Die Dokumentation Obersalzberg feiert in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen. Dazu eröffnet am Sonntag (20. Oktober) eine Ausstellung, die bis 16. März 2025 einen Rückblick auf die Anfänge gibt und auf den Weg zum dringend nötigen Erweiterungsbau, der vor einem Jahr eröffnet wurde.

In den vergangenen zwölf Monaten haben 220.000 Menschen die neue Dauerausstellung besucht - ein Interesse, mit dem vor 25 Jahren niemand im Ansatz gerechnet hätte. Der Leiter der Dokumentation Obersalzberg, Sven Keller, erzählt, für wie wichtig er NS-Erinnerungsarbeit hält und warum man Gedenkstättenbesuche nicht als Allheilmittel sehen sollte. Ein Gespräch zum 25-jährigen Bestehen der Ausstellung.

Die NS-Zeit hat vor knapp 80 Jahren geendet. Erst in den 1990er Jahren hat die Erinnerungskultur in Deutschland an Fahrt aufgenommen. Auch die Dokumentation Obersalzberg hat erst vor 25 Jahren eröffnet. Warum so spät?

Keller: Nach Anfängen in den 1980er Jahren ist das Thema vor allem nach der Wiedervereinigung, also nach dem Ende der zweiten deutschen Diktatur, immer wichtiger geworden. In dieser Zeit ist auch in den KZ-Gedenkstätten viel passiert, und auch an Orten wie dem Obersalzberg oder in Nürnberg, wo 2001 das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände eröffnet wurde.

Das Areal am Obersalzberg befindet sich seit 1949 im Eigentum des Freistaats Bayern. Ein Teil der NS-Bauten wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gesprengt, das Areal bis 1995 von der US-Armee genutzt. Die Frage, was machen mit dem Gelände, drängte, und man entschied, ein großes Hotel zu bauen und zügig einen Informations- und Erinnerungsort zu schaffen.

Da hat man dann anfangs das Besucherinteresse immens unterschätzt: Die alte Ausstellung war für etwa 30.000 Besucher im Jahr ausgelegt, man dachte an etwas, das man mit einer Kassenkraft betreiben kann. Zum Vergleich: In den vergangenen zwölf Monaten - also seit Eröffnung unseres Erweiterungsbaus mit der neuen Dauerausstellung - hatten wir 220.000 Besucher. Das war schon auch ein Lern- und Erkenntnisprozess für alle Beteiligten.

Man hat tatsächlich das Besucherinteresse so krass fehl eingeschätzt?

Keller: Das ist nicht so erstaunlich. Da ging es anderen Orten ähnlich. Die damals Verantwortlichen haben dann auch akzeptiert, dass man die Dokumentation Obersalzberg auch mit Leben füllen muss, wenn das Interesse der Menschen so groß ist. Ein Großteil unseres Publikums sind Touristen, die in der Ferienregion Berchtesgaden Urlaub machen. 80 Prozent der Besuche bei uns verzeichnen wir dementsprechend in den Sommermonaten - grob gesagt zwischen Mitte April und Ende Oktober. Ein Besuch bei uns muss schon allein zeitlich gut geplant sein.

Obwohl wir nicht gerade zentral liegen, kommen heute viele Schulklassen aus der Region und von weiter her zu uns, auch Polizei und Bundeswehr, um etwas über die Rolle der Polizei und Wehrmacht während der NS-Zeit zu erfahren. Außer der Dauerausstellung bieten wir Seminare und Workshops an, Veranstaltungsformate wie die Obersalzberger Gespräche und Filmgespräche, und wir zeigen Sonderausstellungen.

Vor allem seit dem Hamas-Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 ist der Antisemitismus auch in Bayern wieder auf dem Vormarsch. Die Stimmen häufen sich, dass in jeder Schulart im Freistaat - nicht nur wie bisher an Gymnasien und Realschulen - der Besuch eines NS-Erinnerungsortes verpflichtend wird. Genannt werden so gut wie immer die KZ-Gedenkstätten, welche Rolle spielt da ein reiner Täterort wie der Obersalzberg?

