Der evangelische Theologe Walter Joelsen ist tot. Er starb am 22. Mai 2023 in München.  Im Jahr 2020 habe ich ein Gespräch mit Walter Joelsen geführt, in dem es um den Frieden ging. Seine Worte könnten kaum aktueller sein.

Walter Joelsen wurde aufgrund der nationalsozialistischen Rasseideologie als Jugendlicher in ein NS-Zwangsarbeiterlager gesteckt. Nach seiner Befreiung studierte er evangelische Theologie. Er arbeitete als Gemeinde- und Studentenpfarrer, später als Redakteur der evangelischen Filmproduktionsfirma EIKON. Dem Augustinum war er viele Jahre lang als Redaktionsmitglied des Forum verbunden. 

Walter Joelsen war 18 Jahre alt, als ihm der Frieden begegnete. Einige Tage zuvor hatte zunehmender Gefechtslärm sein Kommen bereits angekündigt. In der Nacht von Karfreitag auf Ostersamstag 1945 war es dann soweit: Amerikanische Panzer näherten sich dem Lager im thüringischen Dankmarshausen, in dem er zusammen mit 1.500 anderen Zwangsarbeitern interniert war.

Was empfindet man in einem solchen Moment? 75 Jahre später erinnert sich der heute 93-Jährige daran, dass es sich weniger spektakulär anfühlte als vorher gedacht. Ein junger amerikanischer Offizier, wahrscheinlich ein Emigrant, sei auf die kleine Gruppe der 12 deutschen Lagerinsassen zugekommen und habe nur zwei Fragen gestellt: "Wieso lebt ihr?” und "Warum seid ihr nicht emigriert?” – "Darauf hatten wir natürlich einiges zu erwidern gehabt”, erzählt Joelsen.

Aber zurück zu seiner ersten Friedenserfahrung: Das war Freiheit, plötzliche Freiheit. Die SS-Wachmannschaften waren getürmt. Kein Uniformträger war mehr da, der einen einschüchtern, misshandeln oder quälen konnte. Frieden hieß in diesem Moment auch, endlich wieder über die Dinge verfügen zu können, die man zum Leben braucht – genügend Essen zum Beispiel. Und Frieden bedeutete Zukunft, endlich wieder Zukunft zu haben.

Ausgrenzungserfahrungen

Diese Zukunft war dem Jugendlichen in den Jahren zuvor Stück für Stück genommen worden. Nach den ausgrenzenden Rassekategorien der Nationalsozialisten galt der evangelisch getaufte und aufgewachsene Joelsen als Halbjude. Erste Ausgrenzungserfahrungen machte er in der Schule, später dann auch im Wohnviertel, wo er nach einer Intervention des NS-Ortsgruppenleiters plötzlich von seinen Freunden und deren Familien gemieden wurde. 1943 musste er das Gymnasium verlassen. Im Oktober 1944 wurde er zur Zwangsarbeit eingezogen.

Mit Steinen beworfen

Walter Joelsen erinnert sich an einen besonderen Moment im Lager: "Jeden Tag mussten wir damals bis zu acht Stunden lang Kies in Eisenbahnwaggons schaufeln. Hinter dem Gitterdrahtzaun, der uns von der Außenwelt trennte, führte ein Weg entlang. Eines Tages kamen Schulkinder vorbei. Die wussten genau, wer wir sind. Und sie warfen mit Steinen. Später kam eine Ordensschwester vorbei. Die wusste auch, wer wir sind. Aber sie warf Brot über den Zaun.” Für Joelsen erzählt diese Geschichte davon, was Frieden ausmacht. Nämlich, dass da jemand sagt: "Du bist ein Mensch, und ich will, dass du lebst.” Ein Satz, der natürlich auch im Plural gelte:

"Ihr seid Menschen, und ich will, dass ihr lebt.” Hinter diese Position dürfe man niemals zurücktreten: "Denn Mensch ist Mensch. Er ist nicht Untermensch und auch kein Übermensch. Nur da, wo der Mensch Mensch ist, kann Frieden werden.”

Würde er ein Bild vom Frieden zeichnen, dann wäre das keine Idylle. Vielmehr würden auf solch einem Bild viele Menschen zu sehen sein – nicht als Masse wie bei einer Demonstration, sondern in verschiedenen kleinen Gruppen. Für einen funktionierenden Frieden ist seiner Erfahrung nach der freie und ungehinderte Austausch von unterschiedlichen Meinungen unabdingbar. Solch ein Austausch funktioniere aber nicht, wenn vorne einer mit dem Megaphon steht und seine Parolen unters Volk schreit. "Gleichschritt ist ein Feind des Friedens”, sagt Joelsen.

Solidarität und Frieden

Solidarität hingegen sei unverzichtbar für die Gestaltung einer friedlichen Welt. Der Völkerbund wurde aus seiner Sicht nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auch im Geiste der Solidarität gegründet. Kriege sollten von nun an verhindert werden, indem selbst verfeindete Staaten kontinuierlich miteinander im Gespräch blieben. Hitler hat diese Idee dann verraten, als er bereits kurz nach seiner Machtergreifung Deutschlands Mitgliedschaft aufkündigte. Zum Glück lebte die Idee ab 1945 in den Vereinten Nationen wieder auf. Im besten Fall interveniert mittlerweile die internationale Staatengemeinschaft, wenn irgendwo auf der Welt Menschen kollektiv bedroht
werden.

Frieden beruht nicht auf Almosen

Solidarität gehört für Joelsen zu den zentralen Fragen, an denen sich die Gegenwart messen lassen muss:

"Wo bleiben die behinderten Menschen, wo die Alten oder die Schwachen im Geiste?“, fragt er.

Der gesellschaftliche Frieden darf seiner Ansicht nach nicht angewiesen sein auf Sponsoring, Almosen oder Mitleid. Frieden gedeihe am besten in einer Gesellschaft, in der solidarisches Handeln auch politisch verankert ist.

Aufgrund seines Alters kann Walter Joelsen mittlerweile nur noch selten als Zeitzeuge vor Schülerinnen und Schülern auftreten, um von seinen persönlichen Ausgrenzungs- und Lager-Erfahrungen zu berichten. Diese Begegnungen mit aufgeschlossenen und neugierigen jungen Menschen haben ihm immer wieder Kraft gegeben und Hoffnung gemacht.

Es hat mit Worten angefangen

Skeptisch verfolgt er hingegen die Radikalisierung der Sprache im öffentlichen Raum und in den sozialen Medien. "Auch damals hat es mit Worten angefangen”, erinnert er sich: "Es wurde nicht zuerst geschossen, und dann haben sich die Massen radikalisiert. Nein, die Worte sind zu Waffen geworden.” Für ihn gehört deshalb auch zum Frieden, nicht unbedacht zu reden. Also nichts zu sagen, was anderen ohne Not weh tut, was rassistisch oder diskriminierend ist:

"Und wenn es mir trotzdem mal passiert, dann gibt es glücklicherweise meine Kinder, die mich darauf hinweisen, wenn es nicht angebracht ist, so zu reden.”

Kommentare

Diskutiere jetzt mit und verfasse einen Kommentar.

Teile Deine Meinung mit anderen Mitgliedern aus der Sonntagsblatt-Community.

Anmelden