Viel wurde in den vergangenen Jahren über das Scheitern der 68er-Bewegung gesagt und geschrieben, über ihr politisches Versagen angesichts der aufstrebenden terroristischen RAF in den 1970er-Jahren oder ihr gesellschaftliches Scheitern in den konservativ geprägten 80ern Helmut Kohls. Wandelbare Biografien hielten her als Beweis, dass die Ideale allesamt verraten wurden: die Revolutionäre von damals – heute in Schlüsselpositionen bei Banken und Konzernen.

So ganz nebenbei geriet die Entmythologisierung auch zur Anklage: Der Werteverfall in Staat, Gesellschaft und Familie ginge auf das Konto der linken Gesellschaftsveränderer, so die gängige Analyse. Liest man die Tagebücher von Rudi Dutschke, so gibt es schon einmal einen, auf den dies alles so nicht zutreffen kann: Der charismatische Studentenführer, Aktivist der außerparlamentarischen Opposition und das Feindbild der Springer-Presse offenbart sich als liebevoller Familienmensch – und als Christ.

"Manche lachten hinter seinem Rücken"

Gott und Jesus spielten eine Rolle im Denkgebäude des Sohns einer protestantischen Mutter. Ostern 1963 notierte er in seinem Tagebuch: "Jesus ist auferstanden, Freude und Dankbarkeit sind die Begleiter dieses Tages; die Revolution, die entscheidende Revolution der Weltgeschichte ist geschehen, die Revolution der Welt durch die alles überwindende Liebe. Nähmen die Menschen voll die offenbarte Liebe im Für-sich-Sein an, die Wirklichkeit des Jetzt, die Logik des Wahnsinns könnte nicht mehr weiterbestehen."

Ein Jahr später, inzwischen Aktivist der "Subversiven Aktion", überhöht er Jesus zum romantischen Ideal. "In diesen Stunden verschied im keuchenden Morgenlande der Welt größter Revolutionär – Jesus Christus", notierte er am 27. März 1964. Die "nicht wissende Konterrevolution" habe ihn ans Kreuz geschlagen.

Dutschke mischt sein traditionelles Jesusbild mit revolutionären Idealen und vermerkt: "Christus zeigt allen Menschen einen Weg zum Selbst – diese Gewinnung der inneren Freiheit ist für mich allerdings nicht zu trennen von der Gewinnung eines Höchstmaßes an äußerer Freiheit; die gleichermaßen und noch mehr erkämpft sein will. Den Anspruch Jesu, ›mein Reich ist nicht von dieser Welt‹, kann ich nur immanent verstehen; natürlich, die Welt, in der Jesus wirkte und arbeitete, war noch nicht die ›neue Wirklichkeit‹; diese galt und gilt es noch zu schaffen – hier und jetzt."

Befreundet mit "Golli" und "Golla"

Der Glaube lag in der Familie – Dutschkes Frau Gretchen promovierte beim Berliner Theologieprofessor Helmut Gollwitzer. Mit ihm und seiner Frau Brigitte verband die Dutschkes eine enge Freundschaft. Gollwitzer unterstützte die Anliegen der Studenten an der Freien Universität Berlin, Dutschke sah in ihm den väterlichen Ratgeber. In der intriganten linken Szene (diesen Eindruck erwecken die Tagebücher) sind "Golli" und seine Frau "Golla", wie er die beiden in seinen Auzfzeichnungen nennt, die verlässlichen Begleiter durchs Leben, besonders jedoch nach dem Attentat auf Dutschke 1967. Gollwitzer war es auch, der Rudi Dutschke beerdigte, als er 1979 an den Spätfolgen seiner Kopfverletzung starb. "Rudi Dutschke hat die Bergpredigt wörtlich verstanden", sagte Gollwitzer in seiner Traueransprache.

Glaube, Liebe, Hoffnung: "Unter Rudis Freunden gab es nur wenige, die das begriffen", schreibt Gretchen Dutschke im Nachwort der Tagebücher. "Manche lachten hinter seinem Rücken über ihn, hielten ihn für naiv." Sie hätten sich als "gläubige Christen" kennengelernt. "Der Glaube hat uns damals wohl am meisten verbunden", schreibt sie. "Besonders weil uns manchmal die menschliche Leere in der politischen Aktivität störte."

Befreiungsreligion Christentum

Rudi und Gretchen lasen zusammen die Schriften des evangelischen Theologen Paul Tillich, der für einen religiösen Sozialismus eintrat. "Rudi hielt das für richtig", erinnert sich seine Frau. "Christus stand für Befreiung, Christentum musste eine Befreiungsreligion sein, sonst war es bedeutungslos."

Der Glaube verlor für Dutschke an Bedeutung, die Hoffnung nicht. "Linke Zyniker fanden, dass Rudi kindlich gläubig war, weil er nicht war wie sie, sondern die transzendierende Hoffnung aufrechterhielt", schreibt Gretchen Dutschke. Und sie gesteht: "Dies war auch ein Grund, weshalb ich mich in ihn verliebte. Vielleicht klingt das verrückt. Aber es war so. Ich liebte diesen ›naiven Christen‹."

Gretchen Dutschke ging nach dem Tod ihres Mannes 1979 nach Amerika zurück, lebt aber seit 2010 wieder in Deutschland. Soeben erschien ihr neues Buch "1968".

 

Rudi Dutschke: "Jeder hat sein Leben ganz zu leben". Die Tagebücher 1963-1979. Hrsg. von Gretchen Dutschke. Kiepenheuer & Witsch, Köln; 432 Seiten, 29,90 Euro.