Keller: Täter gab es natürlich auch in den Konzentrationslagern - insofern sind die Täter natürlich auch in KZ-Gedenkstätten wie Dachau oder Flossenbürg Thema. Trotzdem stehen dort vor allem die Opfer im Mittelpunkt. Am Ort des Mordens muss man ihrer besonders gedenken. Da ist der Obersalzberg natürlich kategorial schon etwas anderes. Das Besondere am Obersalzberg ist, dass wir hier einen zentralen Ort der NS-Machtausübung, der Inszenierung und der Vergemeinschaftung zeigen. Das sind Grundmechanismen dafür, wie Diktaturen, wie etwa das NS-Regime, funktionieren. Diese Perspektive wird manchmal zu wenig beachtet.

Was genau meinen Sie damit?

Keller: 2020 hat die sogenannte MEMO-Studie gezeigt, dass viele Deutsche die eigenen Vorfahren unter den Opfern des Nationalsozialismus verorten, überzeugt sind, dass ihre Vorfahren Opfern geholfen haben, oder glauben, dass sie selbst zu den Opfern des Regimes gehört hätten. Vielleicht ist das auch eine Folge davon, dass man in der Vermittlung der NS-Geschichte zu sehr die Opferperspektive eingenommen hat. Um nicht missverstanden zu werden: Die Empathie mit den Opfern ist eminent wichtig, auch als Vermittlungsziel. Das ist auch ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Aber dabei darf man es nicht belassen.

Die Mehrheit der Deutschen war nicht Opfer des Nationalsozialismus. Gerade jetzt mit dem Erfolg rechtspopulistischer Parteien in Europa ist es wichtig, zu wissen, wo Verfolgung, Hass, Ausgrenzung und Diskriminierung beginnen. Wir müssen wissen, wie Machtmechanismen funktionieren und wie Verfolgung beginnt - auch im Kleinen, vor der eigenen Haustür.

Was halten Sie von den Plänen, den Besuch einer NS-Gedenkstätte für alle Schüler verpflichtend zu machen?

Keller: NS-Erinnerungsarbeit ist wichtiger denn je. Aber Gedenkstätten sind kein Allheilmittel. Ich habe den Eindruck, dass manche denken, dass ein Besuch einer KZ-Gedenkstätte oder auch der Dokumentation Obersalzberg eine imprägnierende Wirkung hat. Wir können einen wichtigen Teil dazu beitragen. Aber wir sind keine Wunderheiler. Da muss sich schon gesamtgesellschaftlich was tun.

Ob ein Pflichtbesuch dabei hilft, weiß ich nicht. Natürlich haben wir das entsprechende Know-how, wie wir offene Gespräche führen und vielleicht auch erst einmal etwas reservierte Gäste unseres Bildungsprogramms erreichen können. Aber es ist auch klar: Wer mit Widerwillen an einen NS-Erinnerungsort kommt, bringt auch nur begrenzte Offenheit mit. Das gilt für die Lehrkräfte übrigens genauso wie für die Schülerinnen und Schüler.

Das hört sich ein wenig pessimistisch an …

Keller: Das mag sein, vielleicht aber auch realistisch. Wie gesagt: Gedenkstätten allein werden nicht die Probleme lösen, die tief in der Gesellschaft verwurzelt sind. Einen gewissen Prozentsatz von Menschen, die Verschwörungsideologien und damit auch antisemitischen Gedanken anhängen, müssen wir wohl einfach aushalten. Das wird nicht einfach verschwinden. Umso wichtiger ist es, dass die Mehrheit in der Gesellschaft dagegenhält und auch bereit ist, die Stimme zu erheben. Hier ist die Bildungsarbeit an NS-Erinnerungsorten immens wichtig: Wir sind nicht der Hebel, der allein gesellschaftliche Probleme löst, aber wir unterstützen diejenigen in ihrer Haltung, die gegen Hass und Hetze aufstehen.

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