausgebildeter "Geistlicher Begleiter".

Noch im Studium wurde er selbst Tutor und Ausbilder. Dass es in der Beratung um "Empathie, Akzeptanz, Authentizität" geht, habe er also "mit der Muttermilch eingesogen", schmunzelt Ellinger. Als er viele Jahre später 2015 Ausbilder in der Telefonseelsorge wurde, hat sich der Kreis geschlossen. Im Oktober 2021 hat Norbert Ellinger die evangelische Leitung der "Münchner Insel" übernommen: In der ökumenischen Beratungsstelle im Sperrengeschoss des U-Bahnhofs Marienplatz bekommen Menschen anonym und kostenlos Hilfe – auch ohne vorherige Anmeldung.

Ganz beim anderen und bei sich

"Jeder Tag ist eine Überraschung in der Münchner Insel", sagt Ellinger. Man wisse nie, wer und wie viele Menschen kommen. Wegen Beziehungs- und Partnerschaftsnöten, mit psychischen Krisen, sozialen Problemen oder weil sie ein Behördenschreiben nicht verstehen. Vor allem Depressionen haben in der Corona-Zeit zugenommen: "Die letzten zwei Jahre haben enorm an den Menschen genagt", sagt Ellinger. "Permanenter Krisen- und Panikmodus macht die Menschen krank."

Als Gemeindepfarrer habe er am liebsten Tauf- und Beerdigungs­gespräche geführt, sagt Ellinger. Lebensgeschichten zu hören, werde nie langweilig: "Der Mensch ist das Interessanteste, was es überhaupt gibt." Seelsorge gibt es – wie das menschliche Leben überhaupt – nicht ohne Beziehung, weiß Ellinger: "Das ist der Schlüssel." Seelsorge sei auch deshalb so befriedigend, weil "ich ganz beim anderen und ganz bei mir bin – und sein muss".


 

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