Vor gut 28 Jahren, in der Nummer 15 vom 10. April 1994 zum Sonntag Quasimodogeniti, erschienen Waldemar Pisarskis erste Sprechstunden im Sonntagsblatt. Es waren gleich zwei: "Herr A. (35)" wollte wissen, ob er trotz der Tratscherei in seiner Gemeinde wieder für den Kirchenvorstand kandidieren soll. Und "Frau M. (57)" fürchtete, zum Sorgen­abladeplatz für andere zu werden. Ihr antwortete Pisarski mit einem weisen jüdischen Witz. Bis heute sind mit den Jahren fast 750 "Sprechstunden" dazugekommen.

Es war eine andere Welt damals: In der ARD lief noch die Talkshow von Fernsehpfarrer Fliege, Landesbischof war Johannes Hanselmann (kurz darauf wurde Hermann von Loewenich gewählt), diskutiert wurden in der Landeskirche Dinge wie die Abschaffung des Buß- und Bettags zur Finanzierung der Pflegeversicherung, das Thema Kirchenasyl oder eine neue Partnerschaft mit El Salvador.

Eine europäische Familie

Die Sprechstunde ist eine der dauerhaftesten und beliebtesten Rubriken im Sonntagsblatt. Es gibt sie seit 1972. Wer für sie schreibt, zeigt sich – nicht nur mit Gesicht und Namen, sondern auch mit Herz und Seele, anders geht Seelsorge nicht. Waldemar Pisarski hat das auf unverwechselbare Weise getan: einfühlsam, lebensklug und humorvoll.

Vom Internet wussten im April 1994 die wenigsten. Briefe kommen heute weniger als früher. Beide Sonntagsblatt-Seelsorger greifen auch Begegnungen und Fälle aus ihrer Beratungspraxis auf. Die Sprechstunden-Werkstatt von Waldemar Pisarski darf man sich so vorstellen: Ein paar Tage lang liegt ein Brief auf seinem Schreibtisch, wird immer wieder gelesen und bedacht. Dann folgt ein erster Antwort-Entwurf. "Manchmal bilde ich mich dafür etwas fort, recherchiere und lerne. Die Sprechstunde war für mich nie nur ein Geben, immer auch ein Empfangen. Ich habe das immer als ein Privileg empfunden", sagt Pisarski.

Gründergestalt der Seelsorgebewegung

Waldemar Pisarski darf man mit Recht als eine Gründergestalt der Seelsorgebewegung in Bayern bezeichnen. Ab 1966 studierte und arbeitete er in den USA, lernte von großen Psychotherapeuten wie Carl Rogers (1902-1987) oder Howard Clinebell (1922-2005), dessen Buch "Beratende Seelsorge" er ins Deutsche übersetzte. Ab 1974 baute er am Münchner Klinikum Großhadern die klinische Seelsorge-Ausbildung für die Landeskirche auf. Als ihm die Arbeit als Pfarrer der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau Ende der 1980er-Jahre immer schwerer fiel, entdeckte er – zunächst für sich persönlich –
die Gestaltarbeit als therapeutischen Ansatz. "­Gestaltisch" zu arbeiten heißt, mit beispielsweise alltäglichen Gegenständen oder dem eigenen Körper zu einem spielerischen Ausdruck eines seelischen Geschehens zu finden. Deswegen steht in seinem Augsburger Arbeits- und Beratungszimmer ein Korb mit Puppen, Bällen und Spielsachen. Als Enkel Marley noch klein war, hat er schon messerscharf erkannt: "Damit heilt der Opa."

Viel hat sich verändert seit 1994. Seiner schwindenden Kirche wünscht Pisarski, dass sie seelsorgerlicher wird, statt sich zu sehr mit Strukturen und Verwaltung beschäftigen zu müssen: "Seelsorge ist die Muttersprache der Kirche", sagt er. Aber für viele Menschen sei die Kirche keine Heimat mehr, die kirchliche Sprache unverständlich.

Eigene Traumata des Flüchtlingskinds

Immer wieder haben ihn Briefe länger umgetrieben. Nicht zuletzt solche, die an eigene Traumata rührten. Pisarski, 1942 in Polen in eine deutsch-polnische Familie geboren, Flüchtlingskind, geht der Ukrainekrieg sehr nah: "Die Berichte von Vergewaltigungen, die Luftschutzsirenen – das Leid und die Schrecken der Flucht, all das holt mich gerade wieder ein, obwohl ich damals noch sehr klein war", sagt er.

Seine europäische und bunte Familie ist wie ein Gegenmodell zum Elend des gewalttätigen Nationalismus. Tochter Tatjana und ihr Mann Delroy, dessen Familie aus Jamaika kommt, leben in London. Sie und ihre drei Kinder gehören dort einer anglikanischen Gemeinde an. Statt in der heimischen Auferstehungskirche in Augsburg feiern die Pisarskis oft per Zoom mit ihnen und den Enkelkindern in London den Sonntagsgottesdienst.

Und noch zu etwas anderem Guten dient das Internet: In seiner Jugend war Waldemar Pisarski mal oberfränkischer Schachmeister. In der Coronazeit hat er das Schachspiel neu entdeckt – bei Fernpartien am Computer und auch gemeinsam mit seinem 11-jährigen Enkel Marley. Für ihn und seine Schwestern Lola und Ella, die gerade an der Elite-Uni Oxford aufgenommen wurde, können sich Waldemar Pisarski und seine Frau Angelika nun noch mehr Zeit nehmen.


 

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden