Ich erinnere mich noch gut an ihn, wie er auf die Bühne trat, sich in den eleganten Drehsessel setzte und mit wechselnd übergeschlagenem Bein vor über tausend Zuhörer:innen im Audimax sprach. Damals, im Rahmen der TUM Speakers Series. Knapp sechs Jahre ist es her, dass Tony Blair das Münchner Podium betrat, um über einen "furchtbaren historischen Fehler" seines Landes zu sprechen: den Brexit.
Hängen geblieben ist mir nicht nur sein Auftritt – Körpersprache, Aura, Bewusstsein für die Wirkung jedes Moments –, sondern auch seine Antwort auf die letzte Frage. Ein Student neben mir wollte wissen: Wie viel Geheimnis erträgt die Demokratie? Wie viele Türen dürfen geschlossen bleiben, bevor Vertrauen zur Bevölkerung zerbricht? Kurz: Wo endet Macht – und wo beginnt Vertrauen?
Macht und Vertrauen: Blairs Lehre aus der Demokratie
Blairs antwortete knapp: Ja, als Premierminister wisse er mehr als wir. Das sei Common Sense in einer Demokratie. Wer diese Macht erhalte, entschieden die Menschen selbst. Und wer Politikern dieses Vertrauen nicht schenken wolle, müsse sich fragen: Wen wähle ich eigentlich?
Blair hatte recht – zumindest, was die Machtfrage betrifft. Doch die zweite, entscheidendere Frage, die nach dem Vertrauen, ließ er unbeantwortet. Vielleicht, weil er wusste, was es bedeutet, Vertrauen zu verlieren. Ich erinnere mich außerdem an ein weiteres Detail jenes Abends: matt glänzende Chelsea-Boots, genagelte Sohle, bewusst knapp hochgeschnittene Anzughose. Wer Vertrauen verloren hat, inszeniert seinen Auftritt vermutlich umso sorgfältiger.
Irakkrieg und Vertrauensverlust: Die Hypothek Blairs
Heute präsentiert sich derselbe Mann als Friedensvermittler im Nahost-Konflikt, als jemand, der Vertrauen wiederherstellen will. In Großbritannien gilt Blair vielen als elitär und abgehoben. Diagnose: Vertrauensverlust. Dieses Wort hat ein Datum – 2003, Irakkrieg. Damals entschied Blair, Seite an Seite mit George W. Bush, in den Irak einzumarschieren und die Regierung zu stürzen – gestützt auf Geheimdienstinformationen über angebliche Massenvernichtungswaffen, die nie gefunden wurden. Später urteilte ein Untersuchungsbericht: Die Entscheidung sei voreilig und schlecht vorbereitet gewesen, friedliche Alternativen seien nicht ernsthaft geprüft worden.
Blair überschritt damals die Grenze zwischen legitimer Macht und Hybris. Er handelte, als läge das Vertrauen einer breiten Mehrheit in seiner Verfügung.
Nach dem Ende seiner Amtszeit trat Blair nicht nur der katholischen Kirche bei, sondern wurde auch Sondergesandter des Nahost-Quartetts aus UN, EU, Russland und USA. Acht Jahre lang versuchte er, den Friedensprozess zwischen Israel und Palästina zu fördern, wirtschaftliche Strukturen aufzubauen, Vertrauen zu schaffen. Der Erfolg blieb begrenzt.
2016 gründete er das Tony Blair Institute for Global Change, eine Beratungsorganisation für Regierungen weltweit. Zu den Partnern zählten auch autoritäre Regimes wie Ruanda oder Saudi-Arabien – was neue Zweifel an Blairs moralischer Konsistenz weckte. Gefördert wird das Institut unter anderem vom Tech-Milliardär Larry Ellison, einem engen Unterstützer Israels. Seit 2017 soll Ellison laut dem Guardian 16,6 Millionen Dollar an die Organisation "Friends of the Israel Defense Forces" gespendet haben, die Programme zur Unterstützung israelischer Soldat:innen finanziert. Die internationale Kritik an Blairs politischen und finanziellen Verbindungen folgte prompt - ein Muster, das sich durch seine gesamte politische Biografie zieht: die Verknüpfung von Macht, Hybris und moralischer Ambivalenz.
Irakkrieg und die Last der Verantwortung
Und heute ist Blair – der "Untote der internationalen Politik", wie ihn Nahost-Experte Daniel Gerlach kürzlich im Pioneerpodcast bezeichnete – plötzlich die prägende Figur im Friedensplan für den Nahostkonflikt. Im Rahmen des 20-Punkte-Plans von US-Präsident Donald Trump erhält Blair eine besondere Rolle: Er soll die in den letzten Tagen viel diskutierte Übergangsverwaltung in Gaza leiten. Der Plan, bekannt unter dem Namen "Gaza International Transitional Authority" (GITA), sieht Blair als Interimsverwalter vor, mit der Aufgabe, den Wiederaufbau zu koordinieren und die palästinensischen Verwaltungsstrukturen im Rahmen einer Reform zu stärken. Auf Trumps Wunsch kommt Blair eine zentrale operative Rolle zu – bildlich gesprochen agiert er wie ein "CEO" der Verwaltung, während die formale Leitung beim US-Präsidenten bleibt.
Unbestritten ist, dass Blair ein Kenner des Nahost-Konflikts ist, gut vernetzt und – oft übersehen – auch friedenserprobt. Während seiner Amtszeit spielte er eine zentrale Rolle am Karfreitagsabkommen von 1998, das einen politischen Rahmen schuf und die jahrzehntelangen Konflikte in Nordirland deutlich deeskalierte – ausgelöst durch Spannungen zwischen der überwiegend protestantischen Bevölkerung, die Teil Großbritanniens bleiben wollte, und der überwiegend katholischen, die eine Vereinigung mit Irland anstrebte.
Doch eine Frage bleibt: Für wen handelt Blair hier wirklich? Wem dient sein Engagement?
Kritische Stimmen aus der Labour-Party sehen in ihm ein Symbol für koloniale Fremdbestimmung: Schon wieder ein Pakt mit den USA, rein westliche Interessen und Machtverhältnisse. Andere wiederum betonen primär den praktischen Nutzen für einen Friedensprozess.
Und worum geht es Blair selbst? Vielleicht um einen Akt der Buße – eine Gelegenheit, seinen moralischen Kredit nach den umstrittenen Entscheidungen seiner Regierung neu zu verhandeln. Wenn dem so ist: Ist das falsch? Auffällig ist, dass offenbar niemand daran Anstoß nimmt, dass ein mehrfach vorbestrafter autoritärer US-Präsident nun als Friedensbringer auftritt – gemessen an den bisherigen Ergebnissen, deren langfristige Wirkung freilich noch offen bleibt.
Blairs Beweggründe – Buße, Reue, Verantwortung – bleiben der Interpretation überlassen. Und es stellt sich die Frage: Warum stößt eine grundsätzlich friedensförderliche Aufgabe – gemessen an aktuellen Erfolgen, etwa beim Stoppen von Gewalt – auf so viel Misstrauen?
Vertrauen als Geschenk: Warum Buße allein nicht genügt
Das zentrale Problem ist ein Gut, das kein Mensch eigenmächtig schaffen kann: Vertrauen. Blair hat ein Image als Kriegstreiber und Dealmaker – ein Etikett, das in Großbritannien fast so belastend ist wie Trumps Reputation in den USA. Und dieses Image bleibt eine Hypothek. Seine Zugehörigkeit zur Kirche, der persönliche Glaube und die öffentlichen Bußgesten ersetzen nicht die mühsame Arbeit, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.
Vertrauen ist kein Verdienst, es ist ein Geschenk. Es will gepflegt werden und bleibt doch unverfügbar.
Dass Blair heute auf dem globalen Podium steht, vermutlich noch immer Chelsea-Boots trägt und sich für das Gute einsetzt, zeigt eines: Das Richtige zu tun, garantiert noch lange kein Vertrauen. Vertrauen lässt sich nicht herstellen, es muss wachsen – aus Beziehung, aus Konsistenz, aus Zeit. Selbst dann bleibt es im Ermessen der anderen, es zu gewähren oder zu verweigern. Vertrauen ist ein Geschenk zwischen freien Menschen – und zugleich entscheidend für das menschliche Überleben.
Sechs Jahre später scheint Blair die zweite Frage des Studenten zu beantworten: Macht allein genügt nicht. Ohne Vertrauen verliert Politik ihr Fundament – und mit ihm die Demokratie